Leo Kirch steht vor dem Nichts. Nach fast 50 Jahren verliert der Medienmogul sein
Lebenswerk, weil der bodenständige Franke nie den Schritt zum Konzernchef
vollzogen hat - und den falschen Leuten vertraute.
Leo Kirch knipst das Licht aus. Leise verlässt er sein Büro. Es ist
spät geworden. Wieder einmal verlässt er als einer der Letzten
die Zentrale seines Medienkonzerns, das weiße, sterile Gebäude
im Münchner Vorort Ismaning, gegenüber einer Schreinerei und
einem Bauernhof.
Draußen wartet ein Fahrer mit dem Firmen-Audi. Kirch lässt sich
nicht aus Statusgründen chauffieren, er muss. Die schwere
Diabetes, an der er seit Jahrzehnten leidet, hat vor allem sein
Augenlicht angegriffen. Seitdem kann der 75-Jährige noch nicht mal seine eigenen Filme
sehen. Jetzt gehören sie ihm eh bald nicht mehr.
Vorbei an Rübenfeldern und hässlichen Industriebauten fährt der Wagen mit Kirch Richtung
Innenstadt, mitten durch Unterföhring. Hier sitzen Premiere, Pro Sieben, Kabel 1, die Pro
Sieben Sat 1 Media AG, Beta Digital und zahlreiche andere Kirch-Firmen. Auch das
berühmt-berüchtigte Filmlager ist hier. Wohltemperiert, bei zwölf Grad Celsius.
Unterföhring ist "Kirch Village". Selbst ein Weg ist nach einer Kirch-Firma benannt: die
Betastraße. Die Hälfte der Firmengebäude gehört hier direkt oder indirekt dem Münchner
Medienmogul. Gehörte.
Als Leo Kirch vergangene Woche immer wieder spätnachts nach Feierabend an seinem
Fernseh-Satellitendorf vorbeigefahren ist, wusste er schon, was alle anderen noch nicht
glauben konnten: Dieses Reich wird bald anderen gehören - den Banken und Murdoch,
den Hollywood-Studios und Berlusconi. Aktionären an der Börse, die er so hasst. Denn Leo
Kirch war ein Unternehmer vom alten Schlag. Und dürfte sich jetzt sagen: Hätte ich es
doch bleiben können. Denn schief gegangene Abenteuer in der modernen Medienwelt
waren es, die ihn jetzt den Kopf kosten.
Strenge Diät, null Protz
Der Wagen fuhr stets weiter in Richtung Herzogpark, wo die Kirchs wohnen. Auch dort
zeigt sich die Eigenart Kirchs, die Mischung aus Machtmensch und bodenständigem
Unternehmer: Zwar wohnen die Kirchs in einer noblen Gegend, für seine Mittel haust der
Medienzar jedoch bescheiden. Keine Spur von demonstrativer Protzigkeit, wie sie
beispielsweise Kirchs einstiger Mitarbeiter Thomas Haffa pflegt, der zu Fall gekommene
Shootingstar von EM.TV. Haffa wohnt in einem Prachtbau, Kirch in einer kleinen Villa.
Eine Etage reichen ihm und seiner Frau Ruth. Seit 49 Jahren ist er mit ihr verheiratet. Sie
hat ihn gepflegt, als er vor zwei Jahren eine schwere Herzoperation hatte. Sie berät ihn
bei seiner strengen Diät. "Ohne die Ruth würde es den Leo schon lange nicht mehr
geben", sagt ein enger Vertrauter. Auch sie ahnte wohl schon seit rund 14 Tagen, dass
Kirch bald nicht mehr Kirch gehört. Dass es nach 48 Jahren Aufbauarbeit plötzlich heißen
wird: Das war’s.
Was für das Ehepaar Kirch schon seit einigen Tagen klar ist, macht die meisten in der
Branche fassungslos bei dem Gedanken, dass es schon bald eine Fernsehlandschaft ohne
das Schwergewicht Kirch geben könnte. Ohne Kirch, den Visionär. Jenen Mann, der sich in
der Öffentlichkeit so gerne rar gemacht hat und von dem doch jeder wusste, dass er das
Geschäft mit Filmrechten in Deutschland erfunden hat. Was alte Kirch-Kenner allerdings
noch vielmehr verwundert, ist die Frage: Wie konnte er es so weit kommen lassen?
