Wirtschaftsdepression in Irland"Wir sind einfach zu teuer"
Europa blickt auf Irland, die Inselrepublik entscheidet über den Lissabon-Vertrag. Die Stimmung in dem ehemaligen Boom-Staat ist explosiv: Die Wirtschaft schmiert ab, die Arbeitslosigkeit steigt. Politiker und Ökonomen fordern eine Radikalkur aus Lohn- und Konsumverzicht.
Am Mittwoch waren es die Sozialarbeiter, die mit Transparenten durch die O'Connell Street zogen. Am Donnerstag waren es die Taxifahrer, die Dublins zentrale Verkehrsader lahmlegten. Sie protestierten gegen ihre Arbeitsbedingungen. 16.000 Taxifahrer in der überschaubaren 1,5-Millionen-Stadt, das sei einfach zu viel, beschwerten sie sich.
Zu viele Taxifahrer, zu viele Baukräne, zu viele Schulden, zu viel Konsum - nach 15 Jahren Wirtschaftsboom mit Wachstumsraten von acht Prozent kam irgendwann der Moment, an dem es in Irland von vielem einfach zu viel gab. Deshalb wird nun geschrumpft. Und zwar radikal.
"Es ist ein Wunder, dass es nicht noch mehr Protest gibt", sagt John FitzGerald vom Economic and Social Research Institute in Dublin. Im März kürzte die Regierung die Gehälter im Öffentlichen Dienst um sieben Prozent. Der private Sektor müsse folgen, sagt der Volkswirt. Nur dann könne die irische Wirtschaft wettbewerbsfähig bleiben. "Wir sind einfach zu teuer", sagt er.
Auch Jon Anghel war zu teuer. Der Kleinunternehmer, der einen fahrbaren Kaffeestand in den Docklands betreibt, hat seine Preise deutlich senken müssen. Ein Espresso kostet nun 1,50 Euro - vor der Krise konnte er 1,80 Euro verlangen. Seit Anfang 2008 hat er ein Drittel seiner Kunden verloren, der Gewinn ist um die Hälfte eingebrochen.
"Früher warteten die Kunden schon auf mich, wenn ich um sechs Uhr morgens kam", erzählt der 39-jährige rumänische Einwanderer. Die Bauarbeiter von den umliegenden Baustellen wollten ihren Morgenkaffee. Nun ist die Bautätigkeit fast zum Erliegen gekommen, und der erste Kunde kommt um Viertel vor acht.
Viele Büros stehen leer
Die modernen Glasfassaden der Docklands sind das Symbol des irischen Wirtschaftswunders. Auf den früheren Hafenanlagen ist das teuerste und größte Geschäftsviertel des Landes entstanden, hier schlug das Herz des keltischen Tigers. Heute stehen viele der Großraumbüros an den Ufern der Liffey leer. "Da drüben sitzt AIG", sagt Anghel und deutet auf die andere Seite des Flusses. "Früher waren die fünf Etagen voll, jetzt arbeiten da vielleicht noch 30 Leute." Die Eröffnung eines neuen Sheraton-Hotels wurde auf unbestimmte Zeit verschoben. Die Hoteladresse wirkt wie ein schlechter Witz: Misery Hill.
Die Baubranche war der Motor des Booms. Der Sektor schwoll auf 20 Prozent der Gesamtwirtschaft an - eine Blase, die irgendwann platzen musste. "Die Regierung hätte den Sektor nie so groß werden lassen dürfen", sagt FitzGerald. Nun ist das Gejammer groß. "Wir haben alle mitgemacht", sagt Dermot Wallace selbstkritisch. Der Gebrauchtwagenhändler erzählt von einem zweistöckigen Häuschen in der Nachbarschaft, das in den Neunzigern 40.000 Euro gekostet habe. 2007 sei es für 895.000 Euro verkauft worden. "Es war aberwitzig", sagt Wallace. Nun sei der Preis auf 350.000 Euro gefallen.
Die ökonomische Achterbahnfahrt beherrscht alle Gedanken. Sie ist auch der Grund, warum die meisten Iren an diesem Freitag bei der zweiten Volksabstimmung über den EU-Reformvertrag von Lissabon wohl Ja sagen werden. In der Krise retten sich viele gern unter den europäischen Schutzschirm. "Irland braucht Europa", der Slogan der Vertragsbefürworter ist wörtlich zu nehmen. Es war die Europäische Zentralbank, die das kollabierte irische Bankensystem mit Milliardenspritzen flüssig gehalten hat.
