Medizin von Morgen
Folge 1: Das entschlüsselte Genom - neue Waffen gegen die Krankheit
Genforschung: Die Entschlüsselung des menschlichen Erbguts
Die Forscher lernen, im Erbgut des Homo sapiens zu lesen. Mediziner hoffen auf neue Waffen gegen den Krebs und maßgeschneiderte Medikamente, Geningenieure bauen den Menschen um. Ethiker fragen: Haben Kinder ein Recht auf verbesserte Gene?
Letzte Woche verkündete der Amerikaner Craig Venter einen Durchbruch bei der Entschlüsselung des menschlichen Erbguts. Eine neue Ära bricht an: Genchips werden die Medizin der Zukunft bestimmen. Ist der genmanipulierte Mensch das nächste Ziel?
Links, geradeaus, ein kleines Zucken, dann senkt sich der Roboterarm. Mikrometergenau injiziert er ein Substrat in winzige Näpfe auf einem Glasplättchen, dann beginnt der Vorgang wieder von vorn.
Was hier am Berliner Max-Planck-Institut für Molekulare Genetik Roboter an einem Vormittag vollbringen, wäre noch vor wenigen Jahren genug Stoff für dutzende von Doktorarbeiten gewesen. Durch piezoelektrische Düsen - die Technik guckten sich die Biologen bei Tintenstrahldruckern ab - verspritzt der Roboter Stränge menschlicher Erbsubstanz, in Portionen von weniger als ein millionstel Millilitern. Das so bestückte Plättchen wird dann an den nächsten Automaten weitergereicht. Dieser führt damit zehntausende von Experimenten gleichzeitig durch.
"Die Biologie befindet sich in der größten Umwälzung ihrer Geschichte", schwärmt Hans Lehrach, einer der Direktoren an dem Institut. "Wir sind in der Rolle eines Landvermessers, der seit Jahrhunderten Berge und Flüsse mit dem Zollstock vermessen hat und nun plötzlich Satellitenunterstützung bekommt." Pipette und Petrischale, seit Jahrzehnten das Standardgerät der Molekularbiologen, sind passé. An ihre Stelle treten Automaten.
Motor der sich anbahnenden Revolution sind die Methoden zur Entschlüsselung des Erbguts. Im Alleingang hat ein einzelner Mann die Verfeinerung dieser Technik vorangetrieben. Am vergangenen Donnerstag trat er mit einer Botschaft vor die Presse, mit der er einmal mehr unter Beweis stellte, dass er der weltweiten Forscherelite den Rang abläuft: Craig Venter, 53, verkündete, er habe sämtliche Gen-Bausteine des Menschen entschlüsselt. In drei, höchstens sechs Wochen werde er sie zum vollständigen Gentext zusammengesetzt haben.
Vor zehn Jahren hatten sich einige visionäre Forscher vorgenommen, dieses Ziel bis zum Jahr 2005 zu erreichen - und wurden für diesen vermessenen Plan von den meisten ihrer Kollegen verlacht. In den vergangenen Monaten jedoch zeigte sich, dass sie noch viel zu bescheiden gewesen waren.
Schon heute sind die Sequenzen von mehr als 60 000 der vermutlich 100 000 bis 140 000 menschlichen Gene in Datenbanken abrufbar. Von etwa 10 000 von ihnen ist auch die biologische Funktion bekannt.
Die Genome von 28 Lebewesen haben die Forscher schon geknackt. Erst waren es Bakterien, dann kamen die Bierhefe, der Fadenwurm, die Fruchtfliege hinzu. Und unentwegt flutet aus den Labors der Schwall neuer Genbuchstaben in die Datenspeicher. In wenigen Wochen wird der Bauplan des Menschen entschlüsselt und digitalisiert sein. Binnen weniger Jahre werden diejenigen von Maus, Hund und Huhn, von Reis, Mais und Weizen hinzukommen.
Anfangs war es einzig ein internationales Konsortium, das die weltweite Sequenzierarbeit am Menschengenom koordinierte. Schritt für Schritt taten sie kleine Etappensiege kund.
Doch seit Venter die Bühne betrat, gelten diese nicht mehr viel. Dank brachialer Maschinengewalt überrannte seine Firma Celera das internationale Genomprojekt mit einem Überraschungsangriff. Im letzten September legte der Herausforderer los. Im Januar sah er bereits ersten Grund zum Triumph: "Ein monumentaler Augenblick, nicht nur für Celera, sondern für die Geschichte der Medizin." 90 Prozent der Sequenzierarbeit seien vollbracht.
Selbst jetzt, nachdem er die 100-Prozent-Marke fast erreicht hat, versuchen Venters öffentlich finanzierte Rivalen noch, seine Methode madig zu machen. So spottet ein Mitverantwortlicher für das Genomprojekt: "Venters Verfahren entspricht dem Schreddern von Lexika." Bisher habe er nur die Schnipsel. Die eigentliche Arbeit, sie wieder zu einem vollständigen Gentext zusammenzufügen, stehe ihm noch bevor.
Doch mit jeder neuen Erfolgsmeldung des rührigen Amerikaners schrumpft die Zahl der Skeptiker - und mit dem Respekt wächst auch die Angst vor der künftigen Marktmacht von Celera.
Die Folgen von Venters Triumph könnten gewaltig sein. Denn er führt seinen Blitzkrieg nicht uneigennützig: Schon jetzt hat er 6500 Patente auf menschliche Gene beantragt. Dereinst, so fürchten viele, könnte er zum Monopolisten des herandämmernden Genzeitalters aufsteigen. Bill Gates, so heißt es in der Branche, habe seine Milliarden mit Programmzeilen gemacht; Venter werde das Gleiche mit den genetischen Buchstaben vollbringen.
Noch ist das Jahrhundertwerk nicht ganz vollendet, da läuten Wissenschaft und Industrie bereits die "Post-Genom-Ära" ein. Die Abfolge von über drei Milliarden chemischer Buchstaben, die sich in den 23 Chromosomen des Menschen aneinander reihen, sei zunächst nicht mehr als "im Computer gespeichertes Katalogwissen", erklärt der Berliner Molekularbiologe Jens Reich. Es entspreche gleichsam dem ersten Anatomieatlanten, in dem alle Muskeln, Knochen und Sehnen des Körpers verzeichnet waren. Und so, wie daraus die heutige Heilkunst erwachsen sei, so werde aus der Erbgutsequenz die Medizin des anbrechenden Jahrhunderts hervorgehen.
Jetzt gilt es, den Schatz des Wissens zu heben, zu ergründen, wann welche der 210 Zelltypen im Körper Gebrauch von welchem Gen machen, welche Funktion im Stoffwechsel ein Gen hat und wie es mit tausenden anderer Gene in Wechselwirkung tritt.
Schon haben zwei Max-Planck-Institute, in Freiburg und Hannover, gemeinsam mit Kollegen aus vier anderen europäischen Ländern, das Projekt "Eurexpress" gestartet: Bei 6000 Mäuse- und zunächst 400 Menschen-Gensequenzen wollen sie herausfinden, wann sie in welchen Nervenzellen angeschaltet werden. Das Ziel der Forscher: eine dreidimensionale Karte des Hirns, in der das Geplauder der Gene exakt verzeichnet ist.
