DIE BESTIE
Dr. med. vet. Felicia Rehage
Besitzer: Busse, Gerd, wohnhaft usw.
Name des Patienten: Kira, Alter: 3 Jahre, Geschlecht: weiblich kastriert, Rasse: American Staffordshire Terrier.
Problem: Leinen- und Maulkorbzwang wegen Verletzung anderer Hunde verordnet, nach Meinung des Besitzers zu Unrecht.
Das steht auf meinem Zettel, mit dem ich die verhaltenstherapeutische Sprechstunde betrete. Was von mir erwartet wird, ist mir klar: Ich soll als hundepsychologisch und verhaltenstherapeutisch tätige Tierärztin bescheinigen, dass die von der Behörde verordneten Auflagen nicht gerechtfertigt sind, dass es sich bei dem Hund um ein »völlig harmloses« Exemplar seiner Rasse handelt. »Na ja«, denke ich mir, »das Ordnungsamt wird die Auflagen schon nicht völlig ohne Grund angeordnet haben. Dann wollen wir das Unschuldslamm und den dazugehörigen Herrn doch mal in Augenschein nehmen ... «
»Guten Tag, Herr Busse. Rehage ist mein Name«, gehe ich mit ausgestreckter Hand auf den Besitzer zu. Aus dem Augenwinkel beobachte ich die Reaktion der Kampfhündin. Wird sie dulden, dass ich dem Besitzer nahe komme? Die Staffordhündin kommt auf uns zu. Eine imposante Erscheinung: mächtiger Brustkorb, breiter Schädel, ein Muskelpaket, dazu noch dunkelbraun mit schwarzer Maske. Während der Begrüßung verrät ihre Körpersprache indifferente Neugier. »Nehmen Sie Platz, Herr Busse. Was kann ich für Sie tun?«
Die »Bestie« kommt mit einem leichten Schwanzwedeln und freundlichem Gesichtsausdruck auf mich zu. Nun, das hat nichts zu bedeuten: Bei mir, die ich seit Jahren tagtäglich mit schwierigen, bissigen oder auch gefährlichen Hunden zu tun habe, zeigen sich die Tiere oftmals von ihrer besten Seite. Das heißt noch lange nicht, dass sie auch sonst verträglich sind.
»Frau Doktor, Kira ist der liebste Hund der Welt, glauben Sie mir!« Herr Busse ist ganz aufgeregt. Ein drahtiger, durchtrainierter Mann mit einfacher Sprache und einem offenen, ehrlichen Gesichtsausdruck. Sympathisch. »Klar, alle sind sie der liebste Hund der Welt«, denke ich mir im Stillen, während ich Kira den massigen Schädel kraule. »Wir haben sie nur übernommen, vom Kumpel meines Sohnes«, erzählt der Mann, »wir wollten gar keinen Hund, aber der hat sich nicht um sie gekümmert, darum haben wir sie genommen, aus lauter Mitleid. Und jetzt sowas! ... « Der Mann sieht ganz zerknirscht aus.
Ich stelle ihm gezielte Fragen: Hat sie schon jemals einen Menschen gebissen? »Nein, niemals, Frau Doktor!« Wie ist sie zu Kindern? »Sie liebt Kinder! Wenn die Schwägerin mit dem Lütjen kommt .... « Wer füttert sie? Womit? Wann? Wo? Wo schläft sie? Was spielt sie? Spielt sie überhaupt? Und so weiter, und sofort.... Eine lange Reihe von Fragen, aber diese Kleinigkeiten helfen mir, die Situation des Hundes in der Familie einzuschätzen. Vorausgesetzt, dass mir der Besitzer die Wahrheit erzählt. Da ihm ein Großteil meiner Fragen jedoch relativ unsinnig vorkommt und mit dem eigentlichen Problem nicht viel zu tun zu haben scheint, kann er mir nur schwer etwas vormachen, selbst wenn er es, unbewusst oder gar bewusst, wollte.
Auf dem Flur der Praxis ist ein Kommen und Gehen. Kira stellt gelegentlich die Ohren auf. Das ist alles. Kein Knurren, kein Kläffen. »Territorialverhalten mäßig ausgeprägt«, kreuze ich auf meinem Zettel an. Zwar ist unsere Praxis nicht ihr Zuhause, dennoch bellen viele Patienten mit stark ausgeprägtem Territorialverhalten trotzdem, wenn jemand die Räume betritt.
