DER SPIEGEL 46/2000 - 13. November 2000
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"Bis es der Letzte begreift "
Das antisemitische Hetzblatt "Der Stürmer" war mehr als ein abseitiges Machwerk der NS-Presse. Die Propaganda hatte Wirkung bei jungen Soldaten, wie ein SPIEGEL-TV-Film zeigt.
Hass bis zum bitteren Ende: "Purimfest 1946" waren seine letzten Worte, eine Anspielung auf das jüdische Versöhnungsfest, "die Bolschewisten werden euch einmal hängen". Dann starb Julius Streicher am Galgen, vom Nürnberger Kriegsverbrechertribunal zum Tode verurteilt.
Vergeblich hatte seine Verteidigung argumentiert, Streicher habe "nur" eine Zeitschrift, den "Stürmer", herausgegeben, ein Tatbestand, für den doch eigentlich die Pressefreiheit zu gelten habe. Die Richter ließen sich nicht blenden. Was das antisemitische Hetzblatt von 1923 bis 1945 betrieben hatte, war in ihren Augen nichts anderes als Anstiftung zum Mord.
Ein SPIEGEL-TV-Film von Michael Kloft zeigt, wie Recht die Richter hatten*. Das von Intellektuellen, ja von Teilen der Nazi-Elite verachtete Organ hatte mit seiner üblen Mischung aus sexuellen Obsessionen - geile Juden gieren nach arischem Frauenfleisch - und Hirngespinsten von einer zionistischen Weltverschwörung Wirkung vor allem bei jungen Menschen, die im NS-System aufwuchsen.
Kloft entdeckte im Nürnberger Stadtarchiv Fotos, die junge Soldaten an der Ost-
front von Judenermordungen gemacht und wie Trophäen an das Streicher-Blatt geschickt hatten. Ein aus dem Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz stammendes Propagandafoto zeigt Einheimische, die Juden im eroberten Osten vor einem "Stürmer-Kasten" verhöhnen mussten - der Fotograf hatte es so arrangiert.
Die Aufnahmen stützen die Beobachtungen, die Hitlers geheime Dienste während des Krieges von der Ostfront meldeten: dass jüngere Soldaten eher als ältere bereit waren, an Judenexekutionen teilzunehmen.
Der israelische Historiker Saul Friedländer, der gerade am zweiten Teil seines Standardwerks "Das Dritte Reich und die Juden" arbeitet, erklärt im Film, woran das lag: "Die Jüngeren waren bereits sozialisiert im Dritten Reich. Von der Volksschule bis zu den Berufs- und Hochschulen waren sie Tag für Tag der Propaganda ausgesetzt. Sie lasen den ,Stürmer' oder bekamen ihn als Hausarbeit mit. Dann wurden sie 1939 Soldaten."
Die Saat des Julius Streicher war aufgegangen. Autor Kloft spürte Filmbilder aus dem beschaulichen Bodensee-Ort Meersburg von 1935 auf, auf denen sich Spruchbänder wie Sentenzen aus dem "Stürmer" lesen: "Ein Jud und eine Laus sind wie eine Pest im Haus."
Streicher, ein nur 1,65 Meter großer Glatzkopf, meist mit Reitpeitsche und Uniform in der Öffentlichkeit zu sehen und umgeben vom Odium des Skandals - "von der Sorte, die Ärger in Parks macht", so eine Zeitzeugin -, wirkte äußerlich wie eine bizarre und leicht lächerliche Figur, die im Übrigen nie im Zentrum der NS-Macht stand.
Sein Antisemitismus aber, wie sich Streichers ehemaliger Adjutant Alois Kälsch in Klofts Film erinnert, war von kaltblütiger Konsequenz: "Er sagte mir wörtlich: Merken Sie sich eines, steter Tropfen höhlt den Stein, die Juden sind unser Unglück. Das muss den Menschen täglich gesagt werden, damit es der Letzte und Einfachste begreift. Mich interessieren keine akademischen Abhandlungen über die Judenfrage."
Darüber hinaus erfüllte Streichers Hetze eine wohl kalkulierte Funktion: Der "Stürmer" mobilisierte je nach Bedarf die niederen Instinkte, die der Nazi-Obrigkeit die Gelegenheit gaben, als Regulatoren aufzutreten: Die Nürnberger Rassengesetze von 1935 konnten sich so als kanalisierende Antwort auf einen Druck von unten, auf eine angebliche Empörung des Volks darstellen lassen, "Reichskristallnacht" und der staatliche Diebstahl an jüdischem Eigentum ("Arisierung") ebenso. Die auf die systematische Vernichtung der Juden hinauslaufende Teufelei der Herren Hitler, Himmler & Co. benutzte Streicher und sein Wochenblatt bewusst als Kettenhund, der kläffen durfte, dem man aber auch, wenn es außenpolitische Interessen geboten - wie im Fall der Olympischen Spiele von 1936 -, vorübergehend einen Maulkorb anlegte.
