Angst vor der globalen Wirtschaftskrise: Erstmals seit einem Vierteljahrhundert stecken die drei größten Volkswirtschaften gleichzeitig fest. Aktienkurse stürzen, Umsätze schwinden, Schulden steigen. Die Schreckenszeichen ähneln sich, doch die Welt reagiert nicht. Amerika sucht Sündenböcke. Europa streitet übers Sparen. Und Japan hofft auf einen Elefanten
USA
Was ist bloß mit Mister Dollar passiert? Noch vor einem Jahr galt Alan Greenspan, der Chef der amerikanischen Notenbank, als unfehlbarer Guru der internationalen Finanzmärkte, als "größter Zentralbanker der Welt" (US-Senator Phil Gramm).
Vorbei. Nun wird die Fed mitverantwortlich gemacht für die Wirtschaftskrise und den größten Börsenexzess der Nachkriegszeit. Greenspan vor Gericht titelte die Financial Times. Der Notenbankchef habe nicht nur die Aktienblase missachtet, sondern sie durch sein Gerede vom Produktivitätswunder aufgebläht. Der britische Ökonom Marcus Miller von der Universität Warwick glaubt sogar, die Autoritätsperson Greenspan habe die hohen Aktienkurse erst ermöglicht. "Übertriebenes Vertrauen in die stabilisierenden Kräfte des Herrn Greenspan" habe die Anleger in Sicherheit gewiegt.
Vom Helden zum Sündenbock. Mit der Wirtschaft ist es eben wie beim Fußball: Droht einem erfolgsverwöhnten Land der Abstieg, suchen alle nach dem Schuldigen - und das, obwohl einige Kennzahlen der US-Ökonomie wieder nach oben zeigen. Sicher, das produzierende Gewerbe schwächelt, aber "der Handels- und Dienstleistungssektor hält die US-Wirtschaft auf den Beinen", so die Deutsche Bank. Das reale Bruttoinlandsprodukt ist über die vergangenen zwölf Monate um geschätzte drei Prozent gewachsen. Alan Greenspan spricht von der "Milde und Kürze" der Rezession.
Womit er Recht hat - wenn nur endlich der neue Aufschwung kommt. An der Wall Street aber diskutiert man lieber die Double-Dip-Prognose des Chefökonomen der Investmentbank Morgan Stanley, Stephen Roach. Der sagt seit langem voraus, die Wirtschaft werde in eine zweite Rezession abrutschen.
Cheerleader Greenspan hat da einen schweren Stand. "Er versucht, eine Panik zu verhindern", so Roger Kubarych, Berater der HypoVereinsbank in New York. Das Stimmungstief an den Märkten aber bleibt. Wer weiß schon, ob die US-Verbraucher weiter einkaufen? Der Westen den Irak angreift? Die bestreikten Häfen an der Westküste bald wieder öffnen? "Die Unsicherheit an den Märkten war seit 25 Jahren nicht so groß", sagt Tobias M. Levkovich, Chefstratege der Investmentbank Salomon Smith Barney.
In dieser Phase der Angst geben Kommentatoren die Schuld an der Krise denen, die sie noch nie leiden konnten. Zum Beispiel dem Regierungschef George W. Bush. In ihm sieht Al Gore die Ursache des Übels. Der unterlegene Präsidentschaftskandidat der Demokraten will sich als Stimme der Opposition profilieren. Starökonom Paul Krugman unterstützt ihn per Kolumne in der New York Times.
Kern der Kritik: Bush habe der kranken Wirtschaft mit Steuersenkungen geschadet. Der Großteil seines Programms komme reichen Amerikanern zugute. Besser, so der Vorwurf, hätte man das Geld für Arbeitslose und Arme ausgegeben. Zur Verteufelung Bushs reicht das nicht. Ohne die Geldspritze wären die Umsätze noch tiefer gesackt. Immerhin hat er schon 60 Milliarden Dollar zusätzlich in die Wirtschaft gepumpt.
