Hamburg (gil), 10.11.03 / 12:35
Im Gespräch: Michael Haentjes und Michael Baur
Nach dem rasanten Aufstieg zu einer der größten Independentfirmen der Welt folgte für die edel music AG mit dem Ende der Interneteuphorie ein tiefer Fall. Seit zwei Jahren ist Konsolidierung angesagt. Michael Haentjes, CEO & Chairman, und Michael Baur, CFO & COO, geben Auskunft über die Situation des Unternehmens und verraten neue Pläne.
Michael Baur
musikwoche: Im Sommer 2002 sagten Sie im Interview, edel werde eine neue Firma. Ändert sich edel jetzt schon wieder?
Michael Haentjes: Ich kann seit damals keine dramatischen Veränderungen erkennen. Wir setzen den positiven Weg fort, den wir eingeschlagen haben. In einigen Bereichen, in denen wir stark waren, sind wir noch stärker geworden. Einige Bereiche haben wir neu aufgebaut, oder wir bauen sie auf. Und wir bauen das Servicegeschäft aus, sind für Dritte tätig. Das ist eine konsequente Weiterentwicklung dessen, was wir vor über einem Jahr begonnen haben.
mw: Gibt es denn noch Pläne, was neu hinzukommen soll?
Haentjes: Wir wollen die vorhandenen Möglichkeiten noch konsequenter entwickeln. Den Servicebereich hatten wir durch optimal und die Vertriebsverträge zwar schon immer, aber jetzt haben wir ihn sozusagen aufgebohrt. Wir können Dritten alle möglichen Dienstleistungen zugänglich machen - und das forcieren wir jetzt. Wer sich in unser System einpluggt, der kann alles aus einer Hand bekommen und sich auf sein Repertoire konzentrieren. Den Neuanfang hatten wir vor eineinhalb Jahren. Seitdem geht es kontinuierlich bergauf, wenn auch nicht - angesichts der Marktsituation - in der Geschwindigkeit, die man sich erhofft hätte.
mw: Wie sehen die Reaktionen auf das Serviceangebot aus?
Haentjes: Wir haben erste Verträge abgeschlossen. Zum Beispiel mit Mole Music, die Repertoire-Entwickler und -Lieferant sind - das Drumherum wird von uns geleistet. Mit verschiedenen Labels sind wir im Gespräch.
mw: Handelt es sich dabei nicht bloß um reine Vertriebsdeals?
Michael Baur: Mole ist ein interessantes Beispiel. Die Firma hat das Repertoire der insolventen UCMG übernommen. Sie wird am Ende des Tages wahrscheinlich einen ähnlichen Umsatz wie UCMG machen, aber dafür hat sie jetzt eine sehr schlanke Struktur bei gleichen Künstlern. Das geht nur deshalb, weil wir als Full-Service-Dienstleister praktisch alle Dienstleistungen übernehmen können. Dieses Label konnte in der alten Kostenstruktur mit eigener Administration nicht überleben, wird in der neuen Struktur mit uns als Dienstleister aber vom ersten Tag an Gewinne machen. Das zeigt, dass dieses Businessmodell für beide Seiten funktioniert.
mw: Also ist das Label im Prinzip eine eigenständige A&R-Abteilung, während edel alles andere besorgt?
Baur: Vor allem geht das günstiger, weil die Labels bei uns den "Viertel-Buchhalter" kriegen, den man selbst nicht einstellen kann.
mw: Unternehmerisches Filesharing sozusagen. Kann edel auch einfach nur den Vertrieb übernehmen?
Baur: Wir bieten alle Variationen an. Die erste Stufe wäre nur der Vertrieb. Die nächste Stufe sind Vertrieb und Replikation, was schon aus logistischen Gründen zusammen gehört. Weitere Module sind wählbar, zum Beispiel Promotiondienstleistungen oder Marketing, internationale Vermarktung, Online-Business, Lizenzabrechnung.
mw: Ist das jetzt ein Appell an alle notleidenden Indies, nun unter die Fittiche von edel zu schlüpfen?