"Es gibt kein Geld"
Kapital ist dennoch Mangelware. "Es gibt kein Geld", sagt Wallace. Wenn ein Kunde ein Auto auf Kredit kaufen wolle, lehne die Bank in 90 Prozent der Fälle ab. Früher habe sie in 90 Prozent der Fälle zugesagt. Auch bekommt er täglich zwei bis drei Anrufe von Leuten, die sagen, sie bräuchten dringend Cash und wollten deshalb ihr Auto verkaufen. "Downgrading" nennt Wallace das.
Der Trockenbau-Unternehmer David Rouse klagt, es dauere sechs Wochen länger, bis Rechnungen bezahlt würden. Er selbst hat sich während des Booms nicht wie viele andere verschuldet, "zum Glück", wie er sagt. Daher kann er sich nun über Wasser halten. Es reiche jedoch gerade so, um die Kosten zu decken. Der Bauarbeiter Rob Harper sagt, früher habe er einen Auftrag nach dem anderen erhalten, jetzt vergingen auch schon mal einige Wochen ohne Arbeit.
Irland ist das europäische Land, das am stärksten von der Rezession betroffen ist. Während anderswo in Europa schon wieder über Wachstum geredet wird, sind die Schmerzen auf der grünen Insel noch lange nicht vorbei. Das Bruttoinlandsprodukt wird dieses Jahr voraussichtlich um mehr als acht Prozent schrumpfen. Die Arbeitslosenquote ist seit 2007 von 4,7 auf 12,6 Prozent geklettert. Prognosen zufolge wird sie bis Ende 2010 auf 15 Prozent steigen. Der Bausektor wird sich so bald nicht wieder erholen, Tausende Beschäftigte müssen anderswo Arbeit finden.
Die Iren emigrieren wieder
Selbst das alte irische Krebsgeschwür ist zurück - die Emigration. Zum ersten Mal seit 1995 verlassen wieder mehr Menschen das Land als einwandern. "Im Radio werben sie die Leute nach Kanada und Australien ab", sagt Wallace. Ökonom FitzGerald allerdings wiegelt ab: Iren seien immer sehr mobil gewesen, selbst während des Booms seien 20 Prozent aller Iren ausgewandert. Die größte Gruppe der Auswanderer sind denn auch die Osteuropäer, die seit 2004 auf die Insel geströmt waren und nun in ihre Heimat zurückkehren.
Sie gehen, weil die Bezahlung nicht mehr so attraktiv ist. "Während des Booms haben Maurer drei Euro pro Ziegel bekommen", sagt Wallace. "Jetzt sind sie zurück bei 50 Cent." Dieser Trend müsse sich auch in den anderen Sektoren durchsetzen, damit die Wirtschaft wieder auf einen nachhaltigen Wachstumspfad gelange, sagt FitzGerald. Bisher allerdings hielten sich die Arbeitgeber mit Gehaltskürzungen zurück. Nur die Journalistengewerkschaft hat schon Kürzungen von fünf bis zehn Prozent zugestimmt.
Die depressive Stimmung werde noch bis 2011 anhalten, prognostiziert FitzGerald. Erst dann sei mit einem Aufschwung zu rechnen - vorausgesetzt, Länder wie Deutschland und Frankreich kehrten im kommenden Jahr zum Wachstum zurück. Die Kräne in den Dubliner Docklands werden wohl noch eine Weile stillstehen. Die Entwicklung der Prestigegegend ist um mehrere Jahre zurückgeworfen.
Früher oder später dürfte das Areal, das zu zwei Dritteln bebaut ist, jedoch fertig gestellt werden. Denn langfristig ist das Wachstumspotential Irlands weiterhin hoch: Die Bevölkerung wächst, und die Infrastruktur ist noch immer nicht auf dem Niveau von Ländern wie Deutschland. Zunächst aber bricht eine Zeit der Bescheidenheit an. "Wir sind bloß 4,5 Millionen", sagt der Gebrauchtwagenhändler Wallace. "Wir brauchen nicht so viele Häuser und Büros."
http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/0,1518,652805,00.html