Michail Krutichin : "Russlands Defizit wird kolossal sein"
Das EU-Embargo für Öl und Gas wird Russland bald hart treffen, sagt der Energieexperte Michail Krutichin. Welche Auswirkungen hat das auf den Krieg?
Interview: Daria Boll-Palievskaya
Michail Krutichin ist Kenner der russischen Energiebranche und Partner des Beratungsunternehmens RusEnergy. Er erklärt, wie durch den europäischen Preisdeckel für Öl aus Russland und das Embargo die russische Staatswirtschaft und der Haushalt unter starken Druck geraten: Unter anderem fehlt es an Abnehmern.
ZEIT ONLINE: Herr Krutschin, seit Dezember ist der Preisdeckel für russische Öllieferungen in Kraft. Gibt es bereits Zahlen, die Aufschluss darüber geben, wie sich dies auf den russischen Haushalt auswirkt?
Michail Krutichin: Im russischen Haushalt ist der Preis für die Rohölsorte Urals für 2023 auf 69 US-Dollar pro Barrel festgesetzt, es wird aber für weniger als 40 US-Dollar verkauft. Dabei handelt es sich um einen Durchschnittspreis, der auch teurere Öllieferungen wie das leichte Sokol-Rohöl aus dem Projekt Sachalin I oder das ESPO-Rohöl aus Ostsibirien und Jakutien umfasst. So wird das Urals-Öl, das zwei Drittel der russischen Exporte ausmacht, zu einem Preis angeboten, der nicht einmal die Kosten für die Produktion und den Transport zum nächsten Hafen deckt. Der russische Haushalt bekommt also gar nichts davon.
ZEIT ONLINE: Laut aktuellen Daten der russischen Regierung stiegen die russischen Haushaltseinnahmen jedoch im vergangenen Jahr um 2,6 Billionen Rubel.
Krutichin: Ja, aber 1,2 Billionen Rubel sind Gazprom buchstäblich mit einem Federstrich weggenommen worden. Außerdem hat Russland die Mineralgewinnungssteuer deutlich erhöht. Das heißt, der Haushalt erhielt Geld, nicht weil das Land etwas produzierte und verkaufte, sondern weil es den Ölfirmen abgezogen wurde. Es wird weitere illegale, also über die Steuer hinausgehende Entnahmen geben. Die Regierung wird einfach sagen, dass die großen Ölproduzenten, insbesondere die staatlichen Unternehmen, "zu viel Geld haben", und anordnen: "Zahlt uns mehr."
ZEIT ONLINE: Welche Folgen hat dies für die Ölkonzerne?
Krutichin: Ich spreche mit vielen Unternehmen. Alle sagen: "Das Wichtigste ist jetzt, zu berechnen, wie wir die Produktion drosseln können." Weil solche Mengen von unseren Raffinerien, die Ölprodukte exportieren, nicht benötigt werden. Am 5. Februar beginnt ein Embargo für russisches Benzin, Heizöl und so weiter auf den Märkten, auf die sie hauptsächlich geliefert wurden: Europa und die USA. Infolgedessen werden Ölraffinerien die Produktion drosseln müssen und den Ölfeldern ein Signal geben: "Sorry, wir brauchen nicht so viel Rohöl." Dies wiederum wird zur Schließung von Bohrlöchern führen.
Bisher scheint das erste Rohölembargo, das am 5. Dezember in Kraft trat, keine großen Auswirkungen auf die russischen Lieferungen gehabt zu haben. Die Exporte gehen weiter, zum Beispiel nach Indien, das seine Käufe von russischem Öl stark gesteigert hat. Aber nur weil sein Preis im Vergleich zum Preis der Sorte Brent um fast 40 US-Dollar gefallen ist. Doch wenn das Embargo für Erdölprodukte in Kraft tritt, werden Indien oder China nicht einspringen, denn sie sind selbst Exporteure von Erdölprodukten.
ZEIT ONLINE: Der Seetransport von russischem Öl ist zurückgegangen. Aber angeblich gelang es Russland, genug Tanker zu kaufen und so den Preisdeckel zu umgehen.
Krutichin: Über Tanker ist nichts Genaues bekannt. Insgesamt gibt es weltweit etwa 200 Schiffe, die geschmuggeltes Öl aus Venezuela und dem Iran transportieren. Experten sagen, dass vor Kurzem etwa 100 alte Tanker von dubiosen Unternehmen mit unbekannten Eigentümern erworben wurden, offenbar im russischen Auftrag. Aber an wen werden sie russisches Öl über der von der EU festgesetzten Obergrenze von 60 US-Dollar pro Barrel verkaufen, wenn sein Marktpreis viel tiefer gefallen ist? Niemand ist bereit, zu viel zu bezahlen. Es handelt sich um ein toxisches Produkt, das nur billig gekauft wird.
ZEIT ONLINE: Die Preisobergrenze hat also funktioniert?
Krutichin: Ja, und zwar sehr gut. Es gibt kein Kaufverbot für russisches Öl – mit Ausnahme von Ländern, die ein Embargo verhängt haben. Das Verbot gilt für den Transport, also Reedereien und Versicherungsgesellschaften, wenn sie die Preisobergrenze nicht einhalten. Infolgedessen entschied der Markt, dass russisches Öl nicht mehr als 60 US-Dollar kosten sollte. In seinem Erlass erklärte Putin, dass Russland kein Öl an diejenigen liefern werde, die in Verträgen auf die Preisobergrenze Bezug nehmen. Aber das macht doch überhaupt keinen Sinn. Denn die Länder, die das Embargo verhängt haben, haben bereits auf russisches Öl verzichtet.
