Helmut Kohl über die Regierungskrise, die Lage seiner Partei - und die politische Weltlage
DIE WELT: Für die Bundeswehr hat der Ernstfall in Afghanistan begonnen. Ist das die große Zäsur der deutschen Außenpolitik?
Helmut Kohl: Es ist ein Einschnitt. Aber die eigentliche Zäsur hat schon mit der Wiedervereinigung 1990 begonnen, als wir die volle Souveränität für das wieder vereinigte Deutschland gewonnen haben. Vielen Menschen ist die neue Rolle Deutschlands in der internationalen Politik nicht richtig bewusst geworden. Gerhard Schröder spricht jetzt von einer neuen Ära, in der die "Scheckbuchdiplomatie" zu Ende sei. Er spielt damit auf den Beitrag der Bundesrepublik zum Einsatz der Allianz im Golfkrieg an. Doch ein größerer Beitrag als den, den wir damals leisteten, war politisch nicht möglich.
DIE WELT: Damals stand ein militärischer Beitrag Deutschlands noch nicht zur Debatte.
Kohl: Als der amerikanische Außenminister James Baker Mitte September 1990 vom Abschluss der Zwei-plus-vier-Gespräche, die das letzte Hindernis für die deutsche Wiedervereinigung beseitigten, direkt zu mir nach Ludwigshafen kam, bedauerte ich es sehr, ihm sagen zu müssen, dass wir im Gegensatz zu Engländern und Franzosen nicht in der Lage wären, militärische Unterstützung zu geben. Ich wurde damals in der amerikanischen Presse heftig kritisiert. Es hieß, die Deutschen nähmen jede Hilfe für sich in Anspruch, doch in der Stunde der Not seien sie nicht bereit, einen angemessenen militärischen Beitrag zu leisten. Doch wegen unserer besonderen politischen Situation hatten wir damals nur die Möglichkeit, uns finanziell an der Allianz gegen Saddam Hussein zu beteiligen. In dieser Zeit starteten SPD und Grüne eine breit angelegte Kampagne gegen den Einsatz deutscher Soldaten. Auf Transparenten stand geschrieben: "Kohl schickt unsere Söhne für die Ölscheichs in den Wüstentod". Wäre ich heute noch im Amt, hätten wir ein ähnliches Bild. Überall gäbe es Demonstrationen unter maßgeblicher Beteiligung heutiger Kabinettsmitglieder gegen die Politik, wie sie jetzt Gerhard Schröder vertritt. Jede Pöbelei war den Linken recht.
DIE WELT: Die Union stützt die rot-grüne Regierung.
Kohl: Ich halte es für völlig richtig, dass wir als Union die Anti-Terror-Allianz unterstützen. Im Ausland macht es ein erbärmliches Bild, dass der Kanzler um seine rot-grüne Mehrheit zittern muss. Es ist völlig abwegig zu behaupten, dass ein Kanzler keine Mehrheit braucht. In den 16 Jahren meiner Kanzlerschaft wäre ein solcher Satz undenkbar gewesen. Ermahnungen von Rot-Grün an die Union, die Solidarität mit den Amerikanern nicht zu vernachlässigen, sind völlig überflüssig. Wir von der Union haben hier keinen Nachholbedarf. Wir haben nie vergessen, wem wir unsere freiheitliche Existenz verdanken. Und wir haben zu unseren amerikanischen Freunden gestanden, als die Herren Rau, Schröder und Fischer mit ihren Freunden die antiamerikanischen Demonstrationen anführten. Aber ich will deutlich sagen: Wir haben uns im Bündnis mit den Amerikanern immer als Freund und Partner gefühlt und nie als Untergebene.
DIE WELT: Also Ja zur uneingeschränkten Solidarität?
Kohl: Wenn der Kanzler von uneingeschränkter Solidarität mit Amerika redet, dann weiß ich nicht, was er mit "uneingeschränkt" meint. Solidarität ist immer umfassend, da gibt es keine Abstufungen. Wir sind Freunde Amerikas, auch ohne tägliche Wiederholung. Das wird so bleiben. In der SPD und bei den Grünen ist dagegen - und das können wir jetzt täglich beobachten - der Antiamerikanismus noch vorhanden. Das gilt auch für ihre intellektuellen Hilfstruppen, die sie auch in manchen Medien haben.
DIE WELT: Es gibt ja einige Stimmen in der Union, die angesichts der Situation der Regierung über eine Große Koalition nachdenken. Wäre das eine Perspektive für die Union?
Kohl: Nein, für eine Große Koalition gibt es gegenwärtig keine Notwendigkeit. Es ist wichtig, dass die Union weiterhin eine konstruktive Arbeit in der Opposition leistet. Aus dieser Position heraus ist es möglich, dass die Union mit der Regierung gemeinsame nationale Verpflichtungen erkennt und wahrnimmt. Die Terroraktion vom 11. September, deren Zielscheibe hauptsächlich die Amerikaner sind, richtet sich gegen die zivilisierte Welt. Wir alle sind durch diesen heimtückischen Angriff herausgefordert.
DIE WELT: Ist die Bundeswehr auf eine solche Lage vorbereitet?
Kohl: Die Bundeswehr und ihre Soldaten haben bisher ihre Aufgaben auch unter schwierigen Bedingungen sehr gut gemacht. Aber man darf die Bundeswehr nicht, wie das seit drei Jahren geschieht, als Steinbruch für den Etat missbrauchen. Es ist höchste Zeit, dass die Regierungskoalition ein anderes Verhältnis zur Armee bekommt.
DIE WELT: Für den Bundeshaushalt wird dieser Einsatz zu einer zusätzlichen Belastung. Kann Hans Eichel die Löcher noch stopfen?
Kohl: Herr Eichel wird ohnedies jetzt erhebliche Probleme mit dem Etat bekommen. Denn nach den neuesten Steuerschätzungen wird es zu ganz erheblichen Steuermindereinnahmen im laufenden und im kommenden Jahr von insgesamt rund 32 Milliarden Mark kommen. Für 2001 werden rund 19 Milliarden Mark weniger vorhergesagt, für 2002 rund 13 Milliarden für alle Gebietskörperschaften zusammen. Das heißt, der Ruhm von Herrn Eichel verblasst nun, und zwar ziemlich rasch. Jetzt rächt sich eben, dass die Steuerpolitik, wie sie gemacht wurde, falsch war, auch im Blick auf die Entwicklung der Konjunktur. Dazu kommt das Desaster auf dem Arbeitsmarkt. Ich kann darüber keine Freude empfinden. Aber ich erinnere mich an die Wahlkampagne der Sozialdemokraten und des DGB vor der Bundestagswahl 1998. Der Bundeskanzler hat auf seiner Garantiekarte für seine Wahl 1998 doch versprochen, neue Arbeitsplätze zu schaffen und die Arbeitslosigkeit abzubauen. Nach dem Stand von Oktober 2001 haben wir über 3,7 Millionen Arbeitslose. Im Oktober 1998 waren es 3,89 Millionen. Das ist nur eine geringfügige Verbesserung. Wenn man die demographischen Entwicklung betrachten - seit 1999 scheiden jährlich circa 20 000 Menschen mehr aus dem Berufsleben aus als junge hinzukommen -, sieht man, dass die Bundesregierung mit ihrer Arbeitsmarktpolitik völlig gescheitert ist. Mir wäre es im Interesse der Betroffenen viel lieber, wir hätten Grund, uns über die Arbeitsmarktzahlen zu freuen. Aber die Arbeitsmarktzahlen sind schlecht, und es sieht so aus, als würden sie sich noch weiter verschlechtern.