Unten findet ihr einen Kolumnenartikel von Martin Hüfner, der sich wohltuend von vielen anderen unterscheidet, weil er über einen historischen Weitblick verfügt, der leider viel zu selten in den Finanznachrichten vorkommt:
21. Oktober 2011. Die Diskussion über die zu hohen Staatsschulden weist bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit den Verhältnissen in der Zeit der hohen Inflationsraten in den 70er Jahren auf. Die gute Nachricht: Gesamtwirtschaftliche Ungleichgewichte lassen sich korrigieren. Die schlechte: Es dauert lang, ist schmerzlich und erfordert erhebliche Anstrengungen.
Alle sind sich einig, dass die Volkswirtschaften dauerhaft nur dann gesunden, wenn die Verschuldung der Staaten zurückgeführt wird. Genau so sind die meisten aber auch davon überzeugt, dass eine Reduzierung der Schulden in modernen Demokratien nicht möglich ist. Den Politikern fehlt es an Kraft, die Ausgaben zu kürzen und die Abgaben zu erhöhen. Sie haben Angst, durch eine restriktive Finanzpolitik das Wachstum zu beschädigen und die Arbeitslosigkeit noch mehr nach oben zu treiben. Daher die Befürchtung vieler Investoren, dass am Ende kein anderer Ausweg bleibt, als die Schulden durch Inflation zu entwerten oder eine Währungsreform durchzuführen.
Ist ein so pessimistischer Ausblick gerechtfertigt? Plausibel ist er zweifellos. In der Geschichte ist es nicht oft gelungen, die Schulden durch eine rigorose Finanzpolitik zu verringern. Währungsreformen sind gar nicht so selten. Man muss dafür nicht nur nach Griechenland schauen, wo es in den letzten zweihundert Jahren fünf Währungsreformen gab (im Schnitt also alle 40 Jahre). Deutschland hatte in den letzten hundert Jahren zwei, die neuen Bundesländer sogar drei.
In den USA kam es nach dem Zweiten Weltkrieg zwar nicht zu einer Währungsreform. Die hohen Schulden wurden aber über viele Jahre durch eine Inflation entwertet, die über den Zinsen lag. Das war de facto eine Enteignung der Sparer. Nur einige kleine Länder, wie Lettland oder Island, haben es durch eine rigorose Politik geschafft, ihr Land wieder in Ordnung zu bringen.
Freilich ist dies nur die halbe Wahrheit. Der Journalist Bernhard Jünemann vom Deutschen Anleger Fernsehen hat mich vor kurzem auf die bemerkenswerte Parallelität zwischen der heutigen Schuldensituation und der Inflationsdiskussion in den 70er Jahren aufmerksam gemacht. Damals klagte alle Welt über die hohe Preissteigerung. Kaum jemand hatte die Hoffnung, dass die Welt davon wieder herunterkommt. Es gelang trotzdem. Die Grafik zeigt, wie die Preissteigerung in Deutschland seit Mitte der 70er Jahre von zeitweise knapp 8 Prozent auf heute 2,5 Prozent zurückging. In den USA verringerte sich die Rate von knapp 15 Prozent auf 3,9 Prozent. Das wären schöne Beispiele für einen Schuldenabbau.
Wie ist das gelungen? Zuerst muss die richtige Erkenntnis da sein. Bei der Inflation war es einmal die Tatsache, dass ihr eine Tendenz zur Selbstbeschleunigung inne wohnt. Wenn die Geldentwertung bei 5 Prozent liegt, bleibt sie nicht dort, sondern steigt auf vielleicht 10 Prozent und mehr. Zum anderen fördert Preissteigerung auf lange Sicht nicht Wachstum und Beschäftigung, sondern schadet diesen Zielen. Das zeigte sich Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre in der kurzen Abfolge von Rezessionen. Man sprach schon von Stagflation, also der Kombination von Inflation und Stagnation.
Auch Staatsschulden haben die Tendenz zur Selbstbeschleunigung. Je höher die Verschuldung, umso mehr muss für Zinsen und Tilgungen ausgegeben werden und umso größer ist die erforderliche Neukreditaufnahme. Gleichzeitig helfen Schulden auf Dauer dem Wachstum und der Beschäftigung nicht, sondern wirken bremsend. Die beiden amerikanischen Ökonomen Kenneth Rogoff und Carmen Reinhard haben aufgrund der historischen Erfahrung nachgewiesen, dass eine Staatsverschuldung, ab einer Größe von 90 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, überwiegend negative Wirkungen hat. Diese Erkenntnis ist aber bei weitem noch nicht Allgemeingut.
Es reicht freilich nicht, die richtige Erkenntnis zu haben. In einer globalen Welt muss zwischen den großen Nationen ein Konsens erzielt werden. Das war schon damals nicht leicht. Zwischen dem damaligen deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt und dem amerikanischen Präsidenten Jimmy Carter sollen in jenen Jahren auf internationalen Konferenzen "die Fetzen geflogen" sein. Schließlich erreichte man aber im Kommuniqué des Londoner Gipfeltreffens der sieben größten Industrieländer eine Formulierung, die in die Geschichte einging: "Inflation verringert die Arbeitslosigkeit nicht. Sie ist im Gegenteil eine ihrer Hauptursachen." Das war der Durchbruch. In der Schuldenfrage gibt es bisher keinen so klaren Konsens. Es wird auf internationalen Konferenzen noch nicht einmal wirklich darum gekämpft. Jeder sagt, Sparen ist wichtig, aber nur auf mittlere Frist und noch nicht jetzt.
Schließlich muss es mutige Politiker geben, die das in die Praxis umsetzen. In den USA war es Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre der amerikanische Notenbank-präsident Paul Volcker, der die Geldentwertung mit drastischen Zinserhöhungen bekämpfte. Das führte vorübergehend zu einem Konjunktureinbruch. Danach stand die wirtschaftliche Entwicklung jedoch auf gesünderen Füßen (was auch den Aktienmärkten zugute kam). Man braucht dabei auch einen langen Atem. Die Besserung kann nicht von heute auf morgen erreicht werden. Sie dauert Jahrzehnte
Für den Anleger
Die gute Nachricht für den Anleger: Der Vergleich mit der Inflationsproblematik in den 70er Jahren zeigt, dass man nicht mit dem Schlimmsten rechnen muss. Gesamtwirtschaftliche Ungleichgewichte können zurückgeführt werden. Die schlechte Nachricht: Wir sind in der Schuldenfrage davon noch weit entfernt. Der Druck von der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ist nicht groß genug, dass es zu einem Umsteuern der Politik kommt. Es wird auch nicht richtig darum gekämpft. Vielleicht muss es erst schlechter werden, bevor es besser wird.
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© 21. Oktober 2011/Martin Hüfner
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© 2011 dpa-AFX
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