Samstag, 24. November 2001 Berlin, 20:18 Uhr
Ob CSU, SPD oder parteilos: In München wehren sich alle Verantwortlichen gegen die drohende Rückkehr des jungen Serientäters
Von Jochen Kummer
Die Probe aufs Exempel in der Ausländer- und Zuwanderungspolitik kommt für die Bundesregierung schneller als gedacht: Rot-Grün wird an dem konkreten Beispiel eines jungen Türken Farbe bekennen müssen, wie ernst es ihr mit der Abschiebung krimineller Ausländer ist.
Es geht um den unter dem Namen Mehmet bundesweit bekannt gewordenen türkischen Serienstraftäter Muhlis A., 17. Jahrelang hat dieser gewalttätige Junge seit seinem zehnten Lebensjahr erst München und schließlich ganz Deutschland in Atem gehalten. Im November 1998 konnte er in die Türkei abgeschoben werden. Aber jetzt darf der türkische Staatsbürger Mehmet nach Deutschland zurückkehren. So hat es ein hohes Gericht entschieden.
Das kann Deutschland teuer zu stehen kommen. Der Intensivtäter Mehmet wird den deutschen Steuerzahler nach seiner Rückkehr jährlich über 100.000 Mark kosten. Diesen Betrag im Rahmen der Jugendhilfe kalkulieren die städtischen Münchner Behörden nach Informationen der WELT am SONNTAG bereits für Mehmet ein.
Die Behörden gehen von folgender Rechnung aus: Mehmet muss nach seiner Rückkehr nach Deutschland erneut eine so genannte "Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung" (ISE) erhalten, wie bereits vor seiner Abschiebung. Der Tagessatz betrug schon damals 280 Mark - das ergibt pro Jahr 102.200 Mark.
Mehmet ist das traurige Beispiel eines jugendlichen Intensivtäters. Schon im Alter von zehn Jahren ist der 1984 in München geborene Mehmet kriminell geworden. Mit Körperverletzung und Erpressung fing es an. Schüler trauten sich nicht mehr auf die Straße - aus Angst vor dem körperlich überlegenen Türken. Alle Ermahnungen und Gespräche der Schul- und Jugendbehörde mit seinen Eltern blieben fruchtlos. Mehmet erhielt vom städtischen Jugendamt sogar die teure "Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung" mit einem Sozialbetreuer ganz für sich ganz allein, dazu noch einen Privatlehrer.
Trotzdem beging der junge Gewalttäter aber weitere Straftaten: Mit 14 Jahren war sein Sündenregister auf 62 Straftaten angewachsen: immer wieder Körperverletzung, Raub, Ladendiebstahl. Aber nie konnte Mehmet vor Gericht zur Verantwortung gezogen werden, weil er nach deutschen Recht noch nicht strafmündig war.
Selbst diese Schwelle schreckte ihn nicht: Als er mit 14 Jahren dann strafmündig wurde, beging er wieder einen schweren Raub mit Körperverletzung. Nun konnte er in Haft genommen werden. Das Tauziehen um die Abschiebung des in Deutschland geborenen türkischen Staatsbürgers begann: Im Oktober 1998 wurde er wegen des Raubes zu einem Jahr Jugendhaft ohne Bewährung verurteilt. Da erst gelang es den deutschen Behörden, Mehmet im November 1998 in ein Flugzeug nach Istanbul zu setzen und in die Türkei abzuschieben.
Jetzt aber darf Mehmet nach Deutschland zurückkehren. So hat es der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (VGH) in München entschieden.
Mehmet hatte vor dem Verwaltungsgerichtshof auf Verlängerung seiner Aufenthaltsgenehmigung durch die Stadt München geklagt. Sein Anwalt sagte, Mehmet habe im Heimatdorf seiner Sippe in einer Lackiererei gearbeitet, sei aber mittlerweile arbeitslos. Er habe dort nie Fuß gefasst. Die Landeshauptstadt München muss ihm eine Aufenthaltserlaubnis erteilen.
Das Gericht bejahte Mehmets Anspruch auf Rückkehr. Es berief sich dabei auf einen entsprechenden Beschluss des Assoziierungsrates EWG/Türkei aus dem Jahr 1980.
