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Für Zehntausende Flüchtlinge ist die drittgrößte Insel Griechenlands das Tor zu Europa. Dort sieht man, was die EU erwartet, falls der griechische Staat zusammenbricht.
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Es sind junge Männer aus Somalia, Afghanistan und dem Punjab, Familien aus Bangladesh, Syrien, dem Irak. Wo sie herkommen, bedeuten Krisen nicht Kapitalverkehrskontrollen oder Mindestlohnsenkungen, sondern Hunger, Folter, Sklaverei, Massengrab. ....
Längst kommen die Flüchtlingsboote auch tagsüber. Dann prallen zwei Welten aufeinander. Eben noch baute die nordeuropäische Kleinfamilie eine feste Burg aus Mittelmeerstrandsand, da brechen ausgezehrte Bürgerkriegsflüchtlinge in die Pauschalurlaubsidylle ein. Das hassen die Tourismusunternehmer....
„Die Betreiber von Kreuzfahrtschiffen beschweren sich darüber, dass die Flüchtlinge direkt am Hafen sind. Die drohen wirklich, dass sie nicht mehr kommen werden. Wenn ein Tourist vom Schiff geht, um einen Spaziergang zu machen, sind die Flüchtlinge das Erste, was er sieht.“...
...Tatsächlich ist Lesbos Brennpunkt einer Völkerwanderung, wie sie Europa seit dem Zweiten Weltkrieg und seinen Nachbeben nicht mehr erlebt hat. Die großen europäischen Flüchtlingsströme der neunziger Jahre, als Menschen aus Jugoslawien dem Terror ihrer zerfallenden Heimat entflohen, werden im Vergleich dazu bald wie ein Rinnsal wirken. Jugoslawien hatte 22 Millionen Einwohner, als es versank. In den Staaten, aus denen heute Flüchtlinge nach Westeuropa kommen, leben mehr als eine halbe Milliarde Menschen. Das Reservoir ist unerschöpflich.
„Gestern sind 1000 Flüchtlinge gekommen, für die nächsten Tage erwarten wir ähnliche Zahlen“, sagt die Präfektin. Das ist wenig für Europa, aber viel für die 90.000 Lesbier auf ihrer Insel am Rande Europas...
„Allein in der vergangenen Woche sind 2500 Flüchtlinge auf Lesbos angekommen. Unsere Küstenwache kann aber in ihrer jetzigen Besetzung höchstens 250 Personen am Tag erfassen. Außerdem gibt es nicht genügend Plätze auf den Fähren.“ Zur Hochsaison, wenn auch viele Touristen mit den Schiffen reisen, werde alles noch schwieriger werden, befürchtet der Bürgermeister
Offiziell dürfen die Einwanderer nämlich erst weiterreisen, nachdem sie auf diese Weise registriert wurden....Ein Wirt am Hafen von Mytilini behauptet, viele Flüchtlinge gelangten nach Athen, ohne registriert zu werden. Es gebe nämlich „Helfer“ im Hafen, die gegen „Gebühr“ eine Überfahrt ohne Papiere arrangierten. Ist das Tavernengeschwätz oder Tatsache?
..„Leute, die ein Boot haben“, sind in der Sprache der Flüchtlinge Menschen, die in westlichen Medien oft als „Menschenschmuggler“ auftauchen. Babak sagt nichts Schlechtes über sie. Ein Freund, der es schon nach Deutschland geschafft hat, hatte ihm über den Internet-Dienst Viber die Telefonnummer von einem Afghanen in Istanbul geschickt, der gegen Gebühr Kontakt herstellt zu einem Mann, der einen Mann kennt, „der ein Boot hat“. In Babaks Erzählungen wimmelt es von Mittelsmännern und Menschen, die einen kennen, der jemanden kennt....
Die Flucht nach Europa besteht aus vielen kleinen Etappen, und jede beginnt mit einem neuen Führer. Einer dieser Vermittler hat Babak und etwa 20 andere mit einem Bus in eine türkische Küstenstadt gebracht, deren Namen er nicht kennt. Dort mussten sie zwei Tage in einer Pension ausharren, stets zum sofortigen Aufbruch bereit.
Dann, kurz nach vier am Morgen, kam ein Mann und sagte, das Boot sei jetzt da. Als sie am Strand ankamen, dämmerte schon der Morgen. Er habe befürchtet, noch einen weiteren Tag warten zu müssen, sagt Babak. „Ich dachte, tagsüber fahren sie nicht, wegen der türkischen Polizei.“ Aber die Fahrt fand mitten am Tage statt, und niemand hielt ihr Boot auf. Es war ein Steuermann dabei, ein Türke, der ihnen einschärfte: „Wenn in Griechenland die Polizei kommt, dann bin ich einer von euch.“ Aber die Polizei kam nicht.
Lesbos ist eine große Insel, sie steuerten einen einsamen Küstenstrich an. Die letzten Meter mussten sie durch das Meer waten. Die Männer hielten ihre Kinder hoch oder ihre Rucksäcke, wenn Tablets und Mobiltelefone drin waren. Babak hat 800 Dollar gezahlt für die Überfahrt nach Lesbos. Das sei in Ordnung, findet er. Syrer zahlen für die knappe Stunde von der türkischen zur griechischen Küste zwischen 1000 und 1500 Dollar. „Aber Syrer sind auch reich, die können sich das leisten.“
Aus Syrien fliehen nicht nur die Ärmsten der Armen, sondern auch Menschen, denen man ansieht, dass sie ein gutes Leben geführt haben, bevor der Krieg sich auf sie stürzte. Sie leben in Mytilini nicht auf der Straße, sondern mieten sich in Hotels ein, man sieht sie auch in den Tavernen, die Damen in eleganten Schuhen und mit teuren Sonnenbrillen, lässig über die Kopftücher gesteckt. Sie haben sich nicht mit dem Pöbel aus Südostasien und Afrika in ein Gummiboot pferchen lassen, sondern in der Türkei ein Boot mit Steuermann gemietet. „Die Leute, die ein Boot haben“, sind flexibel, ihre Branche kann viele Wünsche erfüllen, die freie Marktwirtschaft macht es möglich.
Wer das Geld hat, kann eine Luxusflucht buchen, Getränke und belegte Brötchen während der Überfahrt inklusive. Die Besitzerin des Vodafone-Geschäfts von Mytilini verdankt den reichen Syrern sogar ein gutes Geschäft mitten in der griechischen Krise. Kaum auf der Insel angekommen, kaufen sie nämlich ein Tablet und ein Smartphone.
Das ist freilich eine kleine Minderheit, der Adel der Entwurzelten. Die meisten Flüchtlinge sind nicht reich. Babak hat noch 1000 Euro, das muss bis Deutschland reichen. .....