Die Franzosen haben eine Milliarde Francs für die Post-Genomforschung bereitgestellt. Und japanische Forscher jammern bereits, die Mittel zur Entschlüsselung des Erbguts würden knapp: Vor lauter Zukunftseuphorie werde vergessen, dass die Entschlüsselung noch gar nicht abgeschlossen ist.
Inzwischen treibt nicht mehr die Wissenschaft, sondern die Industrie die rasante Entwicklung voran. Lange hatte sie das Genomprojekt als wirtschaftlich uninteressante Grundlagenforschung abgetan. Nun hat sie die Datenberge als Goldgrube entdeckt; Analysten überschlagen sich mit Prognosen eines sprießenden Milliardenmarkts.
Binnen weniger Jahre hat sich die Strategie der Pharmafirmen umgekehrt: Ehedem konnten sie bei der Medikamentenentwicklung nur auf eine vergleichsweise geringe Zahl bekannter Eiweiße zurückgreifen. Nun können sie die Buchstabenabfolge nach Genen durchforsten, die möglicherweise medizinisch nutzbar sind. Die Firmen lassen sich dabei von der Gewissheit leiten: Ein Gen enthält den Befehl, irgendein Eiweiß zu bauen, und jedes Eiweiß hat im Körper irgendeine Funktion.
Erste Erfolge beim Durchmustern des Erbguts zeichnen sich bereits ab: Die Firma Human Genome Sciences in Rockville bei Washington stieß auf ein offenbar höchst wirksames Wundheilungsprotein, auf eine Substanz, die neue Blutgefäße sprießen lässt, und auf einen Faktor, der bei Krebspatienten die Teilung von Blutstammzellen stoppen könnte. Das kalifornische Unternehmen Amgen kam einem Rezeptor auf die Spur, der die Knochenfestigkeit zu regulieren scheint. Immunex aus Seattle untersucht ein Protein, das offenbar Tumorzellen absterben lässt.
Auch in Deutschland geht, wenngleich verhaltener als in den USA, das Genomfieber um: Eine Gründerwelle hat in den letzten drei Jahren über 170 neue Biotech-Firmen hervorgebracht. Switch Biotech in Martinsried bei München etwa hat gerade Patente für 36 Gene beantragt, die eine Rolle im Wundheilungs-, möglicherweise auch im Entzündungsprozess spielen.
Andere Neugründungen setzen auf das florierende Feld der Bioinformatik: Sie entwickeln Software, die der anschwellenden Datenflut Herr werden soll. Augenscheinliches Indiz dafür, dass die Zukunft von Biologie und Medizin im Informationsmanagement liegt, ist das plötzliche Interesse der Elektronikgiganten Motorola, Hewlett-Packard und Texas Instruments. Auch IBM steigt ins Biogeschäft ein: Für 100 Millionen Dollar will der Konzern einen Rechner der Superlative schaffen. Sein Name: Blue Gene. Seine Aufgabe: aus dem Erbgutstrang auf die dreidimensionale Struktur von Eiweißen zu schließen.
Als größter Markt aber gelten die Genchips. Wie einst Transistoren in einem integrierten Schaltkreis vereinigt wurden, so sollen nun tausende oder sogar zehntausende von Labortests auf pfenniggroße Plättchen passen.
Die Aktivität von über 30 000 Genen lässt sich schon heute mit Tests von Incyte nachweisen, mit denjenigen des Konkurrenten Affymetrix sogar 40 00. Außerdem hat Affymetrix Chips im Angebot, die ermitteln, welche von 1700 Krebsgenen im Gewebe aktiv sind. Ein weiterer Chip analysiert das Gen für Cytochrom P450, ein pharmakologisch höchst interessantes Enzym, das verantwortlich ist für den Abbau vieler Medikamente in der Leber.
Die digitalisierte Hinterlassenschaft der Genomforscher wird, so viel ist gewiss, das Bild vom menschlichen Körper, ja vom irdischen Leben überhaupt grundlegend wandeln. Bisher haben sich die Wissenschaftler meist mit einzelnen Genen, Hormonen oder Enzymen befasst - und damit allenfalls an der Oberfläche der natürlichen Komplexität gekratzt.
Nun liegt bald das Buch des Lebens offen vor ihnen im Datennetz. Sie müssen nur noch lernen, es zu lesen.
Mit der Handarbeit in herkömmlichen Labors geht das nicht. Denn in Jahrmilliarden hat die Evolution in jedem Bakterium einige tausend, in jedem Wurm einige zigtausend, im Menschen schließlich über hunderttausend Gene zu einem raffinierten Netzwerk versponnen. In einigen Zellen sind über 40 000 Gene gleichzeitig aktiv, und jedes kann auf jedes andere einwirken.
Um dieses Geflecht der Wechselwirkungen zu entwirren, brauchen die Forscher zwei mächtige Verbündete: Roboter und Computer. Die Sequenzierautomaten, die gegenwärtig den Gentext buchstabieren, sind nur die Vorboten neuer Gerätegenerationen, die dereinst die Biologieinstitute bevölkern werden. Da wird es Apparate geben, die messen, welches Biomolekül wie mit anderen interagiert. Andere werden tausende von Eiweißkristallen züchten, die dann von Neutronenstrahlen durchleuchtet werden können, um ihre dreidimensionale Struktur aufzuklären.
Selbst die Erzeugung so genannter Knock-out-Mäuse, in denen einzelne Gene gezielt ausgeschaltet werden, könnten Roboter übernehmen. Auch an Automaten, die systematisch die Rolle von Genen während der Fischembryonen-Entwicklung untersuchen, wird schon gearbeitet.
Rund um die Uhr werden Maschinen im vollautomatisierten Labor der Zukunft Messdaten produzieren. Diese geben sie dann an Rechner weiter, die sie vergleichen, verknüpfen und nach auffälligen Zusammenhängen durchforsten sollen. Irgendwann ließen sich all diese Informationen zu einer im Computer simulierten Zelle verschmelzen, diese Zellen wiederum zum virtuellen Menschen, in dem alle Stoffwechselprozesse detailgetreu nachgebildet sind.
Die Aufgabe des Biologen würde dann nur noch darin bestehen, am Bildschirm vorverdauten Zahlenkolonnen, Proteinstrukturen oder Genexpressionsmustern ihre Geheimnisse zu entlocken. Die Chemikalien, Zellkulturen und Reagenzgläser, die heute seinen Alltag prägen, bekäme er so wenig zu Gesicht wie Astronomen die Schwarzen Löcher oder Elementarteilchenphysiker die Quarks.
Je mehr aber die Forscher dem Gegenstand ihrer Neugier entfremdet werden, desto mehr Informationen können sie mittelbar aus dem Datenmeer destillieren: Gleichsam eingefroren im Erbgut heutiger Bakterien liegt vermutlich noch die Antwort auf die Frage verborgen, wann und wie Organismen die Fähigkeit erlangten, den Stickstoff aus der Luft zu binden, aus Licht mittels Fotosynthese biochemische Energie zu gewinnen oder Sauerstoff zur Atmung zu nutzen - Wendepunkte in der Geschichte des Lebens, die jeweils das ganze Angesicht des Planeten Erde verwandelten.