Die Hündin dreht mir inzwischen das Hinterteil zu. Ich kraule ihr den Rücken. »Lässt sie sich überall anfassen?« Ich umfasse mit zwei Händen die Kruppe, also den letzten Teil des Rückens und drücke zu. Dies ist in der Hundesprache eine sehr aufdringliche Geste der Dominanz, also der Überlegenheit, gerade so, als ob ein stärkeres Tier ein schwächeres von hinten besteigt. Wenn Kira eine schlecht untergeordnete Hündin ist, würde sie mir spätestens jetzt drohen, indem sie knurrt oder sogar nach meinen Händen schnappt. Nichts geschieht. Sie schaut sich um und lässt sich weiter streicheln.
»Ja sicher lässt sie sich überall anfassen.« Herr Busse versteht nicht ganz, was diese Frage wieder soll. »Können Sie sie auf den Rücken drehen?« bohre ich weiter. »Ja klar!«
»Ja klar«, antworten auf diese Frage die meisten Hundebesitzer. Und wenn ich sie dann darum bitte es tatsächlich zu tun, fangen sie mit dem Tier endlose Diskussionen darüber an, ob es sich hinsetzen und Platz machen möchte, wobei sich bei vielen Hunden herausstellt, dass sie »im Moment doch zu aufgeregt« sind oder gerade hier und gerade jetzt einfach keine Lust haben sich den Bauch kraulen zu lassen. Zu Hause natürlich »jederzeit«, bloß jetzt eben nicht.
Was ich aber meine, ist etwas anderes. Die Frage ist: Sind die Besitzer in der Lage, den Hund, ob er nun Lust hat oder nicht, auf den Rücken zu drehen und festzuhalten, oder haben sie Angst davor, dem Tier gegenüber so dominant aufzutreten. »Schön, dann machen Sie mal, Herr Busse.« »Kira, komm her! Platz!« Kurz und knapp. Wunderbar! Kira gehorcht augenblicklich. Sollte dieser Mensch tatsächlich »das Gefühl« für Hunde haben? Hat er Kira wirklich im Griff?
Herr Busse fackelt nicht lange. Er dreht die Hündin kurzerhand auf den Rücken und schaut mich ratlos an. »Was soll ich jetzt machen?« Kira liegt völlig entspannt, alle Viere von sich gestreckt, leise grunzend und Gott ergeben. Das heißt, eigentlich nicht Gott, sondern dem Besitzer ergeben. Denn so auf dem Rücken zu liegen ist eine Geste großen Vertrauens seitens des Hundes. Er ist in dieser Lage ausgeliefert und wehrlos. Er hat sich seinem Herrn maximal untergeordnet. Und die beiden machen das prima! »Danke, Herr Busse, das war's auch schon.«
Ich telefoniere meinen kleinen Sohn herbei. »Komm bitte eben in den Behandlungsraum. Hund. Kannst ruhig hingehen und streicheln.« Der Kleine ist mit seinen neun Jahren schon ein Profi als Testperson und versteht mich sofort. »OK, Mama. Fahrrad auch?« Er muss, je nach Fragestellung, auch schon mal den Fahrradfahrer vormachen, wenn ich sehen will, wie das Tier darauf reagiert.
»Nee, nur reinkommen und streicheln. Vorsichtig. Fahrrad nachher vielleicht.«
Oft heißt die Nachricht natürlich auch: »Hund. Bleib aber in der Tür stehen, ja?«, je nachdem, wie Mama die Tiere einschätzt. »Gibt aber ne Mark! «, schiebt er zur Sicherheit nach. Recht hat er, etwas Honorar muss schließlich sein.
Sohnemann kommt, Kira macht sich kleiner, legt die Ohren ganz flach an und wuselt mit seitlich ausscherendem Hinterteil auf das Kind zu. Einwandfreie Zeichen der Körpersprache: Sie freut sich. Ich habe beide dennoch im Auge und bin sprungbereit, denn immerhin ist es mein Kind, das ich hier der amtlich reglementierten Bestie zum Fraße vorwerfe. Aber die beiden kommen bestens klar.
»Noch mehr, Mama?« Und dann, mit einem Seufzer: »Die ist sooo süß! ... « »Danke, Schatz, du kannst dir die Mark an der Anmeldung abholen«, lenke ich ihn ab, bevor er mich fragen kann, ob wir nicht auch »so einen süßen Hund« haben können. Wenn es nach ihm ginge, hätten wir nicht »nur« dreizehn Tiere, so wie jetzt, sondern hundert