Milton Friedman über die Finanzskandale in den USA, den Siegeszug des Liberalismuss Deutschlands wirtschaftliche Probleme.
Milton Friedman ist der wohl bedeutendste Ökonomen des 20. Jahrhunderts. Er wurde am 31. Juli vor 90 Jahren als Kind osteuropäischer Einwanderer in Brooklyn geboren und studierte an den Universitäten Rutgers, Chicago und Columbia. Von 1946 bis 1976 lehrte Friedman in Chicago, wo er Mitbegründer der so genannten Chicago School wurde – einer Denkschule, die die Selbstheilungskräfte des Marktes betont. Er legte die theoretische Grundlage für eine Abkehr von der aktiven Konjunktursteuerung („Keynesianismus“). Der Staat, argumentiert Friedman, richtet mit Konjunkturprogrammen und expansiver Geldpolitik auf Dauer nur Schaden an. Stattdessen sollte er sich darauf konzentrieren, für stabile Preise zu sorgen – am besten, indem er die Geldmenge um eine vorab festgelegte, konstante Rate wachsen lässt („Monetarismus").
Professor Friedman, Sie schieben die Schuld für alle wirtschaftlichen Probleme gern dem Staat zu. Wollen Sie nun den Staat auch für die Skandale um Unternehmen wie Enron und WorldCom verantwortlich machen? Was macht Sie so sicher, dass der Staat dieses Mal weniger damit zu tun hat?
In den Sechziger- und Siebzigerjahren gab es eine Welle über Fusionen und Übernahmen in den USA. Die Folge war, dass das Verhalten von Unternehmen stärker reguliert wurde, etwa durch Gesetze gegen Insiderhandel. Alle diese Maßnahmen haben den Wettbewerb um den Besitz von Unternehmen geschwächt – und das ist ein großer Teil des Problems, das wir heute haben.
Wieso?
Der Grund, warum es beispielsweise diese maßlosen Gehälter für Topmanager gibt, ist schlicht, dass die Topmanager im Vergleich zu den Aktionären zu viel Macht haben. Und sie haben diese Macht nur, weil es nicht genügend Wettbewerb um den Besitz von Unternehmen gibt. Gäbe es ihn, würde ein Unternehmen bei solch verschwenderischen Gehältern aufgekauft, und die Topmanager würden entlassen.
Was muss nun getan werden?
Nichts. Das korrigiert sich selbst. Wer als Manager Betrug begeht, sollte ins Gefängnis gehen. Aber dafür brauchen wir keine neuen Gesetze. Manche Experten fürchten schon, dass die Politiker in Washington auf die Skandale mit einem regulatorischen Overkill reagieren könnten.
Zu Recht? George Stigler... ...Ihr Weggefährte aus Chicago-Zeiten... ...George Stigler hat vor Jahren untersucht, welchen Einfluss die Schaffung der Börsenaufsichtsbehörde SEC auf die Risiken für den durchschnittlichen Anleger hatte. Ergebnis: Es gibt keinen Unterschied.
Der Markt verhielt sich nach der Gründung der SEC genauso wie vorher. Und dasselbe wird wieder passieren, wenn nun neue Regulierungen oder Institutionen geschaffen werden. Wahrscheinlich werden Unternehmen bei allem, was sie tun, noch dickere Berichte anfertigen müssen, die dann doch niemand liest. Im Wesentlichen ist das alles Schattenboxen. Ich erwarte nicht, dass dabei viel herauskommt.
Der große US-Boom in den Neunzigerjahren erinnerte an das Amerika der Zwanziger und das Japan der Achtziger. Die beiden Boomphasen der Vergangenheit endeten mit schweren, lang anhaltenden Wirtschaftskrisen. Droht nun eine Wiederholung der Geschichte?
In allen drei Fällen hat hohes Produktivitätswachstum für einen Boom der Realwirtschaft gesorgt, der zusätzlich angeheizt wurde durch eine relativ lockere Geldpolitik. Aber da enden die Ähnlichkeiten auch schon: Anfang der Dreißigerjahre sank die Geldmenge in den USA um ein Drittel – das Resultat war die Große Depression. In Japan ist die Geldmenge in den Neunzigerjahren nur sehr langsam angestiegen, und die Folge war Stagnation. In den vergangenen anderthalb Jahren dagegen ist die Geldmenge in den USA sehr schnell gewachsen. Deshalb haben wir nur eine sehr, sehr bescheidene Rezession erlebt. Und ich erwarte, dass wir weiterhin sehr hohes Produktivitätswachstum verbuchen werden.
