DER MARKT-FORSCHER
Das torkelnde Meilen-Monster
Von Thomas HillenbrandEine neue Währungs-Krise könnte schon bald die Ersparnisse von Millionen Menschen ruinieren. Misswirtschaft und verantwortungslose Manager drohen das zweitwichtigste Zahlungsmittel der Welt zu entwerten. Nein, die Rede ist nicht vom Euro - sondern von Vielfliegermeilen.Hamburg - Dass sich Altbundeskanzler Helmut Kohl während seiner Amtszeit nicht gerade als Wirtschafts-Experte profiliert hat, ist bekannt. Dazugelernt hat er offenbar bis heute noch nicht. Jüngster Beweis sind seine Einlassungen in der Tageszeitung "Die Welt". Dort schrieb Kohl vergangenen Mittwoch, der Euro werde sich "nach dem Dollar und vor dem Yen zur wichtigsten Währung der Welt entwickeln".
Der Mann liegt wieder einmal ziemlich daneben. Denn während der Euro noch nicht richtig Fuß gefasst hat, steht eine andere Währung kurz davor, dem Dollar den Rang abzulaufen. Die Rede ist von Bonusmeilen, die Fluggesellschaften ihren Kunden im Rahmen von Vielfliegerprogrammen gutschreiben. Geschätzte hundert Millionen Menschen haben sich inzwischen 8,5 Billionen (8.500.000.000.000) Meilen erflogen und diese auf ihren Konten gebunkert.
Die Meilen haben sich zu einer universellen Währung entwickelt. Wenn amerikanische Anwälte bei Scheidungen das Vermögen der Ehepartner schätzen, berücksichtigen sie den Wert der Meilenkontos. Nach Todesfällen streiten sich die Erben um die wertvollen Prämienpunkte. Der geschätzte Gesamtwert der zurzeit ausstehenden Meilen beträgt laut "Economist" 550 Milliarden Euro - das entspricht etwa dem dreieinhalbfachen Bargeldumlauf in der Eurozone. Den Dollar dürfte die neue Weltwährung in etwa zwei Jahren eingeholt haben.
Die Lira der LüfteWie konnte aus einer Idee, die die Fluggesellschaft American Airlines vor 21 Jahren als Marketing-Gag konzipiert hatte, solch ein Moloch werden? Ursprünglich wollten die Fluggesellschaften mit ihren Programmen die Kundenbindung erhöhen. Dieser Aspekt ist inzwischen allerdings ins Hintertreffen geraten. Als viel lukrativer erweist es sich für die Airlines, ihre Meilen an Kreditkartenfirmen, Hotelketten und andere Unternehmen zu verkaufen. Diese verwenden die Meilen aus Programmen wie AAdvantage (American) oder Miles & More (Lufthansa) dann als universelles Rabattmarkensystem. Dabei stellt sich mit der Zeit ein so genannter Netzwerkeffekt ein: Je mehr Unternehmen an einem Meilenprogramm teilnehmen, desto attraktiver wird es.
Längst muss man nicht einmal mehr fliegen, um Vielflieger-Punkte zu sammeln. Um bei American einen Flug von New York nach Hawaii (25.000 Meilen) zu bekommen, kann man zum Beispiel 250 Familienpackungen Kellogg's Cornflakes (je 100 Meilen) löffeln oder 5000 Schachteln Marlboro (je fünf Punkte) rauchen. Das ergänzt sich hervorragend, denn nach solch übermäßigem Konsum hat man ohnehin etwas Bewegung und frische Seeluft nötig.
Wer soll die alle abfliegen?Leider hat die neue Super-Währung einen Schönheitsfehler: Die Zentralbanker, sprich die Airline- Manager, haben die Notenpresse besinnungslos laufen lassen - von einer sorgsamen Überwachung der Geldmenge keine Spur! Die Zahl der ausstehenden Meilen hat sich in den vergangenen fünf Jahren verdoppelt. 2001 erflogen sich die Kunden außerdem viermal so viele Meilen, wie sie ausgaben.
