SZ 20.12.07 (Anm. Trickse: siehe besonders letzten Absatz)
Die Grande Dame der Wall Street über die weitere Entwicklung der amerikanischen Börsen, richtige und falsche Prognosen, die Grenzen der Macht bei der Notenbank - und die Kluft zwischen Washington und dem Rest der USA in Umweltfragen.
Abby Joseph Cohen, 55, gilt als eine der einflussreichsten Frauen an der New Yorker Wall Street. Die Ökonomin startete ihre Karriere bei der US-Notenbank Federal Reserve.
Sie sagte zu Beginn der neunziger Jahre als eine der ersten den spektakulären Boom der Aktienkurse bis zur Jahrtausendwende voraus. Heute ist Cohen oberste Investment-Strategin bei Goldman Sachs in New York.
SZ: Ähnelt die Situation nicht eher derjenigen am Ende des Internet-Booms?
Cohen: Der Unterschied bei den Aktienbewertungen ist dramatisch. Der S&P-500-Index liegt heute ungefähr gleich hoch wie Ende 1999. Der Gewinn pro Aktie aber ist seither um 75 Prozent gestiegen, entsprechend niedriger ist das Kurs-Gewinn-Verhältnis. Und die amerikanische Volkswirtschaft ist größer als 1999.
SZ: Sie haben den Ruf, immer optimistisch zu sein. Viele werfen Ihnen heute noch vor, dass Sie den Zusammenbruch der Internet-Blase nicht erkannt haben. Macht Ihnen das zu schaffen?
Cohen: Das ist weitgehend ein Mythos. In Wirklichkeit haben wir unseren Kunden im März 2000 und damit genau zum richtigen Zeitpunkt geraten, Aktien zu verkaufen. Wir sagten klar, dass Teile des Marktes, besonders Technologie- und Telekom-Aktien dramatisch überbewertet waren. Einige Medien haben damals die beginnende Marktschwäche sogar auf die Empfehlungen von Goldman Sachs zurückgeführt. Nein, damals lagen wir genau richtig. Falsch lagen wir Sommer 2001, weil wir die schrecklichen Dinge nicht vorausgesehen haben, die kommen sollten.
SZ: Zurück zur Gegenwart: Viele Banken haben ihre Bücher noch nicht bereinigt. Niemand weiß, wie viele faule Kredite in den Büchern stehen.
Cohen: Die nächsten Monate werden mit Sicherheit eine sehr verwirrende Zeit werden. Aber da sollte man genau hinsehen. Nach den neuesten Bilanzierungsvorschriften müssen amerikanische Unternehmen ihr Vermögen zum „fairen Wert“ verbuchen und deshalb häufig neu bewerten. Dies wird zu erheblichen Schwankungen in den ausgewiesenen Ergebnissen führen. Im dritten Quartal wurden die Ergebnisse der Finanzinstitute um 40 Prozent gekürzt, die Zahlen im vierten Quartal werden nochmals hässlich werden. Das bedeutet aber auch, dass dann, wenn sich die Lage 2008 beruhigt hat, die Zahlen möglicherweise schnell wieder besser werden.
SZ: Grundlage Ihrer optimistischen Prognose ist eine niedrige Inflation. Aber wie zuverlässig ist diese Annahme? Im November sind die Verbraucherpreise in den USA um 4,5 Prozent gestiegen.
Cohen: Wir glauben tatsächlich, dass die Talsohle in der Entwicklung der Inflation vor zwei Jahren erreicht wurde; jetzt geht der Trend nach oben.
SZ: Kein Grund, pessimistisch zu sein?
