Ausnahmezustand an den Weltbörsen: Der Dow Jones Industrial Average kletterte in den vergangenen zwei Monaten um 31 Prozent, der Standard & Poor's 500 sogar um 37 Prozent. Noch schwindelerregender fällt die Entwicklung bei den Schwellenländern aus. Brasilianische Aktien, vor Monaten noch geprügelt unter fallenden Rohstoffpreisen und fatalen Unternehmenswetten auf Wechselkurse, schossen sogar seit Oktober um 75 Prozent in die Höhe. Selbst im schwächelnden Deutschland greifen Anleger wieder zu, der Leitindex Dax liebäugelt mit der Schwelle von 5000 Punkten.
Experten streiten, ob es sich um eine Bärenmarktrally oder eine nachhaltige Aufwärtsbewegung handelt. FTD.de hat die wichtigsten Argumente, die gegen das Kursfieber sprechen, zusammengetragen. Hier der Überblick.
Bewertung - Schnäppchen sehen anders aus
Nach der erstaunlichen Rally mehren sich die Stimmen, dass Aktien alles andere als günstig bewertet sind. Beispiel Vereinigte Staaten. Laut der Nachrichtenagentur Bloomberg liegen bereits 34 Prozent aller Unternehmen im S&P 500 mit ihren Aktienkursen über den Kurszielen der Analysten. Der Index ist insgesamt nur noch fünf Prozent von den Kurszielen von mehr als 1700 Analysten entfernt.
Ein weiterer Grund zur Vorsicht ist das Verhältnis zwischen Kurs und Gewinn (KGV). Der Quotient zwischen aktuellem Kurs und den für das kommende Jahr prognostizierten Gewinnen in den USA lag laut Morgan Stanley vergangene Woche bei 14,5. Zum Vergleich: In den vergangenen 25 Jahren waren es 15 gewesen. "Davon auszugehen, dass sich die Kursgewinne von diesem Niveau aus fortsetzen, wäre unrealistisch", sagte Leo Grohowski, Leiter Anlagestrategie in der Vermögensverwaltung von Bank of New York Mellon.
Eine andere alarmierende Rechnung stellen die Strategen der Credit Suisse auf. Sie untersuchten die realen Gewinne je Aktie seit 1919 und errechneten ein Trendwachstum von 2,1 Prozent, was Unternehmensprofite von 61 Mrd. $ entsprechen würde. Daraus leiten sie eine Risikoprämie von 5,4 Prozent ab. "Momentan sind wir nur noch eine Standardabweichung davon entfernt. Aktien sind also nur noch sehr begrenzt als billig zu bezeichnen", schreiben die Experten in einer Studie.
Wirtschaftswachstum - Stopp des Abschwungs, aber keine Erholung
"'Stell Dir vor, es geht und keiner kriegt's hin.' Ähnliches lässt sich derzeit auch von den Aktienmärkten behaupten", schreiben die Strategen der Vermögensverwaltung Tiberius Asset Management in ihrem aktuellen Marktkommentar. Ihre Botschaft: Die aktuelle Rally ist kräftiger als gedacht und bietet kurzfristig gute Chancen.
Der Aufwärtstrend halte aber nicht lange an: "Dieses dürfte nur ein Strohfeuer in einem übergeordneten Baissetrend sein. Wir glauben an eine Wiederholung des Jahres 2003, nicht aber an eine Wiederholung der Jahre 2004 folgende", urteilen die Tiberius-Experten, deren Fokus besonders auf Rohstoffe liegt. 2003 legte der S&P 500 um rund 40 Prozent zu, von März 2003 bis Oktober 2007 kletterten die Notierungen um 95 Prozent.
De-Leveraging versus Green Shoots
Solche Prognosen stützen sich darauf, dass eine kurze, nicht-nachhaltige V-förmige Erholung der Weltwirtschaft einsetzt. Verfechter dieser Ausblicke blicken mit großer Skepsis auf die Verbesserung zahlreicher Konjunkturindikatoren. Während Optimisten wie die Strategen von Barclays Capital von einem "Wendepunkt" und zahlreichen "grünen Sprösslingen" (Green Shoots) sprechen, blicken die Pessimisten auf die gewaltige Schuldenlast weltweit.
