"Diese Debatte ist banal"
Was bedeutet das Zuwanderungsgesetz für NRW? Ist es das richtige Gesetz zur richtigen Zeit? Prof. Meinhard Miegel hat erhebliche Zweifel
WELT am SONNTAG: In der Debatte um das Zuwanderungsgesetz ging es zuletzt nur um juristische Fragen. Heißt das, dass in der Sache Einigkeit herrscht?
Meinhard Miegel: Ich bin mir da nicht sicher. Denn bisher haben sich die Politiker zur Sache ja kaum geäußert. Im Kern geht es doch darum, dass wir ein massives Bevölkerungsproblem haben. Ohne Zuwanderer wird die hier ansässige Bevölkerung bis 2040 um 18 Millionen Menschen abnehmen. Das sind so viele, wie derzeit in Nordrhein-Westfalen leben.
WamS: Ist die Zuwanderungsdebatte also nur eine von vielen jetzt nötigen Debatten?
Miegel: In der Tat. Was jetzt debattiert worden ist, trägt nur den Bedingungen und Bedürfnissen der nächsten paar Jahre Rechnung. Eine Antwort auf die eigentlichen Herausforderungen ist es nicht.
WamS: Welches wäre eine Antwort?
Miegel: Ein Gesetz, das auf folgende Fragen eingeht: Soll dem rapiden Bevölkerungsschwund überhaupt entgegengewirkt werden? Wenn ja, braucht Deutschland mehr Menschen. Dazu könnte eine massive Familienpolitik beitragen. Ich bin für eine solche Politik, warne aber vor Illusionen. Sie wird das Bevölkerungsproblem nicht grundlegend wenden. Eine weitere Frage ist: Woher sollen die Zuwanderer kommen? Europäische Bevölkerungsreservoirs gibt es nicht mehr. Die Mittel- und Osteuropäer haben ganz ähnliche Probleme wie wir. Zuwanderer können also faktisch nur aus Südostasien und vielleicht noch Afrika kommen. Darüber muss diskutiert werden.
WamS: Wo sollen die Zuwanderer eigentlich genau hin?
Miegel: Im Agrarzeitalter gingen die Zuwanderer in die am dünnsten besiedelten Gebiete, wo die Scholle brachlag. Im Zeitalter der Dienstleistungen gehen sie dorthin, wo schon viele Menschen sind. Das aber heißt, dass unterschiedliche Besiedlungsdichten noch verstärkt werden. Das dünn besiedelte Ostdeutschland beispielsweise wird besonders viele Menschen verlieren. Konkret: Sollten in den nächsten zehn Jahren jährlich etwa 200.000 Menschen zuwandern, würde die Bevölkerungszahl Westdeutschlands, namentlich Nordrhein-Westfalens, noch etwas steigen, die im Osten hingegen sinken.
WamS: Welche Konsequenzen hätte das?
Miegel: Dass jetzt Entscheidungen gefällt werden. Soll der deutsche Nordosten - und das ist gar nicht sarkastisch gemeint - ein bevölkerungsarmes, ansonsten aber besonders intaktes Biotop werden?
WamS: Wie sähe es - auf der anderen Seite - in NRW aus, dem bevölkerungsreichsten, für Zuwanderer also, Ihnen zufolge, attraktivsten Land?
Miegel: Die, wenn auch bescheidene, Bevölkerungszunahme wäre im Alltag praktisch nicht wahrnehmbar. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist, dass der Anteil an Ausländern erheblich zunimmt. Bei einer jährlichen Zuwanderung von 200.000 Menschen würde bis 2040 der Ausländeranteil von gegenwärtig knapp zehn auf etwa 25 Prozent der Bevölkerung steigen. Das wiederum bedeutet, dass sich - falls diese Zuwanderer nicht konsequent integriert werden - Subkulturen bilden. In Deutschland würde eine multikulturelle Bevölkerung entstehen, auf die die meisten nicht vorbereitet sind und die gegenüber heute eine erhebliche Veränderung bedeuten würde. Ich kann mir vorstellen, dass die Widerstände gegen sie erheblich sind.
WamS: Wie ist die Zuwanderungsdebatte also zu beurteilen? Ist sie die falsche Debatte zur falschen Zeit?