Möglich wurde das rasche Wachsen der Geldmenge, weil Amerikas Zentralbank, die Federal Reserve, die Leitzinsen drastisch gesenkt hat. Wenn Amerika hingegen Ihrem Rat gefolgt wäre, hätte es Alan Greenspan durch einen Computer ersetzt, der Jahr für Jahr eine vorab festgelegte Menge Dollars druckt. Wäre die US-Wirtschaft dann nicht heute noch schlechter dran?
Nein, Amerika stünde besser da. Weder wäre der Aufschwung so rasant ausgefallen noch der anschließende Abschwung. Die Wirtschaft wäre stetiger gewachsen. Dennoch: Greenspan hat einen guten Job gemacht. Er ist ohne Frage der erfolgreichste Zentralbankgouverneur aller Zeiten.
Wie groß ist die Gefahr, die von Amerikas riesigem Leistungsbilanzdefizit ausgeht?
Was Amerika hat, ist im Grunde kein Defizit, sondern ein Überschuss, und zwar bei den Kapitalimporten.
Und warum?
Weil Anleger aus aller Welt Dollars halten wollen. Das ist ein Zeichen des Erfolgs für die amerikanische Wirtschaft. Die meisten Experten meinen, dass das Leistungsbilanzdefizit auf Dauer nicht durchzuhalten ist. Die Vereinigten Staaten haben 140 Jahre lang in Folge, von etwa 1780 bis 1920, Leistungsbilanzdefizite gehabt – ohne dass dies Schwierigkeiten mit sich gebracht hätte. Wenn die USA kein guter Platz zum Investieren mehr wären, dann würde der Dollar weiter fallen und das Defizit zum Verschwinden bringen. Aber solange die USA ein guter Investitionsstandort sind, ist das Defizit kein Problem. Viel mehr Sorge bereitet mir das Budgetdefizit.
In den Neunzigerjahren sind die Staatsausgaben in den USA nur ziemlich langsam gewachsen. Seit dem 11. September explodieren sie. Befürchten Sie eine Rückkehr zum Keynesianismus?
Nein, was wir erleben ist leider nur eine Rückkehr zum normalen Ausgebenverhalten der Politiker.
Sie waren ein Gegner des Euro, sie haben die These vertreten, dass ein europäischer Binnenmarkt ohne flexible Wechselkurse zusammenbrechen müsse. Damit lagen Sie ziemlich falsch, oder?
Es stimmt, ich hatte nicht gedacht, dass die Europäische Union den Euro akzeptieren würde. Doch ich glaube nach wie vor, dass die Währungsunion ein Fehler ist. Im Moment macht sich der Euro gut, aber er staut Probleme für die Zukunft auf.
Warum?
Einheitswährungen haben viele Vorteile. Aber sie sind nicht immer die richtige Wahl. Gegenwärtig zum Beispiel haben Deutschland und Griechenland wirtschaftliche Probleme, während es Irland und Spanien gut geht. Damit eine Währungsunion unter diesen Umständen funktioniert, müssen die Arbeitskräfte mobil sein: Sie müssen dorthin wandern, wo es die Jobs gibt, also etwa von Deutschland nach Irland. Das tun sie aber nicht. Ersatzweise müssten sich dann die internen Preise und Löhne anpassen. Das aber ist sehr heikel. Deutschland erlebt das doch gerade.
Deutschlands Probleme liegen am Euro?
Deutschland kam mit einem überbewerteten Wechselkurs in die Währungsunion, seine Wirtschaft dümpelt entsprechend dahin. Preise und Löhne müssten sinken. Aber das ist extrem schwer hinzubekommen in einer Gesellschaft, in der es so viele Regulierungen und Starrheiten gibt.
Dafür wird der Euro die politische Einigung Europas fördern.
Wird er nicht. Die wirtschaftlichen Divergenzen in der Währungsunion werden zu politischen Spannungen führen. Die monetäre Einigung wird die politische Integration deshalb erschweren – zumal sie den Europäern von ihren Eliten aufgedrückt worden ist. Der demokratische Prozess ist geschändet worden. Es ist auf Dauer für die politische Kultur äußerst ungesund, wenn Eliten sich daran gewöhnen, sich wie in einer Diktatur benehmen zu können.