Ausgerechnet Kirch, der studierte Mathematiker, der immer alle Zahlen im Kopf hatte statt
in der Aktentasche; der bis heute jeden Deal auswendig rezitieren kann und damit
regelmäßig seine Gegenüber verblüfft. "Für mich war es lange Zeit unerklärlich, wieso
dieser beste Unternehmer, den ich in der Medienbranche kannte, sich dermaßen
übernimmt", sagt ein früherer Berater kopfschüttelnd.
Spieler ohne Geld
Na gut, Kirch war schon immer ein Spieler. Und er hatte nie Geld. Seit seinem Beginn im
Jahre 1954 musste er sich von den Banken Geld pumpen, um seine Visionen vom
lukrativen Filmhandel zu verwirklichen. Doch es ist ein Unterschied, ob ein kleiner
Filmkaufmann, der gerade mal ein paar Leute anstellt, alles aufs Spiel setzt, oder ein
Mann, der 10.000 Menschen beschäftigte. Kirch, so viel ist gewiss, hat den Übergang vom
mittelständischen Firmenpatriarchen zum Konzernherrn geistig niemals vollzogen. Ein
Freund des Hauses zog einst einen Vergleich zu Mario Puzos Bestseller "Der Pate", um die
eigenartigen Mechanismen der Kirch-Gruppe zu beschreiben: Loyalität ging über alles, und
Charisma war der Kitt, mit dem Kirch seine Mitarbeiter ein Leben lang an sich zu binden
wusste.
Doch Leo Kirch war nicht dumm. Er wusste, dass er als Mitglied der so genannten
Gründergeneration einer aussterbenden Gattung angehörte. Er wusste, dass sich die
Kirch-Gruppe einer Rundumerneuerung stellen musste, um für das 21. Jahrhundert
gerüstet zu sein. Kirch, der Dunkelmann, war bereit, Licht in seine Geschäfte kommen zu
lassen, wenngleich zögerlich. Er selbst wollte sich weiterhin aus dem Scheinwerferlicht
halten, aber einen anderen ließ er sich darin sonnen: Dieter Hahn.
Ausnahmetalent Hahn
Als der bullige, blonde Hahn vor zehn Jahren zu Kirch kam, war er gerade 32 Jahre alt.
Kirchs Anwalt Ronald Frohne hatte den studierten Juristen als Ausnahmetalent empfohlen.
Kirch setzte ihn auf den Chefsessel des Deutschen Sportfernsehens. Hahn gehörte zu
jenen, die "nicht gleich Panik bekamen, wenn sie keinen Waschzettel von Kirch hatten und
nicht wussten, was der Meister wollte", wie es ein Vertrauter ausdrückt. "Er konnte Kirch
lesen und traute sich Sachen, die andere nie gewagt hätten."
Im Frühjahr 1996 traute er sich sogar, bei der Fifa für die weltweiten Übertragungsrechte
der Fußball-WMs 2002 und 2006 mitzubieten und bekam den Zuschlag. Es war der erste
Milliardendeal des Dieter Hahn, und es sollte sein einzig lukrativer bleiben.
Für Sport nicht allzu viel übrig
Leo Kirch selbst, ein Freund der klassischen Musik und der bildenden Künste, hat für Sport
nicht allzu viel übrig. Er liebt sein Produkt Film, das runde Leder lässt ihn ziemlich kalt.
Bestechend fand er jedoch die Argumentation des jungen Hahn: Der Sportrechte-Handel
würde in Zukunft ebenso boomen wie das Geschäft mit Spielfilmrechten. Kirch möge sich
nur die Einschaltquoten im TV ansehen. Diese Sportverbände hätten gar nicht realisiert,
auf welchen Werten sie saßen.
Kirch war überzeugt. Und von Hahn so beeindruckt, dass er ihn nach dem WM-Deal direkt
in die Geschäftsführung der Kirch-Gruppe holte. Dort war der junge Kronprinz für
Kommunikation und Strategie verantwortlich. Sein Credo: Kirch für die Börse rüsten.