Den Demokraten aber geht es kurz vor den Kongresswahlen nicht um die Wirtschaft, sondern um Wähler. Sie kritisieren Bushs Haushaltsdefizit, obwohl auch ihre Forderungen nach Konjunkturprogrammen die Schulden steigern würden. Die Regierenden im Weißen Haus verhalten sich ähnlich. Derzeit reden sie viel von der Nation und amerikanischen Werten, und entsprechend haben sie längst die Verursacher der Krise gefunden: erstens Osama bin Laden und zweitens Amerikas unmoralische Konzernchefs. Auch sie liegen nicht ganz falsch, aber trotzdem daneben. Zwar wirkt der Schock der Terroranschläge in Amerika immer noch in Form von höheren Sicherheitskosten nach. Aber die Krise hat tiefere Ursachen. Und die Skandale in Banken und Industrie haben zwar seit dem Frühling der Börse zugesetzt, wichtiger aber war der Zusammenbruch der New Economy.
So verheddert sich die Suche nach den Ursachen der Wirtschaftsschwäche im Gestrüpp von Interessen und Ideologien. Vor allem, wenn man nach dem Retter fragt. Den sehen einige Finanzinstitute und Anleger ausgerechnet in dem Mann, dem sie angeblich die ganze Misere zu verdanken haben: Alan Greenspan. "Enttäuschung am Aktienmarkt" meldete Business Week, als das Notenbankkomitee bei seinem jüngsten Treffen die Zinsen unverändert bei 1,75 Prozent beließ. "Investoren hatten Hoffnungen, dass die Notenbank sich ihrer erbarmen würde."
Doch Alan Greenspan, der "Mann hinter dem Geld" (so sein Biograf Justin Martin), kann im Augenblick wenig ausrichten. Die Inflation eingerechnet, liegen die Zinsen schon etwa bei null. Ökonomen befürchten eine Deflation nach japanischem Muster. Aber Washington muss nun erst einmal eine Wahl hinter sich bringen.
EU
Am vergangenen Dienstag platzte Karl-Heinz Grasser der Kragen. "Der französische Vorschlag ist nichts als eine Provokation", polterte Österreichs Finanzminister beim Gipfel mit seinen europäischen Kollegen im Luxemburger Ratsgebäude. Frankreich sei mit seinem Haushaltsentwurf auf dem Weg zurück in eine "alte Finanzpolitik" und habe schleunigst einen blauen Brief verdient: "Wir können doch nicht den Stabilitätspakt ändern, nur weil vier Länder Probleme damit haben."
Zwar bedrohen Rezessionsängste und Konsumflaute, Arbeitslosigkeit und Börsencrash die Europäische Union. Aber wie tief die Krise ist, wie man die Folgen bekämpfen und wie eine koordinierte Wirtschafts- und Finanzpolitik aussehen könnte - darüber laufen die Meinungen weit auseinander. Einig sind sich die Europäer bloß in ihrer Uneinigkeit. Die Grundlage ihrer gemeinsamen Währung, der Stabilitätspakt, ist bedroht.
Im Grunde sucht man nach Antworten auf zwei Fragen: Wie tauglich ist der Stabilitätspakt in einer Rezession? Und: Macht die Europäische Zentralbank (EZB) die richtige Zinspolitik?
Zuletzt hat die EZB im November 2001 die Zinsen gesenkt. Seither sträubt sich EZB-Chef Wim Duisenberg, wie sein amerikanischer Kollege Alan Greenspan mit weiteren Zinssenkungen die Konjunktur anzukurbeln. Oberstes Ziel der europäischen Währungshüter ist die Bekämpfung der Inflation. "Das Hauptproblem, das sowohl die Euro-Zone als auch die US-Wirtschaft plagt", so Duisenberg am vergangenen Dienstag, "ist nicht das Zinsniveau, sondern der Mangel an Vertrauen in diese Volkswirtschaften." In erheblichem Ausmaß dürfte er die Zinsen also frühestens zum Jahresende senken. Das Problem dabei: Wenn die Geldpolitik ruht, steigt der Druck auf die nationalen Regierungen, selbst etwas für die Konjunktur zu tun - und noch mehr Geld auszugeben.
Seit klar ist, dass mit Deutschland, Frankreich und Italien ausgerechnet die großen Volkswirtschaften das Sparziel des Stabilitätspaktes nicht erreichen könnten, wird in Europa über den Umgang mit dem Pakt gestritten. Ende September drehte die EU-Kommission bei. Sie verschob das Datum, an dem die nationalen Haushalte ausgeglichen sein müssen, von 2004 auf 2006.