Selbst wenn die Fluggesellschaften keine Meilen mehr unters Volk brächten, dauerte es rein rechnerisch noch dreiundzwanzig Jahre, bis die Kunden ihre prall gefüllten Konten abgeflogen hätten. Vorausgesetzt, die Vielflieger würden nach wie vor ihre Meilen so zögerlich einlösen wie bisher. Bei einer normalen Währung würde solch ein rapides Geldmengenwachstum zu einer mehrstelligen Inflation führen, eine Abwertung wäre unvermeidlich. Auch den Airlines droht ein Debakel: Sie haben mehr Meilen ausgegeben, als durch die verfügbaren Sitze gedeckt sind.
Ein Versuch, diesem Problem zu begegnen, sind Prämien mit Bodenhaftung. So bietet etwa die Lufthansa in ihrem neuen Prämienkatalog auf 71 Seiten Hotelaufenthalte, Zeitungsabos, Strandurlaube und sogar Bahnfahrten an. Letzteres ist verräterisch: Wenn man seiner Kundschaft das Produkt des Erzkonkurrenten anbietet, auf dass sie bloß das eigene nicht benutze, läuft offensichtlich etwas grundverkehrt.
Von Erfolg ist diese Ausweichstrategie bisher nicht gekrönt. Weltweit werden immer noch 97 Prozent aller Meilen in Flugtickets umgewandelt. Was ist der Ausweg aus der Misere? Theoretisch könnten die Fluglinien die Druckpresse einfach anhalten. Die Lufthansa behält sich beispielsweise laut Kleingedrucktem "das Recht vor, das Miles & More Vielfliegerprogramm jederzeit zu beenden". Des Weiteren ließen sich die Bedingungen erschweren, zu denen ein Freiflug möglich ist ("immer mittwochs, ab 17 Uhr auf der Strecke Düsseldorf- München, an ungeraden Tagen, wenn Plätze frei"). So könnte sich die Branche aus der Affäre ziehen.
Wie in einem Land, dessen Politiker die Währung durch lausige Politik ruinieren, wird es auch bei den Bonusmeilen jene treffen, die ihr sauer Erflogenes sicher auf dem Konto glauben. Plötzlich galoppiert die Inflation und aus dem Freiflug Hamburg-Sydney wird über Nacht Lübeck-Hahn. Oder gar ein Schnupperabo für ein Reisemagazin.
Alles buchet, rettet, fliegetWie wird man also die ganzen Meilen zügig los, bevor sie nichts mehr wert sind? Grundsätzlich bieten sich Ihnen drei Möglichkeiten:
- Erstens: Tun sie mal was Gutes. Erkundigen sie sich, ob ihre Fluglinie eine mildtätige Ader hat. Wie etwa der US-Carrier Delta, bei dem man seine überschüssigen Meilen für wohltätige Zwecke spenden kann, nach dem Motto: "Turn miles into smiles".
- Zweitens: Verbraten sie alles auf einmal. Die teuerste Prämie, die es derzeit gibt, ist der Weltraumflug, den US-Airways in Zusammenarbeit mit SpaceAdventures anbietet. Für nur 10 Millionen Bonusmeilen werden sie per Iljuschin-Rakete ins All geschossen und dürfen dort dreißig Sekunden in der Schwerelosigkeit verbringen - regulärer Preis für den Ausflug: 98.000 Dollar.
- Drittens: Machen sie es wie bei einer richtigen Währungskrise - stürmen sie panisch zum nächsten Schalter und heben sie alles ab. Lösen sie mehrere dutzend Tickets auf einmal. Bedrohen sie falls nötig das Personal, bis ihre Forderungen erfüllt werden. Die Destination ist Nebensache, Hauptsache Flugschein: Was man hat, das hat man.
Hoffnungslos ist hingegen der Fall jenes britischen Verlagsmanagers, den der "Economist" zum ultimativen Vielflieger kürte: Der Mann ließ die komplette Portokasse seines Unternehmens über seine Meilen produzierende private Kreditkarte laufen. Die angehäuften 25 Millionen Meilen wird er vermutlich nie wieder los.
www.spiegel.de 10.05.02
Grüße Max