Miegel: Dies ist keine falsche Debatte, aber sie ist gemessen an den zu bewältigenden Herausforderungen banal. Jetzt rächt sich, dass Fragen der Bevölkerungsentwicklung so hartnäckig verdrängt worden sind. Kaum jemand hat gewagt, die mittel- und langfristigen Ziele der Bevölkerungs- und Zuwanderungspolitik zu definieren. Denn es geht ja nicht nur darum, Arbeitskräfte anzuwerben, sei es für niedrig oder hoch qualifizierte Stellen. Im Grunde ist die heutige Debatte nur eine Neuauflage der Diskussion der sechziger Jahre, aber keine Antwort auf den bevorstehenden Zusammenbruch von Bevölkerungsstrukturen.
WamS: Müssten mehr Impulse kommen von Hochschulen, um fehlende Fachkräfte anzuziehen? Die Landschaft in NRW ist so dicht wie nirgends sonst.
Miegel: Sie sprechen hier ein ganz großes Problem an, das aber mit der Zuwanderung wenig zu tun hat. Unsere Schulen und Universitäten sind weitgehend verschnarcht. Vielleicht hat das etwas mit der Verbeamtung ihres Personals zu tun. Wenn heutzutage ein Hochschullehrer noch verbeamtet werden will, muss er doch ein Problem mit sich selbst haben. Das Grundgesetz gewährt ihm Meinungs-, Gewissens- und Redefreiheit. Warum also noch verbeamten?
WamS: Hält man sich Ihre ganze Kritik am gesellschaftlichen Zustand vor Augen, kommt einem der Titel Ihres jüngst erschienenen Buches "Die deformierte Gesellschaft" geradezu verniedlichend vor.
Miegel: Ich finde ihn ziemlich treffend. Die Bevölkerung wird in den nächsten Jahren ihre Deformation schmerzlich zu spüren bekommen. Das Zuwanderungsgesetz erscheint mir als i-Punkt einer naiven, kurzatmigen Politik. Hier wird ein weiteres Mal ein Jahrhundertproblem in einer Schlichtheit abgehandelt, die schon bemerkenswert ist. Dabei ist die Sachverhaltsanalyse, die dem Gesetz zu Grunde liegt, durchaus zutreffend. Die politischen Schlüsse, die hieraus gezogen werden, sind es nicht. Sie sind dem Sachverhalt so unangemessen, dass sich Zweifel an der Kompetenz der Politiker aufdrängen.
Das Gespräch führte Frank Lorentz
Was bedeutet das Zuwanderungsgesetz für NRW? Ist es das richtige Gesetz zur richtigen Zeit? Prof. Meinhard Miegel hat erhebliche Zweifel
WELT am SONNTAG: In der Debatte um das Zuwanderungsgesetz ging es zuletzt nur um juristische Fragen. Heißt das, dass in der Sache Einigkeit herrscht?
Meinhard Miegel: Ich bin mir da nicht sicher. Denn bisher haben sich die Politiker zur Sache ja kaum geäußert. Im Kern geht es doch darum, dass wir ein massives Bevölkerungsproblem haben. Ohne Zuwanderer wird die hier ansässige Bevölkerung bis 2040 um 18 Millionen Menschen abnehmen. Das sind so viele, wie derzeit in Nordrhein-Westfalen leben.
WamS: Ist die Zuwanderungsdebatte also nur eine von vielen jetzt nötigen Debatten?
Miegel: In der Tat. Was jetzt debattiert worden ist, trägt nur den Bedingungen und Bedürfnissen der nächsten paar Jahre Rechnung. Eine Antwort auf die eigentlichen Herausforderungen ist es nicht.
WamS: Welches wäre eine Antwort?
Miegel: Ein Gesetz, das auf folgende Fragen eingeht: Soll dem rapiden Bevölkerungsschwund überhaupt entgegengewirkt werden? Wenn ja, braucht Deutschland mehr Menschen. Dazu könnte eine massive Familienpolitik beitragen. Ich bin für eine solche Politik, warne aber vor Illusionen. Sie wird das Bevölkerungsproblem nicht grundlegend wenden. Eine weitere Frage ist: Woher sollen die Zuwanderer kommen? Europäische Bevölkerungsreservoirs gibt es nicht mehr. Die Mittel- und Osteuropäer haben ganz ähnliche Probleme wie wir. Zuwanderer können also faktisch nur aus Südostasien und vielleicht noch Afrika kommen. Darüber muss diskutiert werden.
WamS: Wo sollen die Zuwanderer eigentlich genau hin?