Zu wenig für Frankreich: Die konservative Regierung unter Jean-Pierre Raffarin verstößt bewusst gegen die Gemeinschaftsregeln - auch wenn der Premierminister erklärt, er stehe "treu zum Stabilitätspakt". Die französische Wachstumsprognose ist nur Wunschdenken. Statt 2,1 Prozent ist höchstens ein Prozent Zuwachs wahrscheinlich. Dann aber wird es nahezu unmöglich, das Loch im Haushalt unterhalb der magischen Grenze von drei Prozent des Sozialprodukts zu halten.
Da Paris sich weigert, bis 2006 einen ausgeglichenen Haushalt auch nur anzupeilen, wird es zum Agent provocateur. Warum nicht die Verteidigungsausgaben aus der Defizitrechnung raushalten, tönt es nun noch von den Franzosen. Tatsächlich treibt sie mehr an als Lust am Protest. Anders als in Deutschland haben an der Seine einige Keynesianer überwintert, und die wittern Morgenluft. Sie halten den Stabilitätspakt für unflexibel. Er sei Ausdruck eines neoliberalen Weltbildes und verbiete nötige Staatsausgaben zum Ankurbeln der Konjunktur, wie sie der britische Ökonom John Maynard Keynes für Zeiten drohender Depression vorsah.
Mit ihrer Rückkehr zu Keynes machen die Franzosen die kleinen Partnerländer wütend. Die meisten haben sich das - einst deutsche - Plädoyer fürs Sparen zu Eigen gemacht und im Aufschwung gezeigt, wie das in Europa geht. "Dass höhere Haushaltsdefizite für Wachstum nötig seien, ist ein Irrglaube", sagt der Österreicher Grasser jetzt. "Jede Veränderung der bestehenden Regeln würde die Glaubwürdigkeit des Euro auf den internationalen Märkten untergraben", warnte selbst Spaniens Ministerpräsident Aznar vor dem Treffen der Finanzminister. Und sein Land ist groß.
Genutzt hat's wenig. In Luxemburg schossen die Finanzminister Schlupflöcher in den Pakt. Statt 2004 oder 2006 als Stichdatum für ausgeglichene Haushalte festzuzurren, soll nun im Frühjahr mit jedem Land einzeln ein Datum ausgehandelt werden. Die Sparanstrengung soll nurmehr am jährlichen Sinken des so genannten strukturellen Defizits um 0,5 Prozent des Sozialproduktes gemessen werden - eine Größe, mit der selbst der deutsche Finanzstaatssekretär Caio Koch-Weser wenig anfangen kann. Auf Fragen nach der Höhe des deutschen strukturellen Defizits sagte er: "Gute Frage."
Das einzige sichere Signal des Gipfels fasste der holländische Finanzminister Hans Hoogervorst zusammen: "Vielleicht ist es ja gut, dass wir jetzt so offen fechten."
Japan
Japan ist der chronisch Kranke der Weltwirtschaft. Die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Erde krankt noch immer an den größten Vermögensverlusten seit der Depression von 1929. Anfang der Neunziger platzte in Tokyo eine riesige Immobilien- und Aktienspekulationsblase, seitdem folgt eine Rezession nach der anderen. So lange währt die Krise schon, dass es kaum noch unterschiedliche Meinungen über ihre Ursache gibt. Gigantische Schulden lähmen das Finanzsystem in einem Maß, dass auch die Niedrigzinspolitik der Zentralbank keine Linderung bringt. Die Banken verzichten auf die schnelle Tilgung der Schulden, weil sie eng mit den verschuldeten Konzernen verflochten sind. Dafür zögern sie bei der Vergabe neuer Kredite. Was wiederum Investitionen und Wachstum bremst.
Warum findet das einst so leistungsstarke Land kein Heilmittel gegen seine Probleme, die doch allen bekannt sind?
Das Besondere an der japanischen Krise ist ihre leichte Verträglichkeit für den Bürger: "Goldene Rezession" nennen die Japaner das Phänomen. Die Verbraucherpreise sind schneller gefallen als die Löhne, sodass sich viele Japaner reicher fühlen. Der Regierung gelang es, die Arbeitslosigkeit mit Konjunkturprogrammen künstlich niedrig zu halten. Da zudem wenige Japaner privat in Aktien investieren, traf der Börseneinbruch vor allem Banken und institutionelle Anleger.