ZEIT ONLINE: Russische Ölverkäufe an die EU gingen bis Ende Dezember um 90 Prozent zurück. Hat Russland den europäischen Markt für immer verloren?
Krutichin: Ja, es gibt nur noch wenige Käufer in Europa, für die Ausnahmen gemacht wurden. Die Tschechische Republik, die Slowakei und Ungarn erhalten Öl über die Druschba-Pipeline. Wenn die Brunnen jedoch stillgelegt oder liquidiert werden, ist es unmöglich, sie später wieder in Betrieb zu nehmen. Neue Bohrungen in dieselbe unterirdische Lagerstätte sind wirtschaftlich nicht tragbar. 2020 vereinbarte Russland mit der Opec erstmals eine Reduzierung der Ölproduktion. Damals begannen die Ölgesellschaften, die am wenigsten ergiebigen Quellen stillzulegen. Jetzt kann es sein, dass ganze Felder stillgelegt werden.
ZEIT ONLINE: Ab Februar wird es auch für Gas eine Preisobergrenze geben.
Krutichin: Das ist noch nicht entschieden. Die Initiative geht von Europa aus, aber Europa kauft schon jetzt immer weniger russisches Gas. Bislang fließt ein kleiner Strom über die Ukraine und die Pipeline TurkStream, deren Kapazität nur 16 Milliarden Kubikmeter pro Jahr beträgt. Daher macht es keinen Sinn, eine Preisobergrenze für so kleine Mengen festzulegen. Und es würde den gesamten Gasmarkt betreffen. Europa kauft immer mehr Flüssiggas, und wenn die Preise reguliert werden, werden Händler es dorthin verkaufen, wo der Preis höher ist.
"Es war Putins politischer Wille, Europa einzufrieren"
ZEIT ONLINE: Kann Russland Flüssiggas liefern?
Krutichin: Russland liefert bereits solches Gas aus zwei Gasfeldern. Ein Projekt mit einer Kapazität von 20 Millionen Tonnen pro Jahr ist beispielsweise die Gasgesellschaft Jamal LNG. Beteiligt sind der größte private Gaskonzern des Landes, Novatek, zwei chinesische und ein französisches Unternehmen. Sie bekommen das Gas praktisch umsonst, denn sie zahlen weder Gewinnsteuern noch Mineralgewinnungssteuern noch Ausfuhrzoll. Russland hat diese Akteure für zwölf Jahre von allen Steuern befreit, um Vorkommen in der Arktis zu erschließen. Fazit: Wenn von Flüssiggaslieferungen aus Russland die Rede ist, muss man genau hinsehen, wem es wirklich gehört. Der russische Haushalt hat von diesen Lieferungen nichts.
ZEIT ONLINE: Putin hat versprochen, dass Europa ohne russisches Gas erfrieren würde, wir haben aber einen warmen Winter. Also entscheidet alles das Wetter?
Krutichin: Das Wetter ist nur ein Faktor. Putin hat bereits im April 2021 damit begonnen, die Gaslieferungen nach Europa zu drosseln, indem er die Gaspipelines stilllegte, die Lieferungen reduzierte und das Pumpen von Gas in unterirdische Speicher in Europa stoppte. Der Kreml hat alles dafür getan, dass Gazprom als Exporteur auf dem wichtigsten Markt Selbstmord begeht. Es gab keine Boykotte, keine Verbote für russisches Gas. Es war Putins politischer Wille, er beschloss, Europa einzufrieren. Doch Europa befreite sich buchstäblich innerhalb eines Jahres von der Abhängigkeit von russischem Gas.
ZEIT ONLINE: Kann Russland diese Mengen zum Beispiel nach China liefern?
Krutichin: Bereits seit 2019 wird Gas über die Erdgaspipeline Kraft Sibiriens nach China geliefert, das Liefervolumen wächst – ein neues Feld wurde angeschlossen, neue Quellen angebohrt und neue Kompressoren installiert. Aber diese Pipeline wird ihre Kapazität von 38 Milliarden Kubikmetern erst im Jahr 2025 erreichen. Um den europäischen Markt zu ersetzen, muss eine neue Pipeline von der Jamal-Halbinsel, Kraft Sibiriens 2, mit einer Kapazität von 50 Milliarden Kubikmetern in Betrieb genommen werden. Aber es wird mindestens zwölf Jahre dauern, ein solches Rohr zu bauen. Und China hat noch nicht dem Projekt zugestimmt.
ZEIT ONLINE: Werden all diese Maßnahmen – Embargos, Preisobergrenzen – dazu führen, dass Russland weniger Geld für den Krieg hat?
Krutichin: Ich denke, dass die Einnahmenseite des russischen Haushalts dieses Jahr um 30 Prozent absinken wird. Russlands Defizit wird kolossal sein. Überschüsse aus dem Ölverkauf fließen gemäß dem von Putin am 21. November unterzeichneten Gesetz zur Änderung der Haushaltsregel nicht in den Akkumulationsfonds, sondern direkt in den Haushalt. Werden diese Mittel verwendet, um den Lebensstandard der Bevölkerung zu verbessern? Nein, sie werden in die Militärausgaben fließen. Putin hat auch gesagt, dass sie erhöht werden sollen. Wenn die Mittel erschöpft sind, wird es zu einer gigantischen Inflation und steigenden Preisen kommen. Aber der Krieg wird weiter finanziert.
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