Sie beklagen ein Demokratiedefizit in Europa, fanden aber nichts dabei, den chilenischen Diktator Augusto Pinochet zu beraten. Legen Sie da nicht zweierlei Maß an?
Sollte ein Arzt sich weigern, bei der Bekämpfung einer Cholera-Epidemie zu helfen, nur weil die Regierung des betroffenen Landes zufällig autoritär ist? Ich bin Ökonom und habe Ratschläge erteilt, wie man eine epidemische Inflation loswerden kann. Und ich habe in Chile stets gesagt, dass politische Freiheit schon deshalb nötig ist, um volle wirtschaftliche Freiheit zu erreichen.
Kann wirtschaftliche Freiheit ohne politische Freiheit überhaupt existieren?
Ja, Hongkong ist das beste Beispiel. Wirtschaftliche Freiheit ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für politische Freiheit.
Sie haben sich immer als Anwalt der Freiheit verstanden. 1947 haben Sie mit Friedrich August von Hayek und gut 30 weiteren liberalen Vordenkern in der Schweiz die Mont-Pèlerin-Gesellschaft gegründet, weil „die zentralen Werte der Zivilisation in Gefahr“ waren. Was hat sich seither geändert?
Viel. Schauen Sie nur nach Russland oder China. Auch die intellektuelle Debatte im Westen hat sich grundlegend gewandelt. 1947 war der Kollektivismus die vorherrschende Gesinnung: Es gab eine explizit sozialistische Regierung in Großbritannien, in Frankreich wurde Planwirtschaft betrieben – Ludwig Erhard in Deutschland war die große Ausnahme. Heute ist es in der Öffentlichkeit Konvention, dass der Kollektivismus tot und der Kapitalismus der Weg in die Zukunft ist.
In welchem Bereich weicht die praktische Politik noch am stärksten von den Idealen des Liberalismus ab?
Das größte Versagen ist, dass wir nicht einmal annähernd Freihandel erzielt haben. Wir reden gerne und oft über Freihandel – aber wir tun nichts für ihn.
So wie George W. Bush, der aller Sonntagsreden zum Trotz Schutzzölle auf Stahlimporte einführt und die Agrarsubventionen drastisch ausweitet?
Richtig. Präsident Bush hat sich im Krieg gegen den Terrorismus als sehr effektiv erwiesen. Aber seine wirtschaftspolitische Bilanz ist nicht eben berauschend – gerade was den Handel angeht. Er hat gut geredet, aber sich nicht gut benommen. Manche Ihrer Rezepte klingen gar zu simpel.
Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Osteuropa haben Sie gepredigt: „Privatisieren, privatisieren, privatisieren.“ Zeigen nicht die Erfahrungen Russlands, dass Privatisierungen allein nicht reichen?
Richtig: Ich habe nicht erkannt, wie wichtig Rechtsstaatlichkeit ist. Der Rechtsstaat ist die Basis aller Reformen. Aber eines der größten Probleme in Russland ist, dass die Privatisierung des Landbesitzes kaum vorankommt – und das, obwohl die Agrarflächen Russlands wichtigste Ressource sind. Man vergleiche nur China mit Russland.
China war auf dem Weg zur Marktwirtschaft nicht zuletzt deshalb viel erfolgreicher, weil es frühzeitig mit Landreformen begonnen hat. Glauben Sie, dass der Siegeszug von Kapitalismus und Liberalismus von Dauer sein wird?
Schon Thomas Jefferson hat gesagt: Ewige Wachsamkeit ist der Preis der Freiheit. Und wer sich die Geschichte anschaut, sieht: Der normale Zustand, in dem die Menschheit lebt, ist Elend und Tyrannei. Freiheit ist die Ausnahme, und es wäre ein Wunder, wenn das Fortschreiten des Liberalismus anhalten würde. Im Westen sieht es in der praktischen Politik ohnehin ganz anders aus als in der öffentlichen Debatte. In den USA, in Großbritannien, in Deutschland, überall ist die Staatsquote viel höher als in den Vierziger- und Fünfzigerjahren. Manche Regulierungen wurden abgeschafft, dafür aber wurden viele neue erfunden.
In Deutschland wird seit 20 Jahren mehr Liberalisierung, Deregulierung und der Abbau der Staatsquote gefordert. Doch es geschieht wenig. Warum?
