"Wer im Osten auf die Schnauze fällt..."
Alle reden über Nordrhein-Westfalen als wahlentscheidendes Bundesland. Aber die spezifische Situation in Ostdeutschland bereitet allen Parteien Kopfzerbrechen. Zu Recht: Die neuen Länder könnten mehr entscheiden, als sie wollen.
Die politischen Pegelmeldungen aus dem Osten sind alarmierend: In den neuen Ländern steht allen das Wasser bis zum Hals. Es droht eine Flut von Nicht- oder Protestwählern, die den Parteien ihr erhofftes Wahlergebnis noch kräftig unterspülen kann. Selbst bei der PDS als Nutznießer fehlender Ost-Sensibilität etablierter Westparteien drohen die Dämme zu brechen: Die ersten Umfragen nach dem Abgang Gregor Gysis signalisieren, dass der Rettungsring von drei Direktmandaten zur Überlistung der Fünf-Prozent-Hürde davonzuschwimmen droht.
Alle Parteien bemühen sich deshalb im Wahlkampf jetzt wieder besonders um die Wähler östlich der Elbe. Dahinter steckt die viel zitierte These, dass Bundestagswahlen im Osten gewonnen oder verloren werden. "Diese These ist zwar sehr beliebt, trifft aber nicht den tatsächlichen Charakter", sagt Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen. Wenn Wahlen sehr knapp ausgingen, würden sie in den unterschiedlichsten Bereichen gewonnen oder verloren.
Parteienforscher Gero Neugebauer von der Freien Universität Berlin weist auf die Einwohnerzahlen hin. Gewonnen werden könnten Wahlen in Ostdeutschland schon deshalb nicht, weil die Bürger dort bundesweit nur rund ein Fünftel aller Wahlberechtigten stellen. "Allein im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen gibt es so viele Wähler wie in allen fünf neuen Ländern zusammen."
Doch dass die Wahlkampfstrategen der Parteien dennoch zu Recht ihr besonderes Augenmerk auf die Wähler im Osten richten, liegt nach übereinstimmender Meinung der Experten an dem in der Tendenz anderen Wahlverhalten in den neuen Ländern. "Es gibt weniger Stammwähler und wesentlich mehr Wechselwähler im Osten als im Westen", bringt es Everhard Holtmann von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg auf den Punkt. Abgesehen von den PDS-Anhängern sind rund 90 Prozent der Wähler in den neuen Ländern nicht traditionell an eine Partei gebunden, erläutert Jung: "Insofern fallen Reaktionen dort viel heftiger aus."
"Wer im Osten auf die Schnauze fällt...."
Das Motiv der Protestwahl ist in den neuen Ländern stärker ausgeprägt, sagt auch der Parteienforscher Jürgen Dittberner von der Universität Potsdam. "Wer eine bestimmte Partei gewählt hat und ist von ihr enttäuscht, der wählt im Osten viel schneller die Konkurrenz." Oder eben gar nicht mehr, weil er nach den Versprechen von "blühenden Landschaften" und "Chefsache" kein Vertrauen mehr hat. Zudem vergeben Ost-Wähler ihre Stimme eher nach Personen, denn nach Parteien. "Wenn führende Politiker als schwach erscheinen, werden sie mit dem Stimmzettel abgestraft", meint Neugebauer. Das nützt Gerhard Schröder, der mit seinen Popularitätswerten im Osten sogar doppelt so weit vor Edmund Stoiber liegt wie im Westen. Diese Personalisierung spürt aber jetzt auch die PDS, deren Umfragewerte vor allem in den wichtigen Wahlkreisen Ost-Berlins nach der Flucht von Gysi dramatisch eingebrochen sind.
Deshalb ist nach Ansicht Dittberners am ehesten die These gerechtfertigt, dass die Bundestagswahlen zwar nicht im Osten gewonnen, doch sehr wohl verloren werden können. "Wer im Osten auf die Schnauze fällt, den kann das sehr wohl die entscheidenden zwei bis drei Prozent für den Gesamtsieg in Deutschland kosten." Die Parteien seien daher gut beraten, auf die besonderen Probleme in Ostdeutschland wie die extrem hohe Arbeitslosigkeit und spezifische Gefühlslagen einzugehen, meint Dittberner. "Gerechtigkeit wird im Osten immer noch höher bewertet als Leistung."