Miegel: Im Agrarzeitalter gingen die Zuwanderer in die am dünnsten besiedelten Gebiete, wo die Scholle brachlag. Im Zeitalter der Dienstleistungen gehen sie dorthin, wo schon viele Menschen sind. Das aber heißt, dass unterschiedliche Besiedlungsdichten noch verstärkt werden. Das dünn besiedelte Ostdeutschland beispielsweise wird besonders viele Menschen verlieren. Konkret: Sollten in den nächsten zehn Jahren jährlich etwa 200.000 Menschen zuwandern, würde die Bevölkerungszahl Westdeutschlands, namentlich Nordrhein-Westfalens, noch etwas steigen, die im Osten hingegen sinken.
WamS: Welche Konsequenzen hätte das?
Miegel: Dass jetzt Entscheidungen gefällt werden. Soll der deutsche Nordosten - und das ist gar nicht sarkastisch gemeint - ein bevölkerungsarmes, ansonsten aber besonders intaktes Biotop werden?
WamS: Wie sähe es - auf der anderen Seite - in NRW aus, dem bevölkerungsreichsten, für Zuwanderer also, Ihnen zufolge, attraktivsten Land?
Miegel: Die, wenn auch bescheidene, Bevölkerungszunahme wäre im Alltag praktisch nicht wahrnehmbar. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist, dass der Anteil an Ausländern erheblich zunimmt. Bei einer jährlichen Zuwanderung von 200.000 Menschen würde bis 2040 der Ausländeranteil von gegenwärtig knapp zehn auf etwa 25 Prozent der Bevölkerung steigen. Das wiederum bedeutet, dass sich - falls diese Zuwanderer nicht konsequent integriert werden - Subkulturen bilden. In Deutschland würde eine multikulturelle Bevölkerung entstehen, auf die die meisten nicht vorbereitet sind und die gegenüber heute eine erhebliche Veränderung bedeuten würde. Ich kann mir vorstellen, dass die Widerstände gegen sie erheblich sind.
WamS: Wie ist die Zuwanderungsdebatte also zu beurteilen? Ist sie die falsche Debatte zur falschen Zeit?
Miegel: Dies ist keine falsche Debatte, aber sie ist gemessen an den zu bewältigenden Herausforderungen banal. Jetzt rächt sich, dass Fragen der Bevölkerungsentwicklung so hartnäckig verdrängt worden sind. Kaum jemand hat gewagt, die mittel- und langfristigen Ziele der Bevölkerungs- und Zuwanderungspolitik zu definieren. Denn es geht ja nicht nur darum, Arbeitskräfte anzuwerben, sei es für niedrig oder hoch qualifizierte Stellen. Im Grunde ist die heutige Debatte nur eine Neuauflage der Diskussion der sechziger Jahre, aber keine Antwort auf den bevorstehenden Zusammenbruch von Bevölkerungsstrukturen.
WamS: Müssten mehr Impulse kommen von Hochschulen, um fehlende Fachkräfte anzuziehen? Die Landschaft in NRW ist so dicht wie nirgends sonst.
Miegel: Sie sprechen hier ein ganz großes Problem an, das aber mit der Zuwanderung wenig zu tun hat. Unsere Schulen und Universitäten sind weitgehend verschnarcht. Vielleicht hat das etwas mit der Verbeamtung ihres Personals zu tun. Wenn heutzutage ein Hochschullehrer noch verbeamtet werden will, muss er doch ein Problem mit sich selbst haben. Das Grundgesetz gewährt ihm Meinungs-, Gewissens- und Redefreiheit. Warum also noch verbeamten?
WamS: Hält man sich Ihre ganze Kritik am gesellschaftlichen Zustand vor Augen, kommt einem der Titel Ihres jüngst erschienenen Buches "Die deformierte Gesellschaft" geradezu verniedlichend vor.
Miegel: Ich finde ihn ziemlich treffend. Die Bevölkerung wird in den nächsten Jahren ihre Deformation schmerzlich zu spüren bekommen. Das Zuwanderungsgesetz erscheint mir als i-Punkt einer naiven, kurzatmigen Politik. Hier wird ein weiteres Mal ein Jahrhundertproblem in einer Schlichtheit abgehandelt, die schon bemerkenswert ist. Dabei ist die Sachverhaltsanalyse, die dem Gesetz zu Grunde liegt, durchaus zutreffend. Die politischen Schlüsse, die hieraus gezogen werden, sind es nicht. Sie sind dem Sachverhalt so unangemessen, dass sich Zweifel an der Kompetenz der Politiker aufdrängen.
Das Gespräch führte Frank Lorentz