Weil es nur schwer rückgängig zu machen ist, wenn der Staat erst einmal irgendwo mitmischt. Wenn eine private Unternehmung versagt, wird sie dichtgemacht. Wenn dagegen ein Regierungsprojekt scheitert, wird es meistens noch ausgeweitet. Dann sagen die zuständigen Leute nämlich, man müsse das Projekt nur in noch größerem Maßstab betreiben, um es zum Erfolg zu bringen. Und die Stimmen dieser Leute sind laut – anders als die Stimmen des Steuerzahlers, der dafür bezahlen muss. Es muss immer erst zur Krise kommen, um Regierungsaktivitäten nennenswert zurückzudrängen.
Ist es etwa das, was Deutschland fehlt: eine schwere Krise?
Vielleicht. Ich muss zugeben: Ich weiß wenig über Deutschland. Aber Deutschland ist ein interessanter Fall: Erhard hat einen tollen Job gemacht mit dem, was wir „das deutsche Wunder“ nennen. Aber dann habt Ihr mehr und mehr Kollektivismus eingeführt. Und ein großer Schritt dorthin wurde bei der Wiedervereinigung getan: die Angleichung von Ost- und West-Mark im Verhältnis eins zu eins war ein enormer Fehler. Die Politiker sahen damals keine andere Wahl: Die Ostdeutschen wären sonst in Scharen nach Westen abgewandert. Nein, es gab eine andere Wahl. Warum konntet Ihr nicht die Währungen zu einem Kurs umrechnen, der dem wirklichen Wert entsprochen hätte, also etwa fünf zu eins? Das Resultat wäre ein riesiges Einkommensgefälle zwischen Ost und West gewesen. Jetzt habt Ihr eine noch schlimmere Einkommensungleichheit. Wäre der Wechselkurs richtig angesetzt und Preise und Löhne entsprechend angepasst worden, dann bräuchte man heute keine riesigen Transfers von West nach Ost. Dann gäbe es keine Arbeitslosigkeit im Osten und deshalb auch weniger Wanderungen gen Westen.
Wären liberale Ökonomen in Deutschland vielleicht einflussreicher, wenn sie nicht immer nur die reine Lehre predigen würden?
Natürlich. Man darf das Beste nicht zum Feind des Guten werden lassen. In meiner Idealwelt gäbe es keine Notenbank. Aber da es sie nun einmal gibt, denke ich darüber nach, welche Politik sie am besten betreiben sollte. In meiner Idealwelt gäbe es auch keine öffentlichen Schulen. Da es sie aber nun einmal gibt, habe ich die Einführung von Bildungsgutscheinen vorgeschlagen, die Eltern eine freie Wahl zwischen privaten und öffentlichen Schulen erlauben würde. In libertären Kreisen gelte ich schon deswegen als Etatist.
Aber auf einigen Gebieten predigen Sie den Professor Friedman, in Kürze werden Sie 90 Jahre alt. Was betrachten Sie im Rückblick als Ihre größte Leistung?
In der Wirtschaftswissenschaft hatte ich sicher einen großen Einfluss darauf, wie über die Rolle des Geldes nachgedacht wird. Politisch hat mir die Beendigung der Wehrpflicht in den USA die größte Befriedigung verschafft. Das habe ich natürlich nicht alleine erreicht, aber ich habe mich sehr dafür eingesetzt, als ich unter Präsident Nixon Mitglied einer Kommission war, die eine Freiwilligenarmee empfohlen hat.
Warum empfinden Sie ausgerechnet diese Entscheidung als so wichtig, die mit Wirtschaftspolitik wenig zu tun hat?
Mein Hauptziel in meinem ganzen Leben war es, die Freiheit zu fördern. Freiheit ist der wichtigste Bestandteil menschlicher Existenz. Und die Wehrpflicht ist ein sehr schwerer Eingriff in die persönliche Freiheit.
Ein alter Witz: Wie viele Chicago-Ökonomen werden gebraucht, um eine defekte Glühbirne auszutauschen? Antwort: Keiner – wenn die Glühbirne ausgewechselt werden müsste, hätte der Markt bereits dafür gesorgt.
Da ist etwas dran: Chicago-Ökonomen sollten nicht herumlaufen und Glühbirnen austauschen. Ich denke, der Markt wird das schon richten.