Stoiber hoffnungslos hinten
Die schlechten Unions-Werte haben das Team um den Stoiber-Berater Michael Spreng aufgeschreckt. Der Kandidat ist extrem unbeliebt, vielleicht auch, weil die Menschen nicht vergessen haben, dass es der bayerische Ministerpräsident war, der gegen den Solidarpakt II und den Länderfinanzausgleich polemisierte. Lothar Späth, Katherina Reiche und Angela Merkel können dieses Misstrauen gegen den Bayern nicht ausgleichen.
Anders als in der Umweltpolitik, wo Angela Merkel das schwarze Loch der Union mit fehlender Zuständigkeit in Stoibers Kompetenzteam für Umweltfragen peinlich zu rechtfertigen suchte mit der lustigen Begründung, dafür brauche man niemanden, "weil das Chefsache ist", scheint die Union ihrem Chef in Ost-Kompetenz nicht mehr allein zu trauen.
Aufgeschreckt durch die steigenden Umfragewerte für die SPD in den neuen Ländern will die Unionsführung noch schnell einen so genannten Beraterkreis Ost für ihren Kanzlerkandidaten installieren. CSU-Generalsekretär Thomas Goppel kündigte zugleich eine Intensivierung des Wahlkampfes in den neuen Bundesländern an. Ihrem Wirtschaftsfachmann Lothar Späth könnte "die eine oder andere Erfahrungsergänzung" beigegeben werden, denkt Goppel. CDU und CSU hätten bereits eine zusätzliche Aufschwung-Ost-Tour mit Stoiber und Späth gestartet. Es gebe eben noch viele Vorbehalte in den neuen Ländern, räumte Goppel ein.
"Dann geht es ihnen schlecht..."
Die SPD liegt nach einer neuen Erhebung des Leipziger Instituts für Marktforschung in Ostdeutschland wieder vor der Union. Die Zahlen sind für alle dramatisch: 26 Prozent der Befragten in den neuen Bundesländern an gaben an, sie würden für die Sozialdemokraten stimmen. Gerade noch 21 Prozent entschieden sich für die Union, 14 Prozent für die PDS.
Wenn die Möglichkeit bestünde, den Kanzler direkt zu wählen, hätte Herausforderer Stoiber im Osten keine Chance. Fast jeder zweite Befragte (48 Prozent) votierte für den amtierenden Bundeskanzler Schröder. Für Stoiber entschieden sich nur schlappe 22 Prozent.
Die Parteien dürften nicht als reine West-Organisationen auftreten. "Dann geht es ihnen schlecht, so wie es den Grünen und der FDP ergangen ist", sagt der Potsdamer Dittberner. Die Grünen haben auch nach Einschätzung von Jung praktisch keine Chancen in den neuen Ländern. Deren Programm komme "aus einer relativ saturierten Wohlstandsgesellschaft". Die Bedürfnisse der breiten Masse im Osten seien jedoch stärker materiell orientiert. Die FDP könne sich dort dagegen noch als Protestpartei etablieren, wenn die Menschen mit der Politik der beiden großen Parteien unzufrieden seien. Das war bereits bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt in diesem Jahr zu spüren.
PDS als Steigbügelhalter des Kanzlers Stoiber
Einig waren sich die Wahlforscher auch darin, dass die PDS ihr Wählerpotenzial im Osten auf einem relativ hohen Niveau von 20 bis 22 Prozent ausgeschöpft hat. Doch aktuell könnte sie die "Gysi-Delle" entscheidende Punkte kosten, weil die Attraktion der PDS bei den Wechselwählern im Osten geschmälert sei, sagt Neugebauer.
Ironie des Schicksals: Der Osten könnte Stoibers Gesamtergebnis zwar mächtig schwächen. Aber wenn die PDS wegen ihrer aufkeimenden Ostschwäche nicht den Wiedereinzug ins Parlament schafft, ist es fast egal, wie stark die SPD dort vorne liegt. Eine fehlende PDS im Bundestag könnte zum Steigbügelhalter eines Kanzlers Stoiber: "Dann könnten die Wahlen für den Bundestag dieses Mal tatsächlich im Osten verloren werden", sagt Holtmann: "Dann gibt es eine schwarz-gelbe Mehrheit im Bund."
Spiegel