Cohen: Der Anstieg wird moderat sein, und man muss ihn von den November-Zahlen trennen, die auf die hohe Rohstoffpreise zurückzuführen sind. Die machen aber in den USA nur zehn Prozent der Produktionskosten aus. Worauf es ankommt, sind die Arbeitskosten, auf die zwei Drittel aller Kosten entfallen. Derzeit steigen die Löhne um 3,5 bis Prozent; das ist mehr als die Inflationsrate, was bedeutet, dass der Lebensstandard der Arbeitnehmer steigt. Auf der anderen Seite ist die Arbeitsproduktivität aber ebenfalls gestiegen, und zwar um drei Prozent. Die Unternehmer müssen also netto nur 0,5 bis ein Prozent mehr für die Arbeit bezahlen, und das ist das richtige Maß für den inflationären Druck in der Volkswirtschaft. Die Zahlen werden irgendwann steigen, aber nur sehr langsam. Das heißt auch: Die Notenbanken müssen sich noch nicht um die Lohninflation kümmern und können sich auf die akuten Probleme auf den Finanzmärkten konzentrieren.
SZ: Der frühere Notenbankpräsident Alan Greenspan sagt, dass die dämpfende Wirkung der Globalisierung auf die Inflation nachlässt und das Geschäft der Notenbanken schwieriger wird.
Cohen: Ich habe die Frage mit Greenspan diskutiert und stimme ihm vollkommen zu. Wir sollten nur nicht erwarten, dass auf absehbare Zeit Teuerungsraten zurückkehren, die auch nur annähernd denen der siebziger Jahre ähneln.
SZ: Eine weitere Grundlage für Ihren Optimismus ist die amerikanische Notenbank. Hat die Fed denn überhaupt noch die Macht, die Dinge zu verändern? Das viele Geld, das sie vorige Woche in das System gepumpt hat, scheint niemanden zu beeindrucken.
Cohen: In der Tat ist die Aufgabe der Notenbank in den letzten Jahren schwieriger geworden. Kredit kommt nicht mehr wie früher überwiegend aus dem Bankensystem, die Finanzwelt ist viel komplizierter. Allerdings sitzen in der Fed rund um ihren Präsidenten Ben Bernanke auch sehr fähige Leute, die die Situation begriffen haben. Es stimmt, in der vergangenen Woche gab es bei den Anlegern eine gewisse Verwirrung über die Kommunikation der Fed, aber man muss das längerfristig sehen. Das Entscheidende war, dass die großen Notenbanken eng zusammengearbeitet haben, das ist ein ungeheuer wichtiges Signal für die Märkte in Bezug auf die Verfügbarkeit von Liquidität. Ich bin zunehmend zuversichtlich: Wenn 2008 begonnen hat, werden alle merken, dass die Notenbanken das Richtige getan haben.
SZ: Welche Auswirkungen wird die Präsidentschaftswahl in den USA auf Wirtschaft und Finanzmärkte haben?
Cohen: Das ist schwer zu sagen. Nur einige Beobachtungen: Wer auch immer Präsident wird, muss das Gesundheitssystem sanieren. Drei der führenden Kandidaten, Hillary Clinton, Barack Obama und Mitt Romney, haben dazu ganz ähnliche Vorschläge vorgelegt. Die Demokraten bekennen sich außerdem dazu, das Defizit im Bundeshaushalt anzugehen. Das dritte Thema ist Handel. Keinen der führenden Kandidaten kann man als Protektionisten im traditionellen Sinne beschreiben. Und selbst die so genannten Protektionisten wollen nicht Einfuhren begrenzen, sondern hauptsächlich zusätzliche Märkte für unsere Exporte öffnen.
SZ: In ihrer Jahresprognose spielt die Klimapolitik eine zentrale Rolle. Warum?
