Großbritannien schrumpft zur Mini-MachtErschienen am 10. Dezember 2009 | Spiegel-Online
Großbritannien droht der wirtschaftliche Abstieg (Foto: imago)
Vom Boomland zum Krisenkandidaten: Großbritannien steht vor den Trümmern seines jahrelangen Aufschwungs. Bald könnte die vormalige Musterwirtschaft sogar aus den Top Ten der größten Ökonomien fallen - überholt von seiner ehemaligen Kolonie Indien.
Briten sehen düsteren Zeiten entgegen
Großbritannien sieht düsteren Zeiten entgegen. In den kommenden Jahren könnten die klammen Kommunen gezwungen sein, die Straßenlaternen nachts auszustellen, berichtet die "Financial Times". Ladenbesitzer könnten aufgefordert werden, für die Polizei selbst zu bezahlen. Und die Bürger könnten sich schon mal darauf einstellen, dass Gratisangebote von Büchereien bis hin zu Schwimmbädern auf die Streichliste kommen.
Großbritannien steckt weiter in der Rezession
Willkommen im einstigen Boom-Land Großbritannien. Die Lage der öffentlichen Finanzen ist desaströs, nicht nur in der Lokalverwaltung droht der Kahlschlag. Schuld ist die Wirtschaftskrise, die die Insel stärker getroffen hat als andere europäische Länder. Großbritannien ist das einzige Land aus dem G-20-Kreis der führenden Wirtschaftsnationen, das die Rezession noch nicht überwunden hat. Im dritten Quartal 2009 ist die Wirtschaft zum fünften Mal in Folge geschrumpft. Für das laufende vierte Quartal wird die lang ersehnte Kehrtwende erwartet, doch soll das Wachstum auf absehbare Zeit schwach bleiben.
Lage der öffentlichen Finanzen desaströs
Vor diesem Hintergrund gab Schatzkanzler Alistair Darling am Mittwoch seinen Haushaltsbericht ab. Die Rede ist ein halbjährliches Ritual, bei dem die ganze Nation gebannt auf den Finanzminister starrt. In Zeiten der Krise gewinnt die Lageanalyse des obersten Wirtschaftspolitikers noch an Dramatik. Wie riesig das Haushaltsloch ist, wissen die Briten seit der Vorstellung des Etats im April: 178 Milliarden Pfund fehlen allein in diesem Jahr - ein Rekord in der Nachkriegszeit.
Bislang keine harten Einschnitte
Die Labour-Regierung hatte stets betont, das Defizit sei in der Rezession notwendig. Doch inzwischen wird die Frage immer drängender, wie das Loch zu stopfen sei. Finanzminister Darling kündigte "Effizienzsteigerungen" in Milliardenhöhe an - ein Euphemismus für Einsparungen -, verzichtete jedoch auf harte Einschnitte schon im kommenden Jahr. Stattdessen lautete seine Botschaft: Der Aufschwung darf nicht tot gespart werden. Die Labour-Regierung muss sich schließlich im Frühjahr 2010 zur Wahl stellen und möchte die Wähler vorher nicht verprellen.
Bittere Medizin wohldosiert verabreicht
Bittere Medizin verabreichte Darling wohldosiert: So sollen die Sozialversicherungsbeiträge um einen Prozentpunkt steigen und Gehaltssteigerungen im öffentlichen Sektor auf ein Prozent pro Jahr begrenzt werden - allerdings erst ab 2011. Die "harten Entscheidungen" reservierte der Minister zunächst für die Reichen, insbesondere für die Banker: Auf jeden Bonus über 25.000 Pfund werde die Regierung dieses Jahr eine einmalige Steuer von 50 Prozent erheben, sagte er. Bereits im April hatte Darling zusätzliche Steuern für Reiche angekündigt.
"Supersteuer" trifft 20.000 Banker
Die "Supersteuer", die 20.000 Banker treffen wird, sorgt seit Tagen für Schlagzeilen, doch kann sie nicht vom tiefergehenden Problem ablenken: der wirtschaftlichen Misere des Landes. Darling musste das Wirtschaftswachstum für dieses Jahr noch einmal deutlich nach unten korrigieren. Statt um 3,5 Prozent werde die britische Wirtschaft dieses Jahr um 4,75 Prozent schrumpfen, sagte der Schatzkanzler. Da tröstet es wenig, dass sie 2010 wieder leicht wachsen soll - um höchstens 1,5 Prozent.