Laut Credit Suisse häuften Unternehmen, Verbraucher und Regierungen Verbindlichkeiten an, die 7000 Mrd. $ oder (gemessen am globalen Bruttoinlandsprodukt) 28 Prozent über dem langfristigen Trend liegen. Das Argument: Wenn die Schulden abgebaut werden, kann keine Erholung einsetzen. Das "De-Leveraging" würde die grünen Sprösslinge im Keim ersticken. Erste Anzeichen gibt es bereits: So nahm das Volumen an ausstehenden Konsumentenkrediten im März um 11,1 Mrd. auf 2550 Mrd. $ ab, das ist der größte Einbruch seit Beginn der Datenaufzeichnung 1943.
Anleihenrendite - Angst vor dem Platzen der Bondblase
Viele dachten, dass US-Notenbankchef Ben Bernanke die Rendite zehnjähriger US-Staatsanleihen durch Aufkäufe bei 3,0 Prozent fixieren würde. Doch das war ein Irrtum: Derzeit notierten die Papiere bei 3,2 Prozent. Allein seit Ende Dezember verloren sie rund 63 Prozent ihres Werts. Bei festverzinslichen Wertpapieren bewegen sich Kurse und Renditen gegenläufig.
Die große Frage lautet nun: Wie entwickeln sich die Anleihenrenditen? Sollten sie steigen, wäre das für die Aktienmarktrally eine Bedrohung. Eine Ursache für steigende Renditen könnte die zunehmende Staatsverschuldung aller großen Industrieländer sein. Goldman Sachs geht davon aus, dass Washington dieses Jahr 3250 Mrd. $ an neuen Papieren begeben wird, um das Haushaltsdefizit zu finanzieren.
Steigende Renditen wegen hoher Staatsverschuldung
Damit die gewaltige Menge platziert werden kann- so das Argument -, muss der Staat eine höhere Verzinsung bieten. Vermögensverwalter wie Blackrock, American Century Investments und Federated Investors hoffen daher auf größere Anleihekäufe der Fed. Bislang pumpte die Notenbank 92,2 Mrd. $ in den Markt, insgesamt hat das Programm eine Dimension von 300 Mrd. $. "Die Fed muss darüber nachdenken, den Kauf von Staatsanleihen auszuweiten", sagte Stuart Spodek, Leiter Bonds bei Blackrock. "Wir befinden uns immer noch in einer Rezession. Es sieht ziemlich schlimm aus. Sie müssen die langfristigen Zinssätze stabilisieren
"
Optimistisch gestimmt sind die Analysten der Commerzbank. Sie glauben nicht an steigende Renditen. Sie begründen das damit, dass eine steigende Verschuldung des Staates mit einer rückläufigen Verschuldung der Privathaushalte einhergehe. "So weitete die US-Regierung die Staatsverschuldung in den Rezessionen von 1974, 1980/82, 1991 und 2001 zwar kräftig aus. Gleichzeitig nahm aber die Kreditdynamik bei den Privaten ab", schreibt Bondexperte Christoph Balz. "In der Summe expandierte der Kreditmarkt daher in den vergangenen Jahren mit recht stabilen Raten von fünf bis neun Prozent, trotz der großen Schwankungen in den einzelnen Sektoren."
Bankensystem - Solide, aber noch nicht gerettet
Die großen Gewinner der vergangenen Monate sind die Banken. Sie profitieren von staatlichen Rettungsschirmen, einer großen Aktivität auf den Bondmärkten und den Resultaten der US-Stresstests, die "nur" eine Kapitallücke von 75 Mrd. $ auswiesen.
Skeptiker misstrauen der Entwicklung aber. Die Experten der Credit Suisse verweisen darauf, dass nur Großbritannien und Irland eine umfassende Lösung zum Umgang mit toxischen Papieren präsentiert hätten. Allein für die USA belaufe sich der Umfang solcher problematischer Anlagen auf 3000 Mrd. $, schätzt Credit-Suisse-Anleiheexperte Dominic Konstam. "Das Risiko besteht darin, dass Verluste und Abschreibungen weit aus höher ausfallen als gedacht", urteilen die Credit-Suisse-Experten.
