Die Flagge der Ukraine.
Freitag, 04.03.2022 17:45 von | Aufrufe: 1344

GESAMT-ROUNDUP 6: Sorge um ukrainisches AKW - Nato fürchtet Lage-Verschärfung

Die Flagge der Ukraine. pixabay.com

KIEW/BERLIN (dpa-AFX) - Ein nach Kämpfen ausgebrochenes Feuer an Europas größtem Kernkraftwerk in der Ukraine schürt die Furcht vor einer atomaren Katastrophe infolge des russischen Angriffskriegs. Zwar versicherten beide Konfliktparteien und auch internationale Experten, bei dem bald darauf gelöschten Brand sei keine Radioaktivität ausgetreten. Doch wächst die Sorge vor einer unkontrollierbaren Eskalation im Kriegsgebiet. Die Nato erwartet eine deutliche Verschärfung der Lage.

Eine von vielen Ukrainern erhoffte Flugverbotszone schloss die Militärallianz aus, zugleich erwägt sie eine erhebliche Aufrüstung im östlichen Bündnisgebiet.

Am Wochenende könnten Delegationen der Ukraine und Russlands zu einer dritten Verhandlungsrunde zusammenkommen, wie Kremlchef Wladimir Putin in einem Telefonat mit Bundeskanzler Olaf Scholz in Aussicht stellte.

Nach der Einnahme des AKW nahe der Großstadt Saporischschja durch russische Truppen war in der Nacht zu Freitag auf dem Gelände ein Brand ausgebrochen, laut ukrainischem Innenministerium im Gebäude eines Trainingskomplexes. Es wurde am Morgen gelöscht. Die ukrainische Aufsichtsbehörde, das russische Verteidigungsministerium und später auch die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) versicherten, es sei keine erhöhte Strahlung gemessen worden. Ein russischer Ministeriumssprecher sagte der Agentur Interfax zufolge, das Personal arbeite normal weiter.

IAEA-Chef Rafael Grossi sagte in Wien, alle Sicherheitssysteme seien unbeeinträchtigt. Allerdings seien zwei ukrainische Sicherheitsmitarbeiter verletzt worden. Derzeit sei nur einer der sechs Reaktorblöcke des mit bis zu 6000 Megawatt leistungsfähigsten Atomkraftwerks Europas in Betrieb. Grossi schlug vor, dass Russland und die Ukraine unter seiner Schirmherrschaft am Gelände des 1986 explodierten ukrainischen Kernreaktors Tschernobyl über Sicherheitsgarantien für die ukrainischen Atomanlagen verhandeln.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach von einem gezielten Beschuss der Reaktorblöcke in Saporischschja durch russische Panzer. Das Verteidigungsministerium in Moskau sprach hingegen von einer "Provokation des Kiewer Regimes in der Nuklearanlage", die Russland in die Schuhe geschoben werden solle.

Der Präsident des Bundesamtes für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung, Wolfram König, sieht keine Gefährdung für Deutschland. "Wir müssen uns in Deutschland keine Sorgen machen hinsichtlich der jetzt bekanntgewordenen Situation in der Ukraine", sagte König. Selbst bei einem "ganz großen Unfall, der nicht ausgeschlossen werden kann oder eben hier durch den Beschuss einer derartigen Anlage entstehen könnte", ist nach Königs Worten "die Wahrscheinlichkeit, dass wir hier in einem größeren Maß betroffen sind, sehr, sehr gering".

Das Bundesumweltministerium (BMUV) und das Bundesamt für Strahlenschutz betonten, Deutschland verfüge seit vielen Jahren über Instrumente zur Bewertung einer radiologischen Lage, beispielsweise das Integrierte Mess- und Informationssystem IMIS. "Sollte das BMUV Hinweise haben, dass sich ein radiologischer Notfall mit erheblichen Auswirkungen in der Ukraine ereignet, würde das radiologische Lagezentrum des Bundes im BMUV die Lage bewerten, die Öffentlichkeit informieren und, soweit erforderlich, Verhaltensempfehlungen geben."

Wegen der Kämpfe in direkter Umgebung des AKW berief der UN-Sicherheitsrat in New York für Freitag (17.30 Uhr MEZ) eine erneute Dringlichkeitssitzung ein. Ratsmitglied Norwegen, dass das Treffen zusammen mit einer Reihe westlicher Staaten beantragt hatte, teilte mit: "Bewaffnete Angriffe auf friedliche Nuklearanlagen sind eine Verletzung des Völkerrechts." Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sprach von einem rücksichtslosen Kriegsakt.


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Aus Sorge vor unbeabsichtigten Vorfällen zwischen Einheiten der Nato und Russlands richtete das US-Verteidigungsministerium eine neue Hotline mit Moskau ein. Ziel sei es, Fehleinschätzungen, militärische Zwischenfälle und Eskalationen zu vermeiden. Die Nato selbst will keine Truppen in die Ukraine schicken, fürchtet aber, dass der Konflikt auf ihre Mitgliedstaaten übergreifen könnte.