Frühere Kolonien überholen Briten
Der wirtschaftliche Verfall ist alarmierend: 2005 war Großbritannien hinter den USA, Japan und Deutschland noch die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt. 2015 wird sie laut dem Centre for Economics and Business Research aus den Top Ten herausfallen. In der Finanzkrise haben sich Länder wie Italien und Frankreich an Großbritannien vorbeigeschoben. Und in den kommenden Jahren wird das frühere Empire wohl auch noch von seinen einstigen Kolonien Kanada und Indien sowie Russland und Brasilien überrundet.
Wachsende Schulden bringen Rating in Gefahr
Der wachsende Schuldenberg bringt sogar das Triple-A-Rating des Landes in Gefahr. Die Rating-Agentur Moody's stufte die Bonität Großbritanniens und der USA am Dienstag als "belastbar" ein, nur noch eine Stufe über "anfällig" - am unteren Ende des begehrten AAA-Siegels. Einigen Analysten geht das nicht weit genug. "Die Fundamentaldaten sind düster und rechtfertigen die Ratings nicht", sagte Citigroup-Analyst Mark Schofield gegenüber "Bloomberg".
Druck auf London nimmt zu
Ein schlechtes Rating macht Kredite für die britische Regierung - und in der Folge wohl auch für die Unternehmen - teurer. Der Druck auf London wächst daher, schneller und stärker zu sparen. Doch Darling bekräftigte nur sein Fernziel: Das Defizit soll von derzeit 13 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in vier Jahren auf sechs Prozent halbiert werden. Wie genau, blieb weitgehend im Vagen.
Boni-Steuer ist Signal an die Bevölkerung
Stattdessen setzt die Regierung mit der Boni-Steuer auf eine Dosis Populismus. Premier Gordon Brown möchte mitten im Wahlkampf im Februar, wenn die Sonderzahlungen in der City ausgeschüttet werden, keine Schlagzeilen über Champagnerorgien lesen. Die Boni-Steuer ist ein richtiges Signal an die Bevölkerung, doch geht sie über Symbolik nicht hinaus. Denn die Einmalabgabe wird das Haushaltsloch nicht verkleinern - ebenso wenig wie Darlings Ankündigung, die Gehälter der bestbezahlten Angestellten im öffentlichen Dienst zu überprüfen und kürzen.
Suche nach neuen Wachstumsmotoren
Es erscheint unvermeidlich, dass die nächste Regierung auch dort drastisch sparen muss, wo es weh tut. Davor scheut Labour jedoch zurück. Bewahren könnte die amtierenden Politiker nur ein kräftiger Aufschwung - doch niemand weiß, wo neue Impulse herkommen sollen. Die Motoren, die den Boom der vergangenen Jahre getrieben haben, werden wohl auf Jahre ausfallen:
Die Finanzindustrie, die auf dem Höhepunkt 2007 über neun Prozent des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftete und sogar 20 Prozent aller Unternehmenssteuern zahlte, wird sich auf deutlich niedrigerem Niveau stabilisieren.
Die Immobilienbranche zeigt Zeichen der Erholung, die Hauspreise steigen seit ihrem Tief im April 2009 wieder. Doch auch dieser Sektor wird nicht wieder die gleiche dominierende Rolle spielen - dafür sorgt schon die striktere Kreditvergabe.
Der öffentliche Sektor, eine der Wachstumsbranchen unter New Labour, muss sich auf besonders harte Einschnitte einstellen.
Trend zur De-Industrialisierung hält an
Die Regierung schaut sich nun nach anderen Branchen um, die den Aufschwung tragen könnten, doch sie findet kaum welche. Das ist der Preis der De-Industrialisierung, die unter der konservativen Premierministerin Margaret Thatcher in den achtziger Jahren begonnen hatte. Unter Tony Blair und Gordon Brown hat sich dieser Trend in den vergangenen zwölf Jahren noch beschleunigt - der Anteil der industriellen Produktion am Bruttoinlandsprodukt sank von 20 auf elf Prozent. Die Globalisierung trug den größten Teil dazu bei, doch auch die Labour-Regierungen trieben den Umbau zur Dienstleistungsgesellschaft voran.
Spielraum geht gegen Null
Der Finanz- und Immobilienboom konnte jahrelang verdecken, wie viel an wirtschaftlicher Substanz auf der Insel verlorengegangen ist. In der Rezession tritt das Vakuum nun deutlich zutage. Regierung wie Opposition beschwören "grüne Industrien" als Zukunft, doch hinkt das Land auf diesem Sektor im internationalen Vergleich hinterher. Darling versprach, der Staat werde den Aufschwung durch weitere Investitionen sichern. Nur geht sein Spielraum gegen Null - öffentliche Investitionen sollen laut seinem Plan bis 2014 halbiert werden. Der Kommentar der "FT": Der Minister stecke in einer "wirtschaftlichen Zwangsjacke".