Kämpfen oder fliehen? Für unsere Vorfahren im Dschungel war dieses uralte Verhaltensmuster lebenswichtig - an der Börse kann es kapitale Fehlentscheidungen auslösen. In Geldfragen ist unser Gefühl ein schlechter Ratgeber, schreibt SPIEGEL-Autor Gerald Traufetter.
Auf seiner Webseite fragte Daniel Kahneman: "Kann ich meinen Intuitionen trauen?" Der Psychologe an der University of Princeton, der für seine Arbeit im Jahr 2002 den Nobelpreis für Wirtschaft erhalten hat, antwortet abwägend: "In manchen Situationen ja, in manchen nein. Vor allem, wenn es um Geld geht."
Kahneman sitzt in einer schwarzen Limousine und ist gerade auf dem Weg dorthin, wo sich alles ums Geld dreht. Er ist ein vielbeschäftigter Mann und gefragter Redner, weswegen er ein- oder zweimal die Woche seine Idylle in der Parklandschaft von Princeton verlässt. In der Ferne zieht die Skyline von Manhattan am Autofenster vorbei. Hinter den Stahlfassaden der Wolkenkratzer sitzt eine seltsame Spezies Mensch. Sie scheint sich von Zahlen zu ernähren. Statistiken, Analysen, Charts und Portfolios sind der Nährstoff ihres hektischen Treibens.
Der dünne Strich der Kursverläufe, das ewige Auf und Ab, bestimmt den Pulsschlag ihres Lebens. Nirgendwo sonst auf der Welt, denkt man, regiert eine rigorosere Rationalität. Jede noch so kleine Gefühlsregung wird von der kalten Luft der Klimaanlagen sofort durch die Abluftrohre nach draußen geblasen. Wie kaum ein anderer hat er die chaotischen Verhältnisse studiert, in denen die hochbezahlten Geldjongleure der Wallstreet jeden Tag operieren. Vor allem aber kennt er die psychologischen Gründe für dieses Durcheinander, das sich Marktgeschehen nennt und einen fatalen Hang zum Totalabsturz hat.
Eine Bank hat ihn zum Lunchvortrag eingeladen. Dort soll er seine gerade für Banker oft wenig schmeichelhaften Thesen vortragen. "Ein ganz charakteristisches Verhalten des Menschen", so doziert der Psychologe, "ist seine Scheu vor Risiken." Ein Test mache das deutlich. Man stellt Probanden vor die Alternative, entweder einen sicheren Gewinn von 900 Euro einzustreichen oder aber einen Gewinn von 1000 Euro, den sie allerdings nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 90 Prozent erhalten würden. Obwohl der Gewinn beim zweiten Angebot in den meisten Fällen höher ausfällt, entscheidet sich die Mehrzahl der Teilnehmer für die risikofreie Alternative.
Der Mensch fürchtet sich
Die Angst vor einem Verlust sei ungefähr doppelt so stark wie die Freude über einen Gewinn. Beim Spekulieren mit Aktien führe das zu einem Problem: Bei steigenden Wertpapierkursen neigt der Anleger dazu, zu früh den Gewinn mitzunehmen. Bei fallenden Kursen dagegen erliegt der Mensch einem anderen Intuitionsdefekt.<!-- Vignette StoryServer 5.0 Tue Oct 02 12:49:58 2007 -->
Sollen sich Probanden zwischen einem sicheren Verlust von 900 Euro und einer 90-prozentigen Wahrscheinlichkeit entscheiden, 1000 Euro zu verlieren, dann wählen sie die zweite Alternative. Sie klammern sich an die Hoffnung, mit zehn Prozent Wahrscheinlichkeit einen Verlust abzuwenden. "Plötzlich sind sie aus Angst vor Verlusten bereit, alles zu riskieren", urteilt Kahneman, der zusammen mit seinem Kollegen Amos Tversky die sogenannte "Prospect Theory" als Gegenentwurf zum Rationalismus der Ökonomenzunft entwickelt hat.