Streicher spielte den Mann fürs Grobe instinktsicher. Seine Biografie ähnelt der vieler Nazi-Bonzen. 1885 im schwäbischen Fleinhausen in der Nähe von Augsburg als neuntes Kind eines Volksschullehrers geboren und aufgewachsen in streng katholischem Milieu, schlug er ebenfalls die Lehrerlaufbahn ein. Der Erste Weltkrieg und der Zusammenbruch des Kaiserreichs radikalisierten Streicher. Nach einigem Suchen in der völkischen Szene stieß er, wie sich Streichers Adjutant erinnert, 1922 auf Hitler und war sofort begeistert: "Ich kann nur Ihr Helfer sein."
Der blieb er sein Leben lang. Mit seinem Führer beteiligte er sich 1923 an dessen gescheitertem Putsch in München und flog aus dem Schuldienst. 1924 wurde er von der Hitler-Partei mit einem Mandat im Bayerischen Landtag belohnt. Noch vor der Machtergreifung 1933 brachte es Streicher zum Gauleiter in Franken, hatte aber später wegen seiner skandalumwitterten Lebensweise und der Behauptung, Görings Tochter Edda sei nur auf Grund künstlicher Befruchtung gezeugt worden, mächtige Gegner im NS-Apparat. Mit Kriegsausbruch wurde Streicher kaltgestellt, den guten Draht zu Hitler verlor der alte Kämpfer trotz gelegentlicher Kräche nie.
Der Diktator wusste, welche wahren Stärken sein Helfer hatte: die Verunglimpfung der Juden. Vom ersten Erscheinen des 1923 gegründeten Blattes an attackierte der "Stürmer" jüdische Politiker und tischte haltlose, sexuellen Neid ansprechende Storys von jüdischen Kapitalisten auf, die blonde Dienstmädchen zu Liebesdiensten zwingen würden. Mehr als zwanzig Anklagen und wiederholte Verurteilungen konnten Streicher nicht bremsen. Bis 1933 hatte der "Frankenführer" sein Blatt zu einer perfekten Denunziationsmaschine ausgebaut: Recherchiert wurde grundsätzlich nicht. Um die antisemitischen Lügenmärchen vom Ritualmord zu belegen, unterhielt der "Stürmer" ein Archiv mit jüdischen Schriften. Später kamen von den Nazis requirierte Kultgegenstände hinzu, die auf diese tragische Weise gerettet wurden, weil das Archiv den Krieg überstand.
Nachrichtenzuträger waren die Leser, die Fälle von Rassenschande meldeten. Ungeprüft kamen diese Berichte in eine Rubrik, die von 1933 an den Namen "Pranger" trug. In den Hochzeiten des "Stürmer", Mitte der dreißiger Jahre, sollen bei einer geschätzten Auflage von 800 000 Exemplaren bis zu 700 Leserzuschriften täglich eingegangen sein.
Wohl entscheidend für die Wirkung des Hetzorgans waren die Zeichnungen von Fips, die Karikaturen zu nennen das ehrenwerte Genre wohl verhöhnen würde. Philipp Rupprecht hieß der Mann, der den Hass mit dem Stift schürte: die Juden als unrasierte, langnasige, vor Geilheit und Geldgier triefende finstere Gesellen.
So abstrus diese Machwerke auch waren, sie prägten die Ikonografie der Nazi-Propaganda. Die "Stürmer-Juden" waren das Vorbild für judenfeindliche Filme und für das in den Schulen eingesetzte Propagandamaterial.
Kloft präsentiert auch das 1936 im "Stürmer"-Verlag erschienene und über 100 000mal verkaufte Kinderbuch "Trau keinem Fuchs auf grüner Heid und keinem Jud bei seinem Eid" - eine Anleitung zum Rassenhass für die Sechs- bis Neunjährigen. Da heißt es: "Nun wird es endlich schön, denn alle Juden müssen gehn / die großen und kleinen, da hilft kein Schreien und Weinen / und auch nicht Zorn und Wut, fort mit der Judenbrut." Der Tod ist ein Holpervers aus Deutschland.
NIKOLAUS VON FESTENBERG