Im Erbgut heutiger Arten liegt archiviert, wann sich Tiere und Pflanzen schieden, aber auch, wann aus Einzellern die ersten mehrzelligen Wesen hervorgingen. Bis zu den Wurzeln wird sich mittels genetischer Daten der Stammbaum der Primaten, der Säugetiere, der Wirbeltiere verfolgen lassen.
Im Genom der Affen sieht die Zeitschrift "Science" einen "noch unangetasteten Schatz, der entscheidende Schlüssel zur Menschwerdung enthält". Denn in den 1,5 Prozent des Erbguts, in denen sich Homo sapiens und Schimpanse unterscheiden, muss nicht nur das Geheimnis des aufrechten Gangs und der felllosen Haut, sondern auch das der Sprache, der Musik und der Poesie verborgen liegen.
Aber nicht nur Entwicklungs- und Evolutionsbiologen, auch Tiergärten und Lebensversicherer, Artenschützer und Brauereien, Umwelt- und Kriminalpolizei, Kosmetikfirmen und Landwirte werden schon bald wie selbstverständlich die Bio-Datenbanken anzapfen. Der tiefstgreifende Wandel aber steht der Medizin bevor. Drei Trends zeichnen sich ab:
die Individualisierung der Therapie - die Erkenntnisse der Genomforscher werden es den Ärzten ermöglichen, die individuellen Erbanlagen ihrer Patienten zu bestimmen und die Behandlung darauf abzustellen;
die Hinwendung zur Vorbeugung - die Genanalyse wird offenbaren, von welchen Leiden einem Patienten besondere Gefahr droht; die Mediziner werden deshalb nach Wegen suchen, deren Ausbruch zu verzögern oder zu verhindern;
der Vorstoß zur Keimbahn - je besser das Wirkungsgeflecht der Gene bekannt ist, desto mehr wird die Versuchung wachsen, durch Genmanipulation gezielt in dieses Regelwerk einzugreifen.
"Snips" lautet das Schlagwort, unter dem der erste dieser Trends vorangetrieben wird. Mit diesem Begriff werden jene schätzungsweise drei Millionen Orte im Erbgut bezeichnet, an denen sich menschliche Individuen voneinander unterscheiden. Sie bestimmen folglich über individuelle Statur, Persönlichkeit oder auch Krankheitsanfälligkeit.
Mit Hilfe von Chips ließe sich in Minutenschnelle ein individuelles Genprofil erstellen. Dieses könnte dann Auskunft darüber geben, bei wem ein Medikament besonders gut anschlägt und wer darauf mit heftigen Nebenwirkungen reagiert.
Der Berliner Genforscher Lehrach malt sich bereits die enormen Möglichkeiten der künftigen Individualbehandlungen aus: "Ich bin mir völlig sicher, dass die Genchips zum Beispiel die Krebsbehandlung revolutionieren werden."
Dereinst, so prognostiziert er, werde der Arzt nur eine kleine Probe des Tumorgewebes in einen Genanalysator geben müssen. Der bestimme dann die ganz besonderen Eigenschaften dieses speziellen Krebses - Daten, die einem Computer helfen könnten, die Tumorzellen präzise zu simulieren und verschiedene Wirkstoffkombinationen zunächst virtuell daran zu erproben.
Glaubt man den Ankündigungen der Propheten einer zukünftigen Medizin, dann wird das jedoch oft gar nicht nötig sein. Denn die Krebsgefahr lässt sich, dem Genchip sei Dank, schon im Voraus erkennen und möglicherweise bannen.
Kaum ein Experte bezweifelt: Je tiefer die Forscher in die Geheimnisse im Innern der Zellen vordringen, desto mehr Risikomutationen werden sie auf die Spur kommen. Und jede von ihnen wird sich mit Hilfe von Chips aus den vielen tausenden zielsicher herausfischen lassen. Doch wie groß der medizinische Nutzen tatsächlich sein wird, ist noch umstritten. Was soll der Einzelne damit anfangen, dass er ein nur zweiprozentiges Risiko hat, an Diabetes zu erkranken, aber mit 30-prozentiger Sicherheit im Alter mit Alzheimer dahinvegetieren wird? Hilft es ihm, wenn er weiß, dass ihm ein Tod durch Darmkrebs, nicht aber durch Herzinfarkt droht?
Der Patient der Zukunft wird das Rechnen mit Wahrscheinlichkeiten lernen müssen. Aus dem Noch-Gesunden von heute wird der Noch-nicht-Multimorbide von morgen werden. Und er wird von seinen Ärzten überschüttet werden mit Ratschlägen, wie er der Vielzahl von in seinem Erbgut schlummernden Gefahren begegnen kann.
Größer noch als die Angst vor der heranrollenden Welle medizinischer Informationen ist jedoch die vor dem Fall des letzten Tabus: der Herstellung genmanipulierter Menschen. Als sich vor rund 25 Jahren abzeichnete, dass es einmal möglich sein würde, Erbgut mit Hilfe molekularer Werkzeuge maßzuschneidern, einigten sich Genforscher wie Ärzte rasch darauf, die Keimbahn des Menschen selbst nicht anzutasten.
Doch der Konsens beruhte auf einem entscheidenden Handicap: Was die Forscher einhellig beschworen, nicht tun zu wollen, konnten sie noch gar nicht.
Zwar laborieren Genchirurgen bereits seit zehn Jahren daran, menschliche Blut-, Leber- oder Lungenzellen mit Genen aus ihren Labors aufzurüsten. Doch die anfangs von lauten Versprechungen begleiteten Gentherapie-Experimente scheiterten ausnahmslos. An Keimzellen wagte sich unter diesen Umständen erst recht keiner heran.
Inzwischen haben vor allem in den USA die Experten ihre Scheu verloren, auch vom genetisch veränderten Menschen zu reden. Neue Methoden lassen ihnen das Unterfangen erstmals technisch realisierbar erscheinen. Einer Maus namens Lucy könnte dabei eine weit größere Bedeutung zukommen als dem weltweit gefeierten oder geächteten Klonschaf Dolly. Im Oktober letzten Jahres erfuhr die Welt von ihrer Existenz, doch kaum jemand nahm Notiz davon.
Lucy ist das erste Säugetier mit einem künstlichen Chromosom. Neben ihren 20 natürlichen Chromosomen vererbt sie ihren Nachkommen ein weiteres, das aus dem Genlabor der Firma Chromos Molecular Systems aus British Columbia stammt.
Damit tun sich Möglichkeiten der Erbgutmanipulation auf, die weitaus eleganter und vielfältiger sind als alle bisher erprobten Verfahren: Schleust man ein einzelnes Gen in fremdes Erbgut ein, so kann es dort versehentlich andere, womöglich lebenswichtige Gene lahm legen; beim Einschleusen eines ganzen Chromosoms hingegen besteht diese Gefahr offenbar nicht. Zudem gelingt der Einbau einzelner Gene oft erst nach hunderten von Versuchen. Die Erfolgsquote bei der Chromosomen-Kur ist ungleich höher.
