New York - Am Times Square herrscht das übliche Chaos. Fußgänger und Autofahrer zanken sich um jeden freien Quadratmeter, Touristenpulks verstopfen die Zebrastreifen, vor dem neuen Karten-Pavillon für Broadwayshows stehen die Leute bibbernd Schlange. Schneeflocken wirbeln durch den eisigen Wind.
Und doch scheint am Dienstag etwas anders. Auffällig viele Marktschreier nötigen den Passanten ihre Flugblätter auf - mit einer Hyper-Aggressivität, die manchmal fast zu Rempeleien führt. Die neueste Theaterpremiere! Der lustigste Comedy-Abend! Kinder dürfen umsonst ins Musical! "Einmalige Chance", brüllt einer. "Rezessionsangebot!"
Auch in den Mega-Läden ringsum herrscht überall das gleiche Panik-Motto: "Alles muss raus." Die größte US-Modekette GAP wirft Pullover um 40 Prozent reduziert unters Volk. Das Spielzeugparadies Toys R Us schlägt sogar die Hälfte ab, ebenso der Sportartikelverkäufer Champs. Der Surf-Laden Quiksilver bietet Gratis-Versand für alle Einkäufe über 49 Dollar.
Trotzdem sind die viele Geschäfte und Theater halb leer - knapp eine Woche vor Weihnachten.
Amerika hat Ausverkauf, doch keiner will mehr kaufen. Und dann flackert es hier am Times Square, dem schrillen Schrein des Konsumtempels New York, gegen 14.30 Uhr Ortszeit als breaking news über das LED-Nachrichtenband: Die US-Notenbank habe den Leitzins erneut gesenkt, ist auf dem "Zipper" zu lesen. Auf Null bis 0,25 Prozent. Wer sich die Mühe machte, seine Hast durchs Menschengewühl für einen Augenblick zu verlangsamen, konnte das Wort "Zero" lesen. Doch kaum einer tat das.
Die Federal Reserve Bank wagt das Beispiellose - doch der drangsalierte Bürger hetzt achtlos weiter. Der "Zero-Effekt", so haben es die Analysten und Kommentatoren gleich getauft: Die Fed greift zum letztmöglichen Zinsmittel in ihrem Don-Quijote-Kampf gegen Finanz- und Konjunkturkrise, gegen Rezession und Inflation. Null Prozent, das hat es hier noch nie gegeben, das kennt man eigentlich nur aus dem Japan der neunziger Jahre.
"Das ist der Stoff, aus dem Geschichtsbücher geschrieben werden", donnerte Mohamed El-Erian, Chef des weltgrößten Bond-Investors Pimco, im TV-Wirtschaftssender CNBC. "Unorthodox und kreativ", kommentierte auch Michael Woolfolks, Währungsstratege bei der Bank of New York-Mellon. Damit offenbare die Fed, wie schlimm die Lage wirklich ist - schlimmer als befürchtet. "Allen Ernstes, wir stecken tief in der Patsche", schrieb Nobelpreisträger Paul Krugman in seinem Blog. "Da rauszukommen, wird viel Kreativität erfordern und wohl auch Glück."
Neue Hiobsbotschaften zu Beginn des Tages bestätigten den Expertenpessimismus: Die US-Wirtschaft wird trotz der "Medizin" ("Wall Street Journal") der Fed immer kränker. Die Investmentbank Goldman Sachs, die die Turbulenzen bisher als einzige noch relativ schadlos überstanden hatte, meldete einen Quartalsverlust von 2,12 Milliarden Dollar - das erste Minusquartal überhaupt, seit der Wall-Street-Star 1999 an die Börse ging.
Der Verbraucherpreisindex - die Messlatte für Lebenshaltungskosten - fiel seit November um 1,7 Prozent, der stärkste US-Preisverfall seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Dahinter steckte vor allem der Sturz der Energiepreise. Schon spukt das Geisterwort " Deflation" durch die Kommentare. Die US-Konsumenten wird das zunächst aber wenig anspornen: Wer kauft sich schon ein Auto, wenn er hofft, dass es bald noch billiger wird?
