www.berlinonline.de/berliner-zeitung/wissenschaft/538223.htmlFest steht, dass in London eine Substanz an Menschen getestet wurde, die sich von den typischen Arzneimitteln grundlegend unterscheidet. Wirkstoffe in Kopfschmerztabletten oder Blutdrucksenkern etwa sind relativ einfache chemische Moleküle. Bei TGN 1412 handelt es sich dagegen um Antikörper - also komplizierte biologische Moleküle.
Ausgeklügelter Mechanismus
Antikörper spielen eine wichtige Rolle im körpereigenen Abwehrsystem des Menschen und anderer Wirbeltiere. Dringen Bakterien, Viren oder andere Fremdstoffe in den Organismus ein, stellen weiße Blutzellen maßgeschneiderte Antikörper her. Diese erkennen bestimmte Proteine an der Oberfläche des Fremdstoffes und heften sich an sie an. Je nach Art des Antikörpers ist der Eindringling dadurch direkt lahm gelegt, oder die angehefteten Antikörper wirken wie ein Signal, das etwa Fresszellen anlockt. Diese vernichten den Fremdstoff schließlich.
Der ausgeklügelte Mechanismus macht Antikörper als Medikamente interessant, die gezielt bestimmte Oberflächenproteine angreifen. Natürlich gebildete Antikörper sind dafür allerdings häufig nicht treffsicher genug.
Deshalb werden sie nach einem einheitlichen Baumuster in Zellkulturen als so genannte monoklonale Antikörper hergestellt. Das Produktionsverfahren wurde vor gut dreißig Jahren entwickelt. Seither ist gerade mal eine Hand voll von den Präparaten auf den Markt gekommen. Monoklonale Antikörper sind etwa gegen bestimmte Tumoren gerichtet, gegen Virusinfektionen oder chronische entzündliche Erkrankungen.
Aus dem Umgang mit solchen Mitteln weiß man, dass sie durchaus zu Schockreaktionen führen können. Wie das Fachjournal Nature Biotechnology vor einigen Monaten schrieb, treten unangenehme Überraschungen immer dann auf, wenn die biologischen Mechanismen des Angriffsziels unzureichend aufgeklärt waren.
Trotzdem sind Experten jetzt von der heftigen Reaktion der Probanden in London überrascht. "Mir ist in zwanzig Jahren Tätigkeit in der klinischen Medikamentenprüfung noch kein vergleichbarer Fall begegnet", sagt etwa der Pharmakologe Bernd Mühlbauer vom Kompetenzzentrum für Klinische Studien in Bremen.
Der in London verabreichte, ursprünglich aus Ratten isolierte monoklonale Antikörper TGN 1412 - die Herstellerfirma gab ihm den Namen Supermab - aktiviert die so genannten T-Zellen. Diese dienen im Rahmen einer gesunden Immunabwehr dazu, an der Oberfläche von Körperzellen fremde Proteine aufzuspüren, die auf eingedrungene Viren oder auf krebsartige Veränderungen hindeuten. Die T-Zellen heften sich mit dem T-Zell-Rezeptor daran. Damit ist gewissermaßen die erste Alarmstufe ausgelöst. Um jedoch einen Fehlalarm - und somit eventuell eine zu heftige Immunreaktion - auszuschließen, besitzen T-Zellen eine raffinierte Sicherung, die an den doppelten Tresorschlüssel bei Banken erinnert:
Erst wenn sich auch noch ein zweites Oberflächenprotein der T-Zellen namens CD28 an das fremde Eiweiß geklinkt hat, beginnen die T-Zellen sich zu vermehren, um die befallenen Zellen in großer Zahl zu eliminieren.
TGN 1412 umgeht die Sicherung. Bindet es sich an CD28, löst dies allein schon die Vermehrung der T-Zellen aus. Den Mechanismus hatte der Immunbiologe Thomas Hünig von der Universität Würzburg vor rund zehn Jahren bei Ratten entdeckt. Auf Hünigs Initiative gründete sich im Jahr 2000 das Biotech-Unternehmen TeGenero Hergestellt werden sollte ein Antikörper gegen Erkrankungen, bei denen zu wenig oder mangelhaft ausgereifte und deshalb schlecht funktionierende T-Zellen im Körper zirkulieren. Dies ist etwa bei einer bestimmten Form von Blutkrebs der Fall, der chronischen lymphozytären Leukämie (CLL).