Es sind Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofes selbst, die die Münchner Behörden jetzt alarmiert haben. Die Richter berufen sich auf ein psychiatrisches Gutachten. In einer Verlautbarung des Gerichts finden sich unter anderem folgende Feststellungen:
"Die Gutachter gehen davon aus, dass der Kläger (Mehmet) aufgrund seiner Erfahrung in der Haft insgesamt eine positive Entwicklung durchlaufen habe, wenngleich sie auch ungünstige prognostische Faktoren festgestellt haben. So bestehe beim Kläger weiterhin eine beachtliche Selbstunsicherheit bezüglich der eigenen Leistungsfähigkeit. Außerdem sei wohl die Aggressivität des Klägers nicht merklich gesunken. Ferner sei zu berücksichtigen, dass der Kläger in seiner Persönlichkeitsentwicklung gestört sei, unter Anpassungsstörungen und Überforderung leide und keine stabile Beziehungserfahrung habe. Diese Gesichtspunkte ließen die Perpetuierung (die Fortsetzung in gleicher Weise) seines früheren Verhaltens wahrscheinlich sein."
In der Verlautbarung des Gerichts heißt es weiter: "Das Gutachten kommt zu dem Ergebnis, dass eine konkrete Vorhersage dazu, ob vom Kläger gegenwärtig die konkrete Gefahr neuer Verfehlungen von erheblichem Gewicht ausgehe, nicht eindeutig zu beantworten sei; dies erfordere ,hellseherische Fähigkeiten'. Erfahre der Kläger bei der Rückkehr in das Bundesgebiet Erfolgserlebnisse, sei mit einer positiven Entwicklung zu rechnen. Bei einer Frustration könne es jedoch wieder zu einem Rückfall kommen."
Das Gericht nennt die Folgerungen aus dem Gutachten: "Letztlich bedürfe der Kläger weiterer therapeutischer Hilfe und einer Betreuung, um ihn bei einer Rückkehr aufzufangen. Wenn möglich solle er nicht mit den Eltern zusammenleben, sondern außerhalb des Elternhauses pädagogisch gefördert und in Zusammenarbeit mit seinem früheren Betreuer seine individuellen Probleme aufarbeiten können."
Eine Revision gegen das Urteil lässt das Gericht nicht zu. Nur gegen diese Entscheidung der Nichtzulassung der Revision kann Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht eingelegt werden.
"Die Beschwerde ist bereits geschrieben", sagte die Leiterin des Münchner Ausländeramtes, Claudia Vollmer, gestern WELT am SONNTAG: "Kommende Woche wird sie eingelegt."
In München herrscht darüber in allen politischen Lagern Einigkeit: Die Leiterin des Münchner Ausländeramtes wird den Linken zugerechnet. Der jetzige, in München für Abschiebungen zuständige Kreisverwaltungsreferent ist ein Parteiloser, der auf Vorschlag der SPD eingesetzt wurde. Münchens Oberbürgermeister Christian Ude ist SPD-Mitglied. Kreisverwaltungsreferent Wilfried Blume-Beyerle warnte ausdrücklich, "dass Mehmet nach wie vor eine konkrete Gefahr für die Bevölkerung ist".
Auch Bayerns Innenminister Günther Beckstein (CSU) kündigte eine Beschwerde an. Mehmets Taten seien Ausdruck extremer Verrohung und Gewaltbereitschaft, sagte der Minister. Das Gutachten bescheinige Mehmet zwar, reifer geworden zu sein. "Spätestens dann, wenn er in seine Neuperlacher Clique zurückkehrt, droht aber doch ein Rückfall in frühere Verhaltensmuster", sagte Beckstein.
Und der CSU-Bundestagsabgeordnete Hans-Peter Uhl, der 1998 als ehemaliger Münchner Kreisverwaltungsreferent mit der Abschiebung Mehmet befasst war, hat nun zwei schriftliche Fragen an die Bundesregierung gerichtet und dem Vorgang damit bundespolitische Brisanz gegeben.
Uhl will wissen, welche Maßnahmen die Bundesregierung in Fällen wie Mehmet ergreifen will, um weitere schwere Straftaten von jugendlichen kriminellen Ausländern zu verhindern. Und zweitens, ob die Regierung durch ihren Innenminister Schily auf europäischer Ebene darauf hinwirken will, dass eine Abschiebung trotz des Beschlusses des Assoziierungsrates EWG/Türkei erlaubt bleibt.
Mehmet wird so zum Exempel für die Ernsthaftigkeit der Zuwanderungspolitik von Bundeskanzler Schröder und Innenminister Schily. AP/DDP/DPA/HR
www.welt.de/daten/2001/11/25/1125de298095.htx