"Die kommenden Tage werden wahrscheinlich noch schlimmer sein, mit mehr Tod, mehr Leid und mehr Zerstörung", sagte Stoltenberg nach einem Treffen der Nato-Außenminister in Brüssel. Mit Blick auf das östliche Bündnisgebiet ergänzte er: "Wir erwägen nun ernsthaft eine erhebliche Verstärkung unserer Präsenz - mit mehr Truppen, mit mehr Luftverteidigung, mehr Abschreckung." Details dazu seien zwar erst bei einem Treffen der Verteidigungsminister am 16. März zu erwarten, die Ostflanke sei aber schon unmittelbar nach Beginn des Ukraine-Kriegs gestärkt worden.

Für die Durchsetzung einer Flugverbotszone müssten Kampfjets der Nato in den ukrainischen Luftraum fliegen und russische Flieger abschießen, gab Stoltenberg zu bedenken. Ein solcher Schritt könne zu einem großen Krieg in ganz Europa führen und sei daher trotz der verständlichen Verzweiflung in der Ukraine ausgeschlossen.

Die russischen Truppen setzten indes nach ukrainischen Armeeangaben ihren Vormarsch auf die Hauptstadt Kiew fort. "Die Hauptanstrengungen der Besatzer konzentrieren sich auf die Einkreisung Kiews", hieß es. Die Millionenstadt löste am Freitag mehrfach Luftalarm aus. Alle Bewohner sollten sich in Luftschutzbunkern in Sicherheit bringen.

Nach den schweren Luftangriffen auf die nordukrainische Großstadt Tschernihiw stieg derweil die Zahl der Toten nach Angaben der Gebietsverwaltung auf 47. Damit handle es sich um die meisten zivilen Todesopfer bei einer derartigen Attacke seit dem russischen Einmarsch am 24. Februar, berichtete das ukrainische Portal "strana.news". Russland bestreitet, gezielt zivile Gebäude anzugreifen. Nach UN-Angaben war bis zur Nacht auf Freitag der Tod von 331 Zivilisten dokumentiert, darunter 19 Kinder.

Der UN-Menschenrechtsrat bestellte eine Untersuchungskommission, die Menschenrechtsverletzungen Russlands in der Ukraine untersuchen und dokumentieren soll. Die Kommission soll auch Verantwortliche benennen, um sie vor Gerichten zur Rechenschaft ziehen zu können. Neben Russland stimmte einzig Eritrea gegen die Resolution.

Außenministerin Annalena Baerbock warf Russland gezielte Angriffe gegen die ukrainische Zivilbevölkerung vor. "Man sieht deutlich, dass dieser Angriffskrieg Putins darauf abzielt, mit brutalster Härte jetzt auch gegen Zivilbevölkerung vorzugehen", sagte sie am Rande von Beratungen mit Kolleginnen und Kollegen in Brüssel. Umgekehrt wirft Russland der ukrainischen Führung seit Jahren Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Donbass vor und hat dazu eine Materialsammlung mit teils kaum überprüfbaren Informationen zusammengestellt.

Bundeskanzler Scholz rief Putin in einem einstündigen Telefonat zur sofortigen Einstellung aller Kampfhandlungen in der Ukraine auf. Außerdem verlangte der SPD-Politiker, Zugang für humanitäre Hilfe in den umkämpften Gebieten zuzulassen, wie sein Sprecher mitteilte.

Die ukrainische Botschaft in Berlin bat die Bundesregierung um weitere Waffensysteme, darunter Kampfpanzer, U-Boote und Kampfflugzeuge. Das geht aus einer sogenannten Verbalnote an das Kanzleramt, das Auswärtige Amt und das Verteidigungsministerium hervor, die der Deutschen Presse-Agentur vorliegt. Begründet wird das damit, dass Russland auch geächtete Waffen wie Kassettenbomben mit Streumunition einsetze.

Putin warnte die Nachbarländer vor einer Eskalation der Lage. "Ich würde ihnen raten, die Situation nicht anzuheizen, keine Beschränkungen einzuführen, wir erfüllen alle unsere Verpflichtungen und werden sie weiterhin erfüllen", sagte er Interfax zufolge in Moskau. "Wir haben keine bösen Absichten gegenüber unseren Nachbarn."

Die Zahl der aus der Ukraine geflüchteten Menschen beläuft sich nach Angaben der UN-Organisation für Migration (IOM) inzwischen auf 1,25 Millionen. Davon seien allein etwa 672 000 nach Polen geflohen, sagte ein Sprecher. Die Bundespolizei sprach am Freitag von insgesamt knapp 20 000 angekommenen Flüchtlingen in Deutschland, wobei die Dunkelziffer mangels Meldepflicht deutlich höher sein dürfte./so/and/DP/nas

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