Vor allem aber ließen sich gleich ganze Genpakete auf ein Kunstchromosom schmuggeln - und wer einen gesünderen und klügeren Menschen schaffen will, dem wird ein einzelnes Gen dazu kaum reichen.
Dass es am Willen inzwischen nicht mehr mangelt, das wird auf US-Kongressen deutlich, auf denen immer ungenierter über die anbrechende Ära des Menschendesigns diskutiert wird.
"Wir könnten wahrscheinlich einen Menschen konstruieren, der völlig gefeit gegen Aids wäre oder gegen bestimmte Krebsformen", verspricht etwa Leroy Hood, ein Miterfinder des Sequenzierautomaten. "Wir könnten sogar Menschen machen, die viel älter würden als heute. Oder wir könnten die menschliche Intelligenz massiv beeinflussen. Ist das nicht äußerst verlockend?"
Und der Biophysiker Gregory Stock prophezeit gar: "In nicht allzu ferner Zukunft wird man Leute, die Kinder durch normale Empfängnis bekommen, als Dummköpfe betrachten."
Selbst French Anderson, einem der Pioniere der Gentherapie, wird angesichts solch ungeschminkter Euphorie offenbar mulmig: "Die Gesellschaft", warnt er, "wird sich in Werte und Unwerte teilen, wenn wir nicht rechtzeitig Sicherungen einbauen."
DER HERR DER GENE
Die meisten Genforscher hassen ihn - und Craig Venter ist stolz darauf. In den acht Jahren, die er an den National Institutes of Health arbeitete, hat er gelernt, die Arbeit staatlicher Labors zu verachten. Während dieser Zeit forschte er an einem einzigen menschlichen Eiweiß. Als er dann begriff, dass die Zukunft in der systematischen Entschlüsselung von Erbgut lag, wurde sein Forschungsantrag abgelehnt. Seither hält er sich lieber an Risikokapital. Immer wieder setzte er sich Ziele, für die er von seinen Kollegen verspottet wurde. Immer wieder widerlegte er die Skeptiker. Es war Venter, der erstmals die Gensequenz eines Bakteriums präsentierte. Und er war es auch, der die Entschlüsselung des Fruchtfliegen-Erbguts vorantrieb. In den nächsten Wochen wird er nun beweisen müssen, dass er auch jetzt, bei der bisher lautesten seiner Wortmeldungen, den Mund nicht zu voll genommen hat: bei der Ankündigung, er habe das Erbgut des Menschen geknackt. Venters Triumphe freilich sind nicht nur seinem wissenschaftlichen Talent zu danken. Vor allem weiß er moderne Technik zu nutzen. Seine Firma Celera ist eine Tochter von Perkin-Elmer, dem weltweit führenden Hersteller von Sequenzier-Robotern. 300 dieser Maschinen, weit mehr als an jedem anderen Ort, arbeiten in seinem Labor rund um die Uhr - und sichern ihm damit den Vorsprung vor der Konkurrenz. Nachdem nun die Automaten ihr Soll offenbar erfüllt haben, sind Venters andere Hightech-Verbündete gefordert: Rechner, von denen es heißt, dass sie in ihrer Leistung denen des Pentagon nahe kommen. Sie sollen die menschlichen Erbgut-Sequenzen zu einem ganzen Text zusammenfügen. "Das Ganze ist so simpel, dass es eigentlich jeder machen könnte", prahlt Venter - und genießt es, wie sehr er seine neidischen Kollegen damit zur Weißglut bringt.
"WIR SIEGEN AUF JEDEN FALL"
In drei Jahren stieg eine Heidelberger Firma zum Beinahe-Global-Player auf. Ihr Geschäft: Bioinformatik. Pharmakonzerne reißen sich um die Genomsoftware.
Die zwei Bilder, die an den Wänden des 30 Quadratmeter großen, übersichtlichen Büros hängen, haben dreierlei gemeinsam: Sie sind gleich groß, ihre vorherrschende Farbe ist Blau, und sie hängen beide gleich schief.
Der Schreibtisch, mit einem schlichten Bürostuhl davor und einem dahinter, ist mit einem Zettelchaos bedeckt, in der Ecke gegenüber lümmelt ein schlapper Fußball. Vom Vorstandsvorsitzenden eines deutschen Unternehmens ist man eigentlich imponierendere Auftritte gewohnt.
Der Chef der Firma Lion Bioscience in Heidelberg transportiert seine Unterlagen mit Vorliebe in einem etwas schäbigen grünen Rucksack und trägt einen ziemlich berühmten Namen: Friedrich von Bohlen und Halbach, 37, Doktor der Biochemie, letztes Jahr als "Entrepreneur des Jahres" ausgezeichnet; seine Angestellten nennen ihn "der Friedrich". Der Jungunternehmer schwärmt für Borussia Dortmund. "Nur hilfsweise", sagt er. "Weil, eigentlich bin ich Fan von Rot-Weiß Essen, aber die spielen ständig so einen Mist zusammen."
4,5 Millionen Mark Kapital hatten von Bohlen und fünf weitere Wissenschaftler, die vom nahe gelegenen European Molecular Biology Laboratory (EMBL) kamen, zusammengepumpt, als sie im März 1997, auf dem Gipfel des Biotech-Booms, Lion Bioscience gründeten.
Obwohl die Zahl der Neugründungen seit 1999 stagniert, hat die Branche beste Aussichten. Zur Zeit gibt es in Deutschland 543 Biotechnologieunternehmen. In knapp drei Jahren machte das Gründer-Team aus Lion eines der deutschen Vorzeigeunternehmen im Geschäft mit dem Erbgut.
201 Menschen aus 15 Nationen arbeiten inzwischen bei Lion Bioscience: Molekularbiologen, Laboranten, Programmierer. Ihre Fähigkeit ist es, Programme zu schreiben, die das Verhalten, die Eigenschaften von Biomolekülen erfassen, vorhersagen und vergleichen können. Im Moment feilen die klugen Köpfe an einem Programm, mit dem sie das Erbgut des Menschen zum Sprechen bringen wollen.
Zu den Angestellten aus Fleisch und Blut kommen noch Q-bot und seine Kollegen, die Laborroboter. Die arbeiten im Keller. Die rechnergesteuerten Automaten verteilen mit lautem Surren Genproben und Bakterienkolonien auf speziellen Filterfolien. Dort werden die Proben später vollautomatisch mit so genannten Gensonden überspült, an denen Fluoreszenzfarbstoffe kleben.
Im Laserlicht verraten die leuchtenden Farbstoffe, welche Gene in bestimmten Zellen und Gewebearten an- und welche abgeschaltet sind. Sie lassen auch erkennen, wie in dem Genkonzert einer Bakterienzelle jene biochemischen Eigenschaften entstehen, die sie in einen gefährlichen Krankheitserreger verwandeln.