Als potenzielles Krebsmittel wäre TGN 1412, nachdem es an Nagetieren und Affen die erwünschte Wirkung bewiesen hatte, gleich an Patienten mit Blutkrebs getestet worden statt an gesunden Versuchspersonen, wie es jetzt in London geschah. Denn für klinische Prüfungen von Medikamenten gegen Krebs und andere lebensbedrohliche Erkrankungen gelten besondere Regeln, da diese meist starke Nebenwirkungen haben.
Inzwischen hatten die Würzburger Wissenschaftler jedoch herausgefunden, dass TGN 1412 bei manchen Versuchen an Tieren die Untergruppe der regulatorischen T-Zellen viel stärker anregte als die übrigen T-Zellen. Damit eröffnete sich ein weiteres Einsatzgebiet für das Präparat: Autoimmunerkrankungen wie Rheuma oder multiple Sklerose, bei denen Teile des Abwehrsystems irrtümlicherweise den eigenen Körper angreifen. Bei diesen Krankheiten ist das normalerweise fein ausbalancierte Gleichgewicht zwischen den potenziell selbstzerstörerisch wirkenden (autoreaktiven) T-Zellen und den regulatorischen T-Zellen, die sie in Schach halten, gestört. TGN 1412, so die Idee, könnte für Ausgleich sorgen, indem es die regulatorischen T-Zellen zur Vermehrung bringt und so das Überschießen der Abwehr bremst - und somit das Gegenteil dessen bewirkt, was es bei CLL bewirken sollte.
TeGenero entschied sich, sein Produkt zuerst für diese Anwendung in das Zulassungsverfahren zu schicken. Damit war klar, dass die Firma Parexel, die mit der Durchführung des klinischen Prüfungsverfahrens beauftragt war, es zunächst gesunden Freiwilligen verabreichen würde.
In der ersten Phase der klinischen Erprobung geht es vor allem darum, herauszufinden, ob die Prüfsubstanz für den Menschen doch möglicherweise unverträglich ist, und wenn ja, in welcher Dosierung. Deshalb gibt man zunächst sehr geringe Mengen. Die jungen Männer in London hatten nur ein 160stel der Dosierung von TGN 1412 erhalten, die bei Affen ohne Nebenwirkungen geblieben war. Höhere Dosierungen hatten bei den Primaten zu einer leichten Schwellung der Lymphknoten geführt.
"Es wird jetzt auch zu prüfen sein, warum das Mittel bei Affen nicht die gleichen katastrophalen Wirkungen hatte", sagt Johannes Löwer, Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts in Langen. Die Behörde ist für biologische Arzneimittel zuständig und hatte im Februar das Protokoll für die klinische Prüfung von TGN 1412 in Deutschland genehmigt.
Zuvor habe man, berichtet Löwer, vom Hersteller einige zusätzliche Abklärungen gefordert. Sein Institut habe etwa wissen wollen, ob CD28 sich bei Affen und Menschen vergleichbar verhalte. Die nachgereichten Daten hätten jedoch den Schluss zugelassen, dass die Primaten ein geeignetes Modell seien.
Die Vorschriften ändern?
Experten streiten jetzt darüber, ob die Versuchspersonen bei solchen Phase-I-Prüfungen die Testsubstanz nur noch einzeln und zeitversetzt erhalten sollen. Die Frage ist auch, ob derartige Tests überhaupt noch doppelblind erfolgen dürfen - also so, dass weder Arzt noch Versuchsperson wissen, ob der Proband das echte Mittel oder ein Scheinpräparat einnimmt.
Bernd Mühlbauer ist nicht der Ansicht, dass die Vorschriften für klinische Prüfungen geändert werden müssen. "Was aber fehlt, ist ein offener Umgang mit Informationen." So sehen das auch die Redakteure der Fachzeitschrift Lancet. "Der schreckliche Zwischenfall", heißt es in einem Kommentar, "verlangt nach Offenlegung der Daten, um das Vertrauen in klinische Prüfungen und ihre gesetzliche Regelung nicht zu erschüttern."
Nature Biotechnology, Bd. 23, S. 1025
Lancet, Bd. 367, S. 960
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