Ökonomen erwarten deshalb, dass das US-Bruttoinlandsprodukt in diesem Quartal um 6,5 Prozent schrumpfen wird. Das wäre damit das schlechteste Quartal seit 1980. Auch der Immobilienmarkt, inzwischen seit drei Jahren im Niedergang, siecht den jüngsten Daten zufolge weiter dahin. "Die Situation wird immer schlechter", sagte David Crowe, Chefökonom der National Association of Home Builders.
Die US-Börsen reagierten indes mit reflexartiger Erleichterung auf die Maßnahme der Fed: Der Dow Jones legte 4,2 Prozent zu, der Nasdaq 5,4 Prozent, der S&P 500 5,1 Prozent. Viele Börsianer wähnen sich dennoch längst nicht in Sicherheit: "Panik weicht, Angst bleibt", schrieb David Gaffen auf "Marketbeat", dem Börsenblog des "Wall Street Journals".
Der "Zero-Effekt" - nach dem sich die US-Banken nunmehr "auf absehbare Zeit" zum Nulltarif bei der Fed und untereinander Geld leihen können - ist ohnehin eher symbolisch. Die Kreditmärkte sind so eingefroren, dass die faktischen Zinsen sowieso kaum noch über Null lagen: Der Tagesgeldsatz für US-Banken war zuletzt unter 0,2 Prozent gerutscht. Gaffen nannte die Fed-Aktion deshalb "mehr oder weniger sinnlos".
Die Verbraucher werden ebenfalls wenig davon haben. "Wir Konsumenten werden nicht viel mehr tun als die Schultern zucken", schrieb die Wirtschaftspsychologin Carmen Wong Ulrich auf CNBC.com. "Zinskürzungen der Fed führten bisher nicht zu niedrigeren Kreditkarten-Zinsen. Hypothekenzinsen bewegen sich, wie sie wollen. Wird das helfen, die Wirtschaft und die Märkte zu stützen, damit wir die Abwärtsspirale stoppen? Ich glaube, dass sich die Fed das Gleiche fragt. Schulterzucken."
Stattdessen versucht die Notenbank - deren Zinspäpste zwei Tage lang über ihr Vorgehen beraten hatten - hier eine starke, hörbare Botschaft zu senden. Sie läutet eine neue Phase ein: An der Zinsschraube kann nicht weiter gedreht werden. Fortan wird sie aggressivere, vor allem ungeprüfte Mittel anwenden, um die Kreditmärkte aufzutauen.
Hinter der Zusicherung der Zentralbanker, "alle verfügbaren Instrumente zu nutzen, um die Rückkehr zu einem nachhaltigen Wachstum zu fördern und die Preisstabilität zu wahren", verbirgt sich im Klartext nämlich nichts anderes als das Versprechen, Unsummen an Geld zu drucken. Und damit will die Fed Banken, Unternehmen und Verbrauchern unter die Arme greifen.
Zum Beispiel durch den massive Ankauf von Wertpapieren angeschlagener Hypothekenbanken wie Fannie Mae. Einen ganzen Schub solcher Wertpapiere, im Wert von rund 600 Milliarden Dollar, will die Fed zum Jahresende erwerben. Ein weiteres Ankaufprogramm, auf 200 Milliarden Dollar veranschlagt, ist ab Februar für Wertpapiere geplant, die an Autokredite, Studentendarlehen und Kreditkartenschulden gekoppelt sind.
Was geschieht mit all diesem neuen Geld im System, wenn sich die Krise wieder beruhigt? "Irgendwann muss die Fed das ganze Geld, das sie schafft, auch wieder zerstören", sagte der Wirtschaftsprofessor Alan Binder von der Princeton University der "New York Times".
So oder so: Der designierte US-Präsident Barack Obama weiß, dass er die Krise erben wird. Während die Fed in Washington ihre spektakuläre Zinssenkung verkündete, hockte er im verschneiten Chicago vier Stunden lang mit seinem Wirtschaftsteam zusammen. Thema: ein neues, gigantisches Paket zur Konjunkturstimulierung, das über die nächsten zwei Jahre bis zu einer Billion Dollar betragen könnte. "Uns geht die traditionelle Munition aus", sagte Obama.
Vorerst dürfte es am Times Square also weiter Pullis und Musicals zum Ramschpreis geben.
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