Über 12 000 Gene, erläutert Laborchef Abdellah Harim, ein gebürtiger Marokkaner, könne man gegenwärtig gleichzeitig erfassen. Solche Informationen über Genmuster sind bei den Pharmaunternehmen hoch geschätzt. Sie liefern Ansatzpunkte für neue Medikamente, und überdies wollen die Pharmaexperten damit künftig im voraus Nebenwirkungen oder toxische Eigenschaften neuer Wirkstoffe abschätzen.
Nebenan summt eine Reihe von DNS-Sequenzierern, Maschinen, die automatisch jede beliebige Erbinformation entschlüsseln. Im Auftrag von Forschungsinstituten und Pharmaunternehmen durchleuchten die Lion-Forscher mit den Apparaten das Genmaterial von Mikroorganismen. Bei fünf Mikroorganismen habe man das Erbgut bereits entschlüsselt, berichtet Lion-Mitgründer Voss voller Stolz - "mehr hat nur das "TIGR" (The Institute of Genomic Research) in den USA gemacht", das von dem charismatischen Genomforscher Craig Venter gegründet wurde und in dem zum ersten Mal die Entschlüsselung des kompletten Erbgutes eines Bakteriums gelang.
Ihr wichtigstes Produkt wollen die Lion-Manager an Genomfirmen, Labors und all die Pharmariesen verkaufen, die sich nun in dem Datenwust der Menschengene zurechtfinden müssen. Allein die Entzifferung von drei Milliarden Buchstaben der menschlichen Erbinformation, wie sie jetzt von Venter und anderen vorangetrieben wird, führt noch nicht sehr weit. "Die Genomprojekte produzieren bloß Roheisen", meint Claus Kremoser. "Aber wir haben dazu die Schmiedewerkzeuge."
Das Handwerkszeug, das die Lion-Wissenschaftler für ihre Kunden entwickeln, besteht aus hochgezüchteter Software. Die nennt sich SRS6 oder Bioscout. SRS6 ist eine Art Datenbank-Esperanto, das laut Kremoser von 350 verschiedenen molekulargenetischen Großdatenbanken rund um den Globus verstanden wird.
Wie das vor sich geht, versteht der Biologe selber nicht: "Mit SRS6", sagt der 34-Jährige, der sich "Vice President Corporate Development" nennt, "ist es wie mit der Coca-Cola-Formel: Das Geheimnis kennen nur ganz wenige Leute." Und die, ergänzt Kremoser, "sind fast alle bei uns". Die meisten Pharmamultis haben die ursprünglich im EMBL ertüftelte Software schon gekauft.
Bioscout, das zweite Softwareprodukt des Unternehmens, ist der Vorläufer eines umfassenden Expertensystems, eine Art biomedizinisches Trüffelschwein: Wenn es mit einer Gensequenz gefüttert wird, geht es automatisch auf die Reise durch die Datenbanken rund um den Globus und sammelt dort alle verfügbaren Informationen ein.
Schließlich erscheint auf dem Bildschirm ein "Genporträt" - die wahrscheinliche Funktion des Gens, seine Aktivitätsmuster in verschiedenen Geweben, verwandte Gene bei anderen Organismen, Eigenschaften des nach der Genanweisung hergestellten Eiweißmoleküls.
Jede Firma, die von den Daten der Genomprojekte profitieren will, braucht in Zukunft derartige Softwarepakete, die den ungeheuren Datenstrom aus den menschlichen Chromosomen verarbeiten können.
Dem Pharmariesen Bayer war der elektronische Rollgriff in die Erbgutdaten des Menschen viel Geld wert: Zum Preis von 100 Millionen Dollar installieren die Lion-Experten gegenwärtig in Boston für Bayer ihre gesamte Bioinformatik-Technologie - eine firmenübergreifende Zusammenführung von Informatik und Biologie, die unter dem Namen "i-biology" eine neue Ära der Biowissenschaften signalisiert.
Mit dem Bioscout-Paket wollen die Heidelberger ein Global Player im heraufziehenden Zeitalter des Genomgeschäfts werden - bislang eine Domäne amerikanischer Biotech Companies. Wer da mitmischen will, meint von Bohlen, müsse den US-Boys ihre eigene Medizin zu schmecken geben. "Angriffsfußball", nennt es der Lion-Boss. "Die deutsche Nationalmannschaft geht auf den Platz und sagt: 'Bloß kein Gegentor in den ersten 20 Minuten.' Die Amerikaner gehen raus und sagen: 'Wir siegen auf jeden Fall' - selbst wenn sie 0 : 3 zurückliegen."
Erst vor wenigen Wochen übernahm die junge deutsche Firma eine Sperrminorität beim US-Unternehmen Tripos Inc. in St. Louis, die komplette Übernahme könnte in Kürze folgen. Dass eine deutsche BiotechFirma ein US-Unternehmen schluckt, ist in der Branche noch nicht vorgekommen. "Wir sind schon aggressiv", sagt der Lion-Boss, "und wir wollen wirklich gewinnen."
Die Verschmelzung aus Siliziumtechnologie und Genomforschung soll schon bald nicht nur der Pharmaforschung zu Diensten sein. In Zukunft wollen Firmen wie Lion mit i-biology im Gesundheitssektor Kasse machen.
Die Zauberformel i-biology könnte schon bald die Börsen so beflügeln wie heute der Internet-Rummel, meinen Experten. Dafür wollen von Bohlen und seine Kompagnons ihre Bioscout-Technologie zu einem umfassenden medizinischen Expertensystem ausbauen.
Das könnte bedeuten: Schon in wenigen Jahren werden die Hausärzte nur noch ein wenig Blut, Speichel oder Urin auf einen Genchip tröpfeln und in ein Lesegerät schieben. Dann soll eine aufgerüstete Bioscout-Version automatisch die Diagnose stellen und die Therapie konzipieren. Für den Doktor druckt das System nur noch den Befund aus, für die Patienten Rezepte und Überweisungsscheine.
Das hört sich nach Science-Fiction an und könnte trotzdem schon bald Wirklichkeit werden. Die technologische Entwicklung eilt schon längst auch den Geschäftsplänen der Biotech-Unternehmen voraus.
Schon jetzt kann die neueste Generation von Genchips automatisch zwischen verschiedenen Leukämieformen unterscheiden. Die richtige Diagnose, bislang erst nach aufwendiger Laborarbeit möglich, liefert der Chip nach wenigen Minuten. "In diesem Business kenne ich nur zwei Arten von Unternehmen", sagt der Lion-Boss, "die einen sind schnell genug. Die anderen sind tot."
Bei so viel Tempo bleibt zuweilen die Etikette auf der Strecke. Zum Beispiel als der Programmierer Markus Hogh auf dem Weg zur Arbeit mit seinem Mountainbike in einen Regenschauer geriet und am selben Tag eine Riege fein gewandeter Herren vom Pharmakonzern Hoechst bei Lion durch die Gänge schritt.
"Die haben etwas verstört geguckt", erinnert sich Kremoser, "als sie hinter einer Silicon-Graphics-Maschine auf einen fast nackten Programmierer in nassen Unterhosen stießen."