Cohen: In Amerika haben Unternehmen, Anleger und Bürger den Ernst der Lage verstanden. Hier hat sich eine große Kluft aufgetan zwischen der Regierung in Washington und dem Rest des Landes. Ich weiß, dass das jenseits unserer Grenze viele überrascht. Aber insgesamt 18 US-Bundesstaaten haben Klimagesetze erlassen, die härter sind als das Protokoll von Kyoto. Jedes US-Unternehmen, das in einem Land arbeitetet, das Kyoto ratifiziert hat, muss sich auch an Kyoto halten. Vor allem aber haben wir bei dem Thema inzwischen eine kritische Masse erreicht – bei der Menge der Bürger, die das Problem verstehen, aber auch bei den Aktionären. Vier Billionen Dollar an Aktienkapital sind heute in den Händen von Investoren, die sich verpflichtet haben, die Klimafrage auf die Tagesordnung ihrer Firmen zu setzen. Wir haben festgestellt, dass „grünere“ Firmen häufig ein höheres Kurs-Gewinn-Verhältnis aufweisen als andere. Deshalb ist das ein Thema für die Finanzmärkte. Die in der vergangenen Woche auf Bali erreichten Beschlüsse gehen in die richtige Richtung, und der nächste US-Präsident wird die Chance haben, noch mehr zu verändern.
Im Interview mit der Süddeutschen Zeitung gibt sie einen optimistischen Ausblick auf das kommende Jahr: Die befürchtete Inflation bleibt aus, die Aktienkurse werden steigen, die Turbulenzen auf den globalen Finanzmärkten ebben ab.
SZ: Frau Cohen, werden die USA in eine Rezession rutschen?
Abby Joseph Cohen: Nein.
SZ: Eine überraschend klare Auskunft.
Cohen: Das bedeutet nicht, dass die Wahrscheinlichkeit für eine Rezession gleich Null ist, wir halten nur eine Verlangsamung des Wachstums für größer als eine Rezession.
SZ: Warum? Die Immobilienkrise ist doch noch längst nicht vorüber.
Cohen: Es stimmt, dass es Schwächen im Wohnungsbau und in manchen Bereichen des privaten Konsums gibt. Diese Schwächen werden aber ein Stück weit durch andere Sektoren ausgeglichen. Der Export wächst um zehn bis zwölf Prozent jährlich, die meisten Unternehmen sind in guter Verfassung und investieren in Ausrüstungsgüter und neue Gebäude. Zwar sinken die Ausgaben für neue Wohngebäude um 15 Prozent, der Gewerbebau aber steigt um ebenfalls 15 Prozent. Darin sind kommunale Ausgaben für Schulen und Straßen enthalten. Der zweite Faktor, der dazu beiträgt, eine Rezession zu vermeiden, ist die Notenbank. Die Federal Reserve hat in den vergangenen Wochen bewiesen, dass sie aufpasst und das Vertrauen der Menschen stärken will.
SZ: Aber könnte nicht das Schlimmste der Krise noch kommen? Die Immobilienpreise sind immer noch viel zu hoch.
Cohen: Wichtige Bedenken in Bezug auf den Immobilienmarkt sind ja schon in den Aktienkursen enthalten. Ja, die Preise für Wohnimmobilien werden weiter sinken, vor allem in bestimmten Gemeinden, aber das ist bereits berücksichtigt. Wir rechnen für 2008 mit einem Wirtschaftswachstum von nur noch 1,8 Prozent; das ist weniger als andere Institute schätzen. Trotzdem glauben wir, dass Aktien zu niedrig bewertet sind.
SZ: Eine mutige Prognose.
Cohen: Sehen Sie sich die Unternehmensgewinne genau an. Zwar wird das vierte Quartal besonders bei einigen Finanzfirmen schrecklich werden, insgesamt rechnen wir aber damit, dass die Gewinne im nächsten Jahr mit einem einstelligen Prozentsatz steigen. Für 2008 gehen wir von einem Gewinn pro Aktie von 95 Dollar aus. Aktien werden derzeit zum 15-Fachen des Gewinns gehandelt. Normal wäre bei der niedrigen Inflation ein Kurs-Gewinn-Verhältnis von 18 oder 19. Das bedeutet also Potential nach oben. Nach unserer Einschätzung wird der faire Wert des S&P-500-Index der 500 größten amerikanischen Aktiengesellschaften Ende 2008 bei 1675 Punkten liegen, derzeit haben wir ungefähr 1455 Zähler. Den angemessenen Wert für den Dow Jones schätzen wir auf 14.750 Punkte; derzeit liegen wir hier bei gut 13.000 Zählern.