Leo dachte strategisch
Börse? Kirch hasste das ganze Klimbim rund um Quartalszahlen und Analysten mit ihren
kurzlebigen Statements. Leo dachte langfristig. Als Georg Kofler 1997 die
Pro-Sieben-Gruppe an die Börse brachte, musste der quirlige Südtiroler noch heftig gegen
den Widerstand des Filmpaten ankämpfen. Doch mit zunehmender Zeit wurde dieser
unsicher. War seine Abneigung vor dem Parkett wirklich gerechtfertigt? Oder
anachronistisch in einer modernen Medienwelt?
"Leo Kirch hat beeindruckt, was Thomas Haffa mit seinem Verkaufstalent schaffte",
erinnert sich ein Manager bei Kirch. Als die Blase EM.TV platzte, waren für die Kirch-Gruppe
die Weichen für den Börsengang bereits gestellt. Mit feurigen Versprechungen hatte Dieter
Hahn während der Boom-Zeit für dreistellige Millionenbeträge kleine Häppchen des
Kirch-Imperiums an Investoren verteilt. Sein Köder für die Investoren war der Gang aufs
Parkett: Wenn EM.TV schon so viel wert sei, wie viel dann erst Kirch, so das Argument
Hahns. Und das Beste kam zum Schluss: Ohne Börse - Geld zurück.
Mit solchen Ausstiegsoptionen ging Hahn sehr locker um. Springer wurde im Zuge der
Fusionsverhandlungen zwischen der Pro-Sieben-Gruppe und Sat 1 (wo Springer
Großaktionär war) ein Ausstiegsrecht eingeräumt, ebenso Murdoch bei seinem Einstieg in
Premiere.
Kein Geld, viel Glauben
Nur dadurch konnte Leo Kirch in den vergangenen drei Jahren Milliarden Investorengeld
verprassen - das er heute zurückzahlen müsste. Sein Reich wurde auf Pump vergrößert.
Kirch, der bislang in seiner Karriere jeden Pfennig von den Banken erbetteln musste, war
sich dessen bestimmt bewusst. Trotzdem ließ er Dieter Hahn gewähren, der immer weiter
Baustellen öffnete, anstatt sie zu schließen. Kauf der Fußball-Bundesliga: 1,5 Mrd. Euro.
Einstieg beim Formel-1-Veranstalter: 1,55 Mrd. $.
Mittlerweile ist Kirch aufgewacht - doch zu spät. Er hat bemerkt, dass er auf den falschen
Mann gesetzt hat, dass der widerwillige Sprung zum modernen Unternehmen, zum
börsennotierten Konzern, ihm, dem Haudegen alter Schule, prompt den Kopf gekostet hat.
Zu spät aufgewacht
Trotzdem käme Kirch niemals auf die Idee, Dieter Hahn demonstrativ zu feuern, um das
Vertrauen der Banken zurückzugewinnen. Hahn war sein auserkorener Nachfolger, sein
Firmen-Sohn. Niemals würde er ihm gegenüber illoyal werden. Dazu steht Kirch zu sehr zu
seiner eigenen Verantwortung - er ist ein streng gläubiger Katholik. Der bodenständige
Franke würde andere nie verraten. Lieber hofft er darauf, auch mit 75 Jahren noch eine
zweite Chance zu bekommen.
Er gibt sich weder wütend noch bitter, noch frustriert. Im Gegenteil: Als er jüngst zur
Abschieds-Party von ZDF-Chef Dieter Stolte nach Mainz kam, gab er sich in bester
Plauderlaune. "Er wirkt, als wäre er gerade vom Urlaub gekommen", sagte ein Teilnehmer
des Festes. "Der Leo wird bei einem Austritt aus der Kirch-Gruppe gleich am nächsten Tag
was Neues anfangen", prophezeit ein Kenner und fügt hinzu: "Der kann gar nicht anders.
Wenn er sich jetzt zur Ruhe setzt, würde er seinen 76. Geburtstag nicht mehr erleben."
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