DER GEIST IST AUS DER FLASCHE
Soll die Gesellschaft die Entwicklung zur Genmanipulation stoppen - oder haben die Kinder von morgen nicht sogar ein Recht auf verbesserte Gene? Der Biophysiker GREGORY STOCK über eine Zukunft, in der der Mensch Herrscher über die Evolution sein wird.
Wir sind an einer Weggabelung der Evolution angelangt, für die es in der Geschichte der Menschheit kein Beispiel gibt. Die mächtigen Technologien, die bisher die Welt um uns herum verändert haben, nehmen nun auf einmal uns selbst ins Visier. Jetzt, da wir unsere eigene Biologie entschlüsseln und lernen, sie zu verändern, ergreifen wir die Macht über unsere eigene Evolution. Wir beginnen eine Reise ins Ungewisse.
Der rasante Fortschritt der Molekulargenetik und verwandter Technologien wird uns dazu zwingen, über die Frage nachzudenken, was es überhaupt heißt, ein Mensch zu sein.
Der Eingriff in die Keimbahn - die Veränderung jener Gene, die wir an unsere Kinder weitergeben - beschwört die stärksten Ängste herauf: Der Mensch beginnt, sich nach eigenen Vorstellungen selbst zu gestalten.
Aber wir haben all die Milliarden an Forschungsgeldern zur Enträtselung unserer Biologie nicht zur Befriedigung schöngeistiger Neugierde ausgegeben, sondern in der Hoffnung, unser Leben zu verbessern.
Eine Umfrage für das Bioethik-Programm der International Union of Biological Sciences (IUBS) aus dem Jahr 1993 bestätigt: Überall waren die Menschen zu einem großen Teil bereit, die Gentechnik einzusetzen, um die Fähigkeiten ihrer Kinder zu verbessern. Der Anteil der Befürworter reichte von 26 Prozent in Japan und 43 Prozent in den USA bis zu 60 Prozent in Indien und 80 in Thailand.
Natürlich, nur weil etwas machbar ist, heißt das noch lange nicht, dass es auch getan werden muss. Aber jede Technologie, die eines Tages in tausenden von Labors in aller Welt einsatzbereit ist und die von einer großen Anzahl wohlhabender Menschen verlangt wird, ist unaufhaltbar. Die Frage ist nicht, ob Eltern diese fortgeschrittene Fortpflanzungstechnik benutzen werden, sondern wann, wo und wie offen sie das tun.
Wenn ein Ehepaar aus Berlin eine romantische Hochzeitsreise in die Karibik unternimmt und neun Monate später eine ungewöhnlich aufgeweckte Tochter zur Welt bringt, was sollte eine Regierung dann tun? Wird sie die Familie zu einem Gentest zwingen und die Eltern ins Gefängnis werfen, wenn sie beim Kind Anzeichen für genetische Manipulationen entdeckt? Wird sie den Eltern das Kind wegnehmen?
Der einzige Effekt, den eine strikte gesetzliche Kontrolle haben könnte, wäre die Beschränkung auf die wohlhabende Klasse. Ich halte es für denkbar, dass es viel weniger öffentlichen Druck für ein Verbot solcher Fortpflanzungstechnik geben wird als das Verlangen nach Zugang für alle - Gentechnik auf Krankenschein.
Technisch könnte das viel früher möglich werden, als wir glauben. Es gibt bereits einige Firmen, die künstliche Chromosomen in menschliche Zellen eingebracht haben. Deren Interesse liegt einstweilen in der Gentherapie und bei Medikamenten. Aber wenn die Technologie einmal verfeinert ist, wird es leicht fallen, auch menschliche Embryos genetisch zu manipulieren.
Noch gibt es keine künstlichen Gene, die Eltern in Versuchung führen können. Aber die vollständige Kartierung des menschlichen Genoms ist erst der Anfang dieser Bemühungen. Die stürmische Entwicklung von Genomik, Bioinformatik und Genchip-Technologie wird schon bald die Zusammenhänge zwischen unseren Genen, unseren Körperfunktionen und unserem Verhalten aufdecken. Die meisten dieser Zusammenhänge werden zu komplex sein, um sie zu manipulieren, aber einige werden sich als überraschend einfach entpuppen.
Werden die Genetiker Möglichkeiten entdecken, das Altern zu verzögern oder die menschliche Intelligenz zu steigern? Noch vor einem Jahrzehnt konnte sich niemand vorstellen, dass eine einzige Genmutation die Lebenszeit eines Fadenwurms verdoppelt. Umso schwerer ist es, vorherzusagen, wann sich ganze Gruppen von Genen wirksam beherrschen lassen werden.
Die Verbesserung des Menschen wird die ethisch umstrittenste Manipulation der menschlichen Biologie sein. Das Klonen - die verspätete Geburt eines eineiigen Zwillings - erscheint bizarr, aber es stellt nicht unsere grundsätzliche Vorstellung in Frage, was es heißt, ein Mensch zu sein. Wenn wir jedoch beginnen, bewusst die Gene unserer Kinder auszusuchen und zu verändern, begeben wir uns in unbekannte Gewässer.
Keimbahn-Manipulationen werden nicht aus der Hand von klischeehaft durchgeknallten Wissenschaftlern in die Welt kommen, die eine neue Herrenrasse erschaffen wollen. Sie werden vielmehr ein Abfallprodukt der allgemein akzeptierten biomedizinischen Forschung sein. Man muss schon den wissenschaftlichen Fortschritt an sich stoppen, um die Verfügbarkeit fortgeschrittener Reproduktionstechniken zu verhindern.
Einige Länder werden sich vorübergehend aus der Forschung zurückziehen. Die Schweiz erwog im vergangenen Jahr, ganze Bereiche der Genforschung zu unterbinden, zuckte aber zurück, als klar wurde, dass man damit womöglich die Pharmafirmen aus dem Land vertrieben hätte.
Als Folge solcher Restriktionen würde man die Forschung schlichtweg jenen Ländern überlassen, die in ethischen Fragen weniger zimperlich sind. Und was den späteren Gebrauch von Verbesserungstechnologien anbelangt, braucht man sich keinen Illusionen hinzugeben: Wir leben in einer vom Wettbewerb geprägten Welt, und wenn Sicherheit und Wert der Methoden erst einmal bewiesen sind, wird es starke Verlockungen geben, jegliche Verbote zu unterlaufen.
Falls sich der Eingriff in die Keimbahn als zu gefährlich erweisen sollte, wird sich die Frage nach Menschenverbesserungen langsam in Wohlgefallen auflösen. Aber einer Gentechnik, die zuverlässig und sicher Verbesserungen ermöglicht, können wir nicht widerstehen. Sie erlaubt uns, die genetische Blaupause unserer Kinder zu korrigieren und ihnen einen schärferen Intellekt, einen robusteren Körper, erhöhte Widerstandskraft gegen Krankheiten oder ein längeres Leben mit auf den Weg zu geben.