Ein großer Anhänger dieser Theorie ist der Psychologieprofessor Antonio Damasio aus Los Angeles. Er lobt Kahneman und Tversky für ihre "genialen Ideen", weil sie "Aspekte ökonomischer Entscheidungen des Menschen eingefangen haben, die den konventionellen Weisheiten zuwiderlaufen". Die große Angst vor einem Verlust erklärt Damasio mit den emotionalen Steuerimpulsen im Gehirn. Bei einem starken negativen Reiz, etwa einem Kurssturz an der Börse, löst die Amygdala ohne große Reaktionszeit eine kurze, heftige Antwort aus: Kämpf oder flieh. Dieser Reflex existiert noch aus den evolutionären Frühtagen des Menschen und war damals, vor Erfindung der Börsen, eine sinnvolle Sache. Beim Anblick eines Schlangenkörpers schaltete das Gehirn sofort in den emotionalen Ausnahmezustand. Selbst wenn sich die vermeintliche Schlange nur als krummer Stock herausstellte, waren die Folgen des falschen Alarms gering. "Die Amygdala wurde zum Zwecke des Überlebens geschaffen und nicht für die Börsen", verteidigt Damasio die Evolution.
Eine Panikreaktion im Angesicht fallender Aktienkurse kann sich als ein falsches Verhalten entpuppen. Ganz verteufeln sollte man die Amygdala, jenes mandelförmige Areal im Temporallappen und Hauptbestandteil des limbischen Systems, dennoch nicht. Patienten mit einer Schädigung jenes Warninstruments, das hat Damasio in seiner medizinischen Praxis häufig beobachten können, landen über kurz oder lang meist im wirtschaftlichen Ruin.
Schwankende Risikobereitschaft
Der Neurologe pflichtet Kahneman bei in seiner Beobachtung, dass der Aktionär gerade in Zeiten sinkender Kurse bereit ist, enorme Risiken einzugehen, um dem drohenden Verlust zu entgehen. Schuld daran ist jener Impuls, der sich immer dann einstellt, wenn der Mensch ein bekanntes Muster wahrnimmt. Verarbeitet wird es im ventromedialen präfrontalen Cortex.
Ein solches Muster könnte für einen Börsenbroker etwa eine besondere Konstellation aus Konsumdaten, Konjunktur und bestimmten Vorgängen an den internationalen Währungsmärkten sein, bei der er in der Vergangenheit ein Sinken der Aktienkurse beobachtet hat. Solche Muster lösen bei Bankern ein negatives Gefühl aus, das im präfrontalen Cortex in seine Entscheidungen einfließt.
Aus neuropsychologischen Studien ist bekannt: Macht sich so ein negativer somatischer Marker bemerkbar, während sich der Mensch in einer negativen Grundstimmung befindet, dann verstärkt eines das andere. Damasio spricht von einem "starken somatischen Zustand im Hintergrund". Aus Angst vor Verlusten ist der Mensch in dieser schlechten Grundstimmung bereit, ein großes Risiko einzugehen. Das Äquivalent im wahren Börsenleben wäre ein allgemein negatives Klima auf dem Handelsparkett, das sich mit dem bestimmten Muster einer ganz konkreten negativen Beobachtung paart - der Broker entscheidet sich für ein risikoreiches und potentiell verhängnisvolles Verhalten.
2. Teil: Kopfsache: Wie das Hirn Gewinne und Verluste verabeitet
Ist die Grundstimmung positiv und erwartet der Händler wegen positiver Botschaften aus den Aktienmärkten steigende Kurse, dann nimmt seine Risikobereitschaft ab - ein Verhalten, das zunächst einmal dem gesunden Menschenverstand zuwiderläuft. Doch Damasio besteht darauf: "Nach einer ganzen Serie harter Verluste am Aktienmarkt steigt die Risikobereitschaft weiter an."
Das scheinbar paradoxe Verhalten erklärt sich mit der Art, wie der präfrontale Cortex verschaltet ist. Dort werden sicher erwartbare Belohnungen oder Bestrafungen, zum Beispiel ein unmittelbar erwarteter Börsencrash, in einem der eher hinten liegenden Teile der Entscheidungszentrale verarbeitet, von denen bekannt ist, dass sie stärkere somatische Signale auslösen. Ein Gewinn oder Verlust, der weniger sicher erscheint, wird in einem vorderen Bereich des präfrontalen Cortex verarbeitet, der allerdings schwächere emotionale Impulse auslöst. Liegt in diesem Intuitionsdefekt der Grund dafür, dass die Börsenkurse immer mal wieder zusammenrasseln?
Angeborener Optimismus
Fatal kann sich auch eine weitere Neigung des Menschen auswirken: Er überschätzt seine Fähigkeit, die Zukunft zu überblicken. Für die Volkswirtschaft, lehrt Kahneman, sei das ein ziemlich starker Motor. Achtzig Prozent aller Firmengründer glauben daran, dass sie sich am Markt behaupten werden - tatsächlich sind drei Viertel nach fünf Jahren wieder vom Markt verschwunden. "Ohne diesen angeborenen Optimismus gäbe es das Unternehmertum und die wirtschaftliche Dynamik wohl kaum in diesem Maße", sagt Kahneman.