Europas Banken in der Verlustzone?
Vor diesem Hintergrund warnen Analysten vor einem zu frühen Einstieg in Bankaktien. Rund die Hälfte der europäischen Banken könnte bis Ende 2009 oder 2010 in die Verlustzone rutschen, schrieb Deutsche-Bank-Analyst Matt Spick in einer Notiz. In dieser Phase dürften die Rückstellungen für faule Kredite ihren Höhepunkt erreichen. Der Internationale Währungsfonds rechnet damit, dass sich weltweit die Abschreibungen auf Kredite für den Zeitraum von 2007 bis 2010 auf 2800 Mrd. $ summieren werden.
Auch die staatliche Unterstützung birgt Risiken. Banken mit Kapitalbedarf könnten versuchen, diesen durch die Umwandlung von Vorzugs- in Stammaktien zu decken. Damit würden die Anteile der Altaktionäre verwässert. Den Anteilseignern drohen darüber hinaus auch im Zuge der Rückzahlung von Staatshilfe Einbußen: Deutsche-Bank-Analyst Spick erwartet, dass die Institute die Rückzahlung größtenteils aus den Einnahmen oder dem Kapital stemmen werden. Da aber allein die europäischen Banken 200 bis 300 Mrd. Euro zurückzahlen müssten und die Erträge auf Sicht niedrig bleiben dürften, warnt er in einer Notiz, könne es bis spätestens 2014 dauern, bis die Institute frei von Staatseinfluss sind. Die Aktionäre würden in dieser Zeit faktisch keine Dividenden erhalten.
Private Equity - Viel Kapital, aber auch zahlreiche Probleme
Der "Business Week" ist Private Equity die Titelgeschichte wert. "Testing the waters - how a $ 1 trillion war chest could revive the economy", schreibt das Wirtschaftsmagazin in seiner aktuellen Ausgabe. Beteiligungsgesellschaften wie Blackstone oder KKR erwerben Unternehmen deren Kauf sie vor allem über Fremdkapital finanzieren. Die Hoffnung lautet jetzt, dass die Private-Equity-Häuser in großem Stil Firmen und Wertpapiere aufkaufen - und so sowohl der Wirtschaft als auch den Aktienmärkten Auftrieb geben.
Laut dem Researchhaus Prequin sitzt die Buy-out-Branche auf Kapital von 1000 Mrd
$. Die Anleger sind immer noch zuversichtlich: Allein im Jahr 2008 flossen 554 Mrd. $ von Pensionsfonds in Richtung Private Equity, 2009 waren es trotz der Turbulenzen 49 Mrd. $. "Sie tauchen auf der Party mit prallgefüllten Taschen auf", sagte Donna Hitscherich, Professorin an der Columbia Business School in New York.
Pleiten und Fremdkapitalknappheit sind Hindernis
Retter oder nicht? Skeptiker verweisen auf die sich häufenden Firmenpleiten. Laut der Ratinagentur Moody's lag die Ausfallquote bei Unternehmen mit einer spekulativen Bonitätsnote im ersten Quartal in den USA bei 7,4 Prozent. Zum Vergleich: Der historische Durchschnitt beträgt fünf Prozent. Die Ratingagentur geht davon aus, dass die Quote im Laufe des Jahres bis auf 14,1 Prozent klettern wird. Da in vielen Fällen hinter Unternehmen mit Junk-Status eine Beteiligungsgesellschaft steckt, sind Abschreibungen wahrscheinlich.
Der zweite Grund, die Kraft der Private-Equity-Branche nicht zu überschätzen, ist die Zurückhaltung der Banken, die Branche mit ausreichend Fremdkapital zu versorgen. Umfragen unter Finanzinstituten - darunter die Lending Surveys der Fed und der Europäischen Zentralbank - deuten auf eine verschärfte Kreditvergabe hin. Da zahlreiche Banken ihre Bilanz schrumpfen wollen, sei es eher unwahrscheinlich, dass der große Buy-out-Boom einsetzt, sagen Analysten.
Autor/Autoren: Tobias Bayer (Frankfurt)
(c) FTD
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