Michael Haentjes
Haentjes: Wir nehmen natürlich nicht unbesehen jedes Label. Es muss inhaltlich passen, und wir müssen davon überzeugt sein, dass die Koop Erfolg haben kann. Wir brauchen auch eine gewisse Umsatzgröße. Und wir wollen natürlich einen sinnvollen Mix der Labels. Es würde nicht funktionieren, wenn wir direkte Mitbewerber unter unserem Dach hätten.
mw: Wie reagieren Sie, wenn man edel jetzt eine Firma zum Kauf anbietet?
Haentjes: Das Thema haben wir hinter uns. Damit haben wir keine guten Erfahrungen gemacht, wie alle Welt weiß.
mw: Bleibt optimal weiterhin ein wichtiger Bestandteil im edel-Konzept?
Haentjes: Absolut. Wir sind mit optimal unter den Marktführern, was Qualität und Dienstleistung angeht, und wollen das auch bleiben.
mw: Ist der edel-Konzern in den vergangenen eineinhalb Jahren weiter geschrumpft? Mussten Sie sich noch von weiteren Mitarbeitern trennen?
Baur: Wir atmen mit dem Markt, müssen aber keine großen Sanierungsmaßnahmen mehr durchführen, denn die drastischen Schritte haben wir alle am Anfang gemacht. In der Struktur, die wir vor eineinhalb Jahren aufgestellt haben, fühlen wir uns jetzt sehr wohl - auch wenn die Optimierung ein laufender Prozess ist, bei dem immer mal wieder eine Stelle wegfallen wird. Nun geht es darum, das operative Geschäft zu erweitern und den Skeptikern, die es noch immer gibt, zu zeigen, dass wir uns verändert haben. Das gelingt uns nach und nach, was man auch an den Partnern sieht, die wir in den vergangenen sechs Monaten dazu gewonnen haben. Man erkennt, dass wir eine gute Alternative zwischen den Majors und den ganz kleinen Firmen sind. Eine unabhängige Alternative, die eine einmalige Dienstleistungsstruktur, aber auch eine einzigartige internationale Struktur bietet.
mw: Wie schwierig ist es, die Skeptiker zu überzeugen?
Baur: Es ist halt doch ein kleiner Markt, und es gelingt der Konkurrenz immer wieder, Gerüchte in die Welt zu setzen, dass edel nun doch schon morgen Insolvenz anmelden werde. Da kann ich als Finanzvorstand immer nur anführen, dass wir in den letzten sechs Monaten stets mehr als zehn Millionen Euro Bankguthaben hatten und somit zu keiner Sekunde auch nur in der Nähe einer Insolvenz waren. Aber diese Gerüchte werden leider immer wieder gestreut. Deswegen dauert es länger, als wir es uns erhofft hatten, neue Partner zu gewinnen. Doch wir sind bereit, alles offen zu legen - und wer einmal bei uns war und von diesem Angebot Gebrauch gemacht hat, ist dann auch bei uns geblieben.
mw: Ist denn was an dem Gerücht dran, Michael Haentjes finanziere den Laden nur noch aus seiner eigenen Tasche?
Baur: edel ist momentan völlig unabhängig von externen Finanziers, das gilt auch für unseren Hauptaktionär Michael Haentjes. Unser Geschäftsjahr endete am 30. September 2003. Da wir börsennotiert sind, kann ich jetzt zwar noch nichts konkret zur Ergebnisentwicklung sagen. Im Jahresabschluss wird man aber nachlesen können, dass die Cash-Bestände im edel-Konzern am 30. September bei zwölf Mio. Euro lagen. Viele Mitbewerber da draußen wären wahrscheinlich froh, wenn sie über solche Bestände verfügen könnten. Aber das sind ja leider auch genau die gleichen Leute, die solche Gerüchte in die Welt setzen. Kein deutscher Major, kein anderer Independent - außer Jack White - muss seine Zahlen mit dieser von der Börse geforderten Transparenz offen legen. Aber so kann wenigstens jeder, der sich mit unseren Zahlen beschäftigt, sehen, dass es uns wieder gut geht.
Wollen edel mit gesundem Pragmatismus die Zukunft sichern: Michael Baur...
Haentjes: Und von wegen, ich zahle aus eigener Tasche dazu - weit davon entfernt.
mw: Warum haben Sie sich von Jörg Hellwig getrennt?