Eingriffe in die menschliche Keimbahn lassen das Gespenst der Eugenik wieder auferstehen, aber es ist kaum zu rechtfertigen, die Fortpflanzung zu etwas Heiligem zu erklären, das unberührt zu bleiben habe. Vor 21 Jahren nannte man Louise Brown, das erste Kind, das aus einer In-vitro-Befruchtung hervorging, ein "Reagenzglas-Baby", und prominente Kritiker wie Jeremy Rifkin regten sich damals über "psychologische Monstrositäten" auf, die wir da angeblich erschufen. Heute nutzen jedes Jahr zehntausende von Paaren, die sonst nie ein Kind hätten, die Methode.
Je mehr Kontrolle wir jedoch über die menschliche Fortpflanzung erlangen, desto eher werden wir eines Tages vor Entscheidungen stehen, vor denen sich manch einer lieber drücken würde. Gerichtsverfahren wegen "widerrechtlicher Geburt" oder "genetischer Unterlassung", die erwachsene Kinder gegen ihre Eltern anstrengen, werden keine juristischen Ausnahmen bleiben.
Ironischerweise könnte es sogar sinnlos sein, aus Angst vor juristischen Komplikationen die Gentechnik zu vermeiden. Denn während manche Kinder später die Genmanipulationen verabscheuen werden, die ihre Eltern vornehmen ließen, könnten sich andere um ihre Chancen betrogen sehen, weil die Eltern ihnen einfache Eingriffe vorenthielten, die ihnen viele zusätzliche Lebensjahre geschenkt oder ihnen die Demütigung erspart hätten, im Wettstreit mit den genmanipulierten Überfliegern nicht bestehen zu können.
Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir heute aus einer Position der Ignoranz über solche Möglichkeiten diskutieren. Wir haben schlichtweg keine Ahnung, was in Zukunft möglich sein wird und wohin es führt. Angesichts solcher Unsicherheit plädieren manche dafür, die Forschung zu stoppen und erst einmal darüber nachzudenken, wie es weitergehen soll.
Das ist aber gefährlich, denn je einfacher die Technik zu handhaben sein wird, desto wahrscheinlicher ist ihr breiter Einsatz. Wir schulden es den kommenden Generationen, die Methoden heute vorsichtig zu erproben, solange sie unfertig und ungeeignet für den breiten Einsatz sind. Auf diese Weise bleiben Fehler, die wir machen - wie die Todesfälle bei der Gentherapie in Pennsylvania -, auf relativ wenige Betroffene beschränkt, und wir gewinnen die Erfahrung, die wir brauchen, um die Technik verantwortungsvoll zu beherrschen.
Kategorische Feststellungen zur "Unantastbarkeit des menschlichen Genoms" oder zum "Recht auf eine unveränderte genetische Ausstattung" klingen angesichts unserer heutigen Ignoranz hohl. Es ist sinnvoller, das Urteil aufzuschieben und sowohl Chancen als auch Risiken zu bewerten, die daraus entstehen.
Derzeit haben wir wenig zu fürchten. Es ist ein weiter Weg von den ersten Laborexperimenten zur klinischen Anwendung. Unsere Gesellschaft wird reichlich Zeit haben, einen Kodex für den Umgang mit den neuen Möglichkeiten zu erarbeiten und zu lernen, mit Problemen, die aus dem Klonen oder dem Keimbahn-Eingriff resultieren, umzugehen. Diese Methoden werden für viele Jahre kompliziert und teuer bleiben, aber es gibt keinen Weg, den Geist wieder in die Flasche zurückzubefördern, und das Beste, was wir tun können, ist, die Entwicklung unter den wachsamen Augen der Öffentlichkeit weiterzuführen.
Anders als die Atomwaffen birgt die Reproduktionsbiologie keine nennenswerte Bedrohung für Unbeteiligte. Die Einzigen, die in absehbarer Zeit betroffen sein könnten, sind die wenigen gut informierten, engagierten, in materiellem Überfluss lebenden Paare, die sich drängen werden, diese Technologie auszuprobieren.
Denen, die sagen, wir dürfen nicht Gott spielen, halte ich entgegen: Wir tun es schon längst - jedes Mal, wenn wir ein Verhütungsmittel benutzen oder eine Niere verpflanzen.
In demselben Maße, in dem wir Kontrolle über das erlangen, was einst außerhalb unserer Einflussmöglichkeiten lag, lässt die Menschheit ihre Kindheit hinter sich. Wir müssen die Verantwortung übernehmen für unsere wachsende Macht über die Umwelt, über unsere Mitmenschen und über uns selbst.
So zu tun, als könnten wir irgendwie den Status quo aufrechterhalten, ist nicht in unserem Interesse und nicht im Interesse künftiger Generationen. Ich vermute, dass die Menschen in ferner Zukunft - wer oder was sie auch sein mögen - auf unsere Ära zurückblicken werden als auf jene Zeit voller Herausforderungen, Kontroversen und Probleme, in denen die Fundamente für ihre Gesellschaft gelegt wurden.
Und vielleicht werden sie unsere Gegenwart als jene merkwürdige primitive Epoche sehen, in der Menschen nur 70 oder 80 Jahre lebten, an grauenvollen Krankheiten zu Grunde gingen und ihre Kinder außerhalb der Labors zeugten - durch das zufällige und ungeplante Aufeinandertreffen von Spermium und Ei.
PASSENDER HANDSCHUH
Warum schlagen Pillen so unterschiedlich an? Die Pharmaforscher werden neue Arzneien entwickeln - maßgeschneidert nach dem Erbgut dessen, der sie nimmt.
Reglos liegt der Mann am Boden. Eine junge Frau im weißen Kittel durchsucht hektisch seine Brusttasche. Nur ein Portemonnaie mit Bargeld. Endlich, in der rechten Gesäßtasche, wird sie fündig. Zwischen Scheck- und Kreditkarten, Bibliotheksausweis und Führerschein, leuchtet sie rot hervor: die Genkarte. Die Ärztin fingert das Stück Hartplastik aus seiner Hülle und schiebt es in das zugehörige Lesegerät im Notarztwagen. Sekunden später erhält sie Auskunft, welches lebensrettende Herzmedikament sie dem Patienten in welcher Dosierung geben darf, ohne dass auch noch seine Leber Schaden nimmt. Schon in fünf bis zehn Jahren, glauben die meisten Genetiker und Pharmakologen, werde eine solche Genkarte in jede Brieftasche gehören. Damit würde eine Verheißung der Genforschung wahr: individuelle Behandlungsstrategien gegen individuelles Leid. "Das Schubladendenken in der Medizin wird mehr und mehr verschwinden", so umschreibt es Claus Bartram, Humangenetiker an der Universität Heidelberg. "Herzinfarkt ist dann nicht mehr gleich Herzinfarkt."
Lange Zeit schien es den Pharmakologen ein Rätsel, warum Menschen auf ein und dieselbe Arznei derart unterschiedlich reagieren. "Die meisten Medikamente wirken nur bei 30 bis 40 Prozent der Patienten so, wie sie sollen", sagt Daniel Cohen von der Pariser Biotech-Firma Genset. Das liegt vor allem an winzigen, punktuellen Änderungen der Erbsubstanz DNS, die bei jedem Menschen in großer Zahl auftreten.