In diesem Verhalten unterscheidet sich der Mensch nicht sonderlich vom Affen. Es scheint ein evolutionärer Vorteil zu existieren, der darin besteht, Risiken einzugehen. Bei Primaten haben Forscher entdeckt, dass ihr Dopamin-Ausstoß wesentlich stärker ausfiel, wenn sie eine unerwartete Belohnung bekamen. Ohne diesen Mechanismus, der zu riskantem Verhalten motiviert, würde ein Tier wohl kaum nach neuen Nahrungsquellen suchen - und Anleger würden ihr Geld lieber unter das Kopfkissen legen.
Das Phänomen führt aber auch häufig dazu, dass Unternehmer wie Privatleute in ihren Planungen das Risiko des Scheiterns zu gering einschätzen. Folglich zahlen Konzerne zu viel Geld bei der Übernahme anderer Firmen. Und Privatleute geraten in die Schuldenfalle, weil sie ihre künftigen Einnahmen zu hoch veranschlagen. An der Börse bewirkt dieser Optimismus stete Geschäftigkeit. "Ständig glauben die Aktionäre, irgendeine großartige, hundertprozentige Idee zu haben, wie sie satte Gewinne einstreichen könnten", sagt Kahneman. Die Analyse von mehreren zehntausend Transaktionen eines Discount-Brokers aber habe ergeben: Je mehr die Leute handeln, desto weniger Erfolg haben sie an der Börse.
Gehirn auf der Suche nach Mustern
Ein anderer Grund für den Aktionismus der Aktienanleger liegt in der regelrechten Sucht nach Prognosen. Die Ungewissheit, wohin sich die Kurse entwickeln, erzeugt in den Anlegern das negative emotionale Signal der Furcht, dem sie am liebsten entkommen wollen. Prognosen sind da so etwas wie Lösungen, die ein gutes Gefühl verursachen, und deshalb sind sie bereit, an diese Vorhersagen zu glauben.
Das will für das Geschehen an den Handelsplätzen heißen: Auch wenn ich weiß, dass Marktprognosen häufig nicht stimmen, folge ich ihnen dennoch. Denn sonst gibt es ja nichts, woran ich glauben kann. Und woher soll ich wissen, wohin die Kurse gehen? Handele ich nach einer Prognose, dann fühlt sich dieser Ausweg aus der Unwägbarkeit der Finanzmärkte einfach besser an. Das Gehirn sucht schließlich die ganze Zeit nach vermeintlichen Regelmäßigkeiten in der Umwelt. Selbst dann, wenn es keine Strukturen gibt.
Wenn ein Unternehmen drei Jahre hintereinander stets einen steigenden Gewinn und eine Dividende verkündet und im vierten Jahr auf einmal einen geringeren Gewinn und eine ausbleibende Dividende, dann heißt das nicht automatisch, dass es dem Unternehmen schlecht geht und die Aktien verkauft werden sollten. Und dennoch verhält sich der Mensch intuitiv so, weil er eine Regelmäßigkeit erkannt zu haben meint, die durch die ausbleibende Dividende jäh zerstört worden ist.
Wie geht's dem Depot?
Kahneman hat eine ganze Reihe Irrtümer aufgedeckt, denen der Mensch beharrlich aufsitzt, ohne sich dessen bewusst zu sein. Er sagt, dass vor allem "die Institutionen" davon profitieren würden, und meint damit Banken und Investmenthäuser. Vielleicht laden sie ihn wegen dieser Erkenntnis auch so gerne zu Lunchvorträgen ein? Die Unternehmen seien zwar auch nicht gegen die falsche Intuition ihrer Mitarbeiter gefeit. Sie können auch kollektiv einer dieser unbewussten Fußangeln zum Opfer fallen. Doch in der Regel sind sie besser gewappnet, weil sie klug genug organisiert sind, um menschliche Schwächen häufiger zu vermeiden. Die Bank gewinnt immer, will Kahneman sagen.
Wir sind an einem der Türme des World Finance Centers angekommen. Einen Steinwurf entfernt klafft die Wunde vom Ground Zero. Bevor wir uns verabschieden, bemerkt Kahneman noch: "Der private Anleger fällt ständig auf seine Intuition herein." Dann bekennt der Nobelpreisträger: Auch er selbst sei ein lebendes Beispiel dieses Unverstandes. Nach einer Autofahrt mit Daniel Kahneman möchte man das Depot bei seiner Internetbank am liebsten gleich kündigen.