Haentjes: Das ist eine sehr komplexe Geschichte, die ich hier nicht ausbreiten möchte. Aber der Erwartungsdruck war sicher sehr hoch.
mw: Konnten Sie denn im vergangenen Jahr genug Eigenrepertoire aufbauen? Wie lautet jetzt der Auftrag an Achim Harbich?
Haentjes: Jörg hat versucht, mit neuen Acts viel zu erreichen, und wir haben das unterstützt. Doch leider wurde das im Markt nicht so bemerkt, wie es nötig gewesen wäre. Zwar ist sehr viel passiert, aber die Ergebnisse entsprachen nicht den hohen Anforderungen. Wir werden uns deshalb jetzt noch mehr auf die etablierten Acts konzentrieren. So haben wir jetzt Toni Braxton und Kool & The Gang gesignt, die Platten kommen Anfang 2004. Wir wollen nicht mehr völlig neue Acts ganz neu aufbauen. Dafür ist das Marktumfeld nicht geeignet, und wir sind vielleicht auch nicht die richtige Company dafür.
mw: Es war vielleicht gewagt, einen Künstler wie Tobias Schacht, Der Junge mit der Gitarre (DJMDG), unter Vertrag zu nehmen. Bereuen Sie das?
Haentjes: Es war eine gute Entscheidung, aber ich weiß nicht, ob es gut war, so schnell mit einem Erfolg zu rechnen. Da haben wir vielleicht auch falsche Maßstäbe gesetzt. Aber hin und wieder muss man sich an den Maßstäben, die man sich selber setzt, auch messen.
mw: Ist DJMDG eigentlich noch dabei?
Haentjes: Den Vertrag haben wir gerade verlängert. Wir werden allerdings bei der nächsten Platte nicht mehr mit solchen Fanfaren antreten. Wir geben ihm Zeit, sich ganz natürlich zu entwickeln. Er hat mir gestern das halbe Album vorgespielt. Da werden wir alle noch unsere Freude daran haben.
mw: Also wird edel nicht weitere junge Künstler unter Vertrag nehmen und von ihnen erwarten, dass sie innerhalb eines halben Jahres den Durchbruch schaffen?
Haentjes: Das kann man so sagen. Ergänzungen werden eher aus dem Bereich der etablierten Acts kommen. Baur: Wir werden junge Künstler nicht mehr mit dem Ziel unter Vertrag nehmen, aus ihnen sofort einen Top-Act zu machen. Sie bekommen die Möglichkeit, sich zu entwickeln, aber wir werden sie nicht als unentdeckte Superstars einkaufen. Mit DJMDG haben wir eine angemessene Basis gefunden, die es ermöglicht, mit ihm weiterzumachen. So wie bisher hätte es nicht mehr funktioniert. Wir werden nicht mehr 300.000 Euro für einen Newcomer auf Spiel setzen, um ein Entweder-Oder-Ergebnis zu kriegen.
mw: Wie sieht das gewünschte inhaltliche Spektrum aus. Mainstream statt Nische?
Haentjes: DJMDG ist ein gutes Beispiel, und wir haben noch ein paar mehr Nischenthemen, die bei uns sehr erfolgreich über edel Contraire bearbeitet werden. Dazu haben wir im Dance-Genre mit Kontor eine der wesentlichen Marken, die jetzt als Downloadportal noch zusätzlich Profil gewinnt. Auch Kinderrepertoire, bei dem wir mit edelkids eine anerkannte Marke aufgebaut haben, wird für uns weiterhin sehr wichtig sein. Im Pop-Bereich edel records wollen wir den Schwerpunkt eher auf Middle-of-the-Road, auf MOR, legen - Marshall & Alexander, Gregorian, Kool & The Gang, Toni Braxton. Wir werden nicht versuchen, jugendliche Acts von null aufzubauen, unser Schwerpunkt liegt in der Mitte. Natürlich bleiben wir pragmatisch. Wir waren immer pragmatisch opportunistisch, und so soll es wieder werden.
mw: Welchen Stellenwert hat in diesem Zusammenhang die DVD?