Die kleinen Unterschiede im Erbgut, SNPs (sprich: "Snips")** genannt, offenbaren sich bisweilen dramatisch: Insgesamt sterben jedes Jahr tausende Menschen an den Nebenwirkungen von Medikamenten, die sie schlucken. Das Mittel Procainamid zum Beispiel, das Infarktpatienten gegen Herzrhythmusstörungen feien soll, schädigt bei zahlreichen Behandelten die Leber schwer, weil die Kranken diese Arznei von Natur aus langsamer abbauen als der Durchschnitt der Bevölkerung.
Nicht immer geht es so schlecht aus, wenn die genetische Ausstattung eines Menschen von der Norm abweicht, nach der sich die Pharmakologen ausrichten. Manche Medikamente bleiben dann einfach nur wirkungslos.
"Bis heute handeln Pharmafirmen wie Hersteller von Handschuhen, die Handschuhe nur in einer Größe produzieren", spottet Chris Moyses von der britischen Biotech-Firma Oxford GlycoSciences. "Von Patienten erwartet man, dass sie sich da hineinquetschen."
Wie zahlreiche junge Pharmaunternehmen versucht auch die Firma Oxford Glyco-Sciences, auf der Basis der Genomforschung für jeden Patienten eine persönliche Pille zu schaffen, die seiner genetischen Ausstattung exakt angepasst ist. Der Ausspruch "meine Medizin" wäre dann wörtlich zu nehmen.
"Eine Revolution im Denken" der Pharmahersteller entstehe durch diesen neuen Forschungszweig der Pharmakogenomik, meint Jonathan Knowles, Chef der Arzneimittelforschung beim schweizerischen Konzern Roche. An dieser Revolution beteiligen sich inzwischen auch Pharmariesen wie Novartis, Bayer und Aventis. Vor einem Jahr haben sie gemeinsam mit sieben weiteren weltweit operierenden Konzernen ein Konsortium gegründet, das die Erkundung des menschlichen Genoms fördern soll.
45 Millionen US-Dollar stellen die Firmen bereit, um gemeinschaftlich das Erbgut des Homo sapiens nach SNPs abzusuchen. "Im Unterschied zum Humangenomprojekt, bei dem die menschliche Erbsequenz als Ganzes entschlüsselt wird, zielen wir auf die Bestimmung der typischen Unterschiede in den Erbsequenzen einzelner Individuen", erklärt Bayer-Sprecherin Gisela Lenz. Die Firmen möchten am Ende eine Karte des menschlichen Erbguts zusammenstellen, auf der alle kleinen Unregelmäßigkeiten verzeichnet sind.
Geschätzt wird, dass etwa jeder tausendste der mehr als drei Milliarden Bausteine der menschlichen DNS ein SNP ist. "Das Wissen, das wir in den nächsten Jahren mit der neuen Genomkarte erlangen werden, hat das Potenzial, die Praktiken der Medizin fundamental zu ändern", erklärt der Chef des Konsortiums, Arthur Holden aus Chicago.
ACHILLESFERSE IM VISIER
Gegen Viren jemals Arzneimittel zu entwickeln sei unmöglich, prophezeite einmal der Pharmaforscher und spätere Medizin-Nobelpreisträger George Hitchings. Viren sind die Herrscher der Welt. Weil sie sich mit dem Körper ihres Opfers auf heimtückische Art verbinden, gibt es bis heute kaum Medikamente gegen sie.
Hitchings hat bei seiner Prognose nicht mit der Gentechnik gerechnet, die eine neue Ära in der Arzneimittelforschung einleitet. "Jetzt ist die Zeit für antivirale Medikamente gekommen", sagt Helga Rübsamen-Waigmann, Leiterin der internationalen Virusforschung beim Bayer-Konzern. Gentechnisch lassen sich diejenigen Proteine, die für die Vermehrung der Viren nötig sind und an denen Medikamente ansetzen müssten, in großen Mengen im Labor herstellen.
Das eröffnet zwei Wege: Zum einen lassen sich die Virusproteine dreidimensional am Computer darstellen und offenbaren dort möglicherweise ihre Achillesferse. Zum anderen können Forscher mehrere Millionen Substanzen auf einmal an einem Virusprotein erproben, um die eine zu finden, die den Krankheitserreger am ehesten unschädlich macht. "Auf diese Weise kann man schnell erste Treffer landen", sagt Rübsamen-Waigmann. "Und die lassen sich dann optimieren." Sind selbst HIV und Ebola für zukünftige Generationen kein Schrecken mehr?
Erkrankungen werden sich immer schärfer voneinander trennen lassen, so dass es für jede Unterart einer Krankheit auch ein spezielles Arzneimittel geben wird. Je exakter die genetischen Defekte bekannt würden, die zu einer Erkrankung führen, meint Humangenetiker Bartram, desto genauer ließen sich Substanzen herstellen, die diese Defekte wieder wettmachen.
"Schließlich hat jede Krankheit eine genetische Komponente - selbst wenn sie durch die Umwelt ausgelöst wird", betont der Baseler Bioforscher Urs Meyer. Aus diesem Grund belasten Umweltgifte immer nur einen Teil der Bevölkerung - mancher Kettenraucher erreicht trotz Übergewicht und Abscheu gegen Salat ein Alter von 100 Jahren.
Nur William Haseltine will bei der Pharmakogenomik nicht mitspielen. Der Chef der - ebenfalls auf Genforschung ausgerichteten - Firma Human Genome Sciences in Rockville (Maryland) geriert sich als Ketzer unter den ansonsten einmütig dem neuen Forschungszweig verfallenen Pharmabossen.
"Die Arzneimittelindustrie rechtfertigt mit der Pharmakogenomik nur ihr Versagen, weil sie keine nebenwirkungsarmen Medikamente hinkriegt", sagt Haseltine. Es sei der falsche Weg, wenn unzählig viele, individualisierte Arzneien entwickelt würden.
"Wenn Menschen zu ihrer Medizin passen sollen, wird es immer Menschen geben, die zu gar nichts passen", warnt der Firmenchef aus Rockville. Schon heute gebe es genügend seltene Krankheiten, gegen die nur deshalb kein Mittel existiere, weil es sich für die Unternehmen nicht lohnt, entsprechende Pillen zu entwickeln. "Wir wollen weiterhin Arzneien", unterstreicht Haseltine, "die so vielen Menschen wie möglich helfen."
Eines jedenfalls ist bereits jetzt gewiss: Die maßgeschneiderten Arzneimittel werden nicht billig zu haben sein. Plausibel also, dass die zukünftigen Träger der Genkarten diese vermutlich in der Nähe ihrer Kreditkarten aufbewahren werden.
* Ein Biologe saugt aus einem Plastikröhrchen DNS ab. Im UV-Licht leuchtet das genetische Material als helles Band in der zentrifugierten Zellsubstanz auf.
** SNPs: Abkürzung für Single Nucleotide Polymorphisms.
(10.04.2000)