So bleibt der Leidensdruck gering, und die Regierung kann die Probleme ignorieren, ohne den Wähler fürchten zu müssen. Im September reichte Premierminister Junichiro Koizumi ein erfolgreicher Besuch beim nordkoreanischen Diktator Kim Jong Il, um seinen gesunkenen Beliebtheitswert auf stolze 70 Prozent hochzuschrauben. Zwar blieb der Premier seit seinem Amtsantritt vor 18 Monaten wirtschaftspolitisch weitgehend erfolglos, aber für die Bürger gibt es Wichtigeres als Wachstumszahlen: Als der französische Luxusartikelhersteller Louis Vuitton kürzlich eine Filiale in Tokyo eröffnete, standen Tausende Japaner zwei Tage lang bis zu zwei Kilometer Schlange.
"Das Land ist einfach zu reich", sagt Jesper Koll, Chefvolkswirt der US-Bank Merrill Lynch in Japan, der ausgerechnet hat, dass die Vermögensverluste seit 1990 dem Land nominal mehr Schaden zufügten als der Zweite Weltkrieg - ohne neuen Leistungswillen hervorzurufen. Und doch kündigt sich nun die Wende an: Auf Druck der anderen Industrienationen will der selbst ernannte Reformer Koizumi jetzt seine Versprechen halten.
Der Premier beförderte seinen Wirtschaftsberater, den ehemaligen Harvard-Professor Heizo Takenaka, zum Superminister. Dem 51-jährigen Takenaka werden neben dem Wirtschaftsministerium nun auch die Finanzaufsichtsbehörde und die Regierungkommissionen für Wirtschafts- und Finanzreformen unterstellt. Der japanische Clement gilt als der Mann mit den radikalsten Ideen im Koizumi-Team: "Ohne Schmerzen führt kein Weg aus der Krise" ist seine Devise. Zumindest die Börse fürchtet schon die bittere Medizin. Auf 8700 Zähler, den tiefsten Stand seit 19 Jahren, fiel der Tokyoter Nikkei-Index Anfang dieser Woche. "Der Elefant hat den Porzellanladen betreten", sagt Jean-Pascal Rolandez, Aktienanalyst der französischen Bank BNP Paribas in Tokyo.
Und der Elefant hat klare Vorstellungen, wie man den Laden aufräumt. Takenaka will den Banken auf den Leib rücken. Die Kredite sollen nach strengen Regeln klassifiziert werden, um sowohl den wahren Notstand der Geldhäuser aufzudecken als auch die größten Schuldner bloßzustellen. Erste Opfer seiner Politik sollen die "dreckigen Dreißig" werden. 30 Unternehmen der Bau- und Einzelhandelsbranche bilden nach Meinung Takenakas den Herd der Schuldenkrankheit. Nur deren Bankrott zwinge die Banken zu einer anderen Geschäftspraxis. Dann wäre Takenaka auch bereit, mit Staatsgeld den Banken Kapital zu verschaffen.
Nach Jahren der Untätigkeit klingt dieser Plan zwar vielversprechend, hat aber erst einmal wenig Chancen. Die "dreckigen Dreißig" wären längst untergegangen, verfügten sie nicht über Fürsprecher in der regierenden Liberaldemokratischen Partei (LDP). Zudem muss Koizumi den Takenaka-Plan mit Steuersenkungen und anderen Maßnahmen zur Belebung der Wirtschaft flankieren. Dafür braucht er die Unterstützung der gesamten Partei. An den Kämpfen innerhalb der LDP aber ist seit 1990 noch jeder Reformer gescheitert.
Aus langen Krisen kommt auch eine moderne Volkswirtschaft nur langsam heraus. Erfolg oder Misserfolg der japanischen Reformer bedeutet für die Welt zunächst dasselbe: Das Inselreich wird Europa und Amerika nicht beleben, sondern belasten. Gehen die Japaner ihre Finanzkrise ernsthaft an, werden sie die wirtschaftlichen Probleme erst einmal vergrößern - deswegen ist die Situation ja so verfahren. Trotzdem kann Japan der Welt helfen: als warnendes Beispiel.
Die Zeit