Haentjes: Dank der Themen von Eagle Rock, die hervorragend gehen, haben wir einen überproportionalen Anteil am Markt. Und da passiert eine ganze Menge. Wir haben auch verstärkt eigene Rechte akquiriert. Natürlich stürzen wir uns auf jedes Format, das Wachstum zeigt.
mw: Was sagen Sie dazu, dass Phonoline nun doch nicht mehr in diesem Jahr kommt?
... und Michael Haentjes
Haentjes: Phonoline hätte längst starten müssen, und es hätte längst starten können. Was Kontor mit der Danceplattform macht, zeigt ja, dass es geht, wenn man sich richtig darum kümmert. Aber ich nehme an, hier sind wieder tausend Egos und sonstige Interessen im Spiel. Wenn die Industrie Gefahr läuft, in Grund und Boden zu fahren, dann allein deswegen, weil sie ihre Hausaufgaben nicht gemacht hat. Natürlich gibt es viele Herausforderungen. Doch mit denen könnte man umgehen, wenn man selber aktiv wäre. Aber man zerredet es stattdessen, bis nicht mehr viel übrig bleibt.
mw: Bleibt der physische Tonträger die nächsten Jahre wichtig?
Baur: Es ist doch fragwürdig, ob 99 Cent pro Download dauerhaft überhaupt kostendeckend sein können. Wenn man das mal genau nachrechnet, kommen erschreckende Zahlen raus. Das große Geschäft machen meines Erachtens andere Firmen als die Tonträgerunternehmen. Wenn man nicht aufpasst, wird am Ende des Tages die Musikindustrie nur einen Bruchteil der Marge erhalten haben, während der Großteil an die Hardwarehersteller und Serviceprovider wie Telekom oder Apple fließt. Und dann erzählt mir jemand aus der Branche: Wenn 99 Cent zu wenig sind, dann erhöhen wir halt auf 1,49 Euro... Da kann ich nur antworten, dass Preise auch im Downloadbereich über den Markt bestimmt werden und dass es mindestens genauso schwer ist, einen Downloadpreis um 50 Prozent zu erhöhen, wie den eines physischen Tonträgers. Ich halte das alles für eine sehr gefährliche Entwicklung; ich wüsste nicht, wer das Grundsystem für die Musikindustrie wieder in Ordnung bringen könnte. Die Schlacht könnte schon verloren sein.
Haentjes: Die Wahrscheinlichkeit, dass das in naher Zukunft ein Massengeschäft wird, wo wirkliches Geld fließt, halte ich für gering. Man muss das realistisch sehen: Zu sagen, in fünf Jahren beträgt das Internetgeschäft 20 Prozent des Marktes, ist in meinen Augen eine sehr optimistische Prognose.
mw: Da trifft es sich doch gut, dass bei optimal sogar die Herstellung der Vinyltonträger gut läuft, oder?
Haentjes: Man muss den physischen Tonträger attraktiver gestalten. Und da komme ich zu einem Thema, das mir sehr am Herzen liegt und das wir auf der Buchmesse vorgestellt haben - die Earbooks. Sie sind gestaltet wie ein Buch mit eingelegten Tonträgern. Wir versuchen damit, die Werthaltigkeit, die das Buch bei den Verbrauchern noch hat, auf die Musik zu übertragen. Und ich glaube, das ist uns recht gut gelungen. Schauen Sie sich die Website www.earbooks.net an.
mw: Wollen Sie diese Earbooks auch im Buchhandel verkaufen?
Haentjes: Ich frage mich, warum man in der Branche so wenig über solche neuen Wege nachdenkt. Natürlich sehen wir einen Vertriebskanal beim Buchhandel. Aber wir hätten nichts dagegen, wenn sich auch der Tonträgerhandel beteiligen würde und das als Chance sähe, sich neuen Umsatz zu erschließen.
Baur: Das Ganze zeigt, dass wir nicht nur an der Effizienz arbeiten, sondern auch neue Umsatzfelder erschließen wollen. Und dass wir weiterhin innovativ bleiben. Wir wollen neue Märkte erschließen, darin sehen wir unsere Chance. Es geht uns nicht nur darum, dass wir 20 zusätzlich Produkte durchschleusen, sondern dass wir die Qualität erhöhen und neue Bereiche eröffnen. Weil wir innovativer und schneller sind als die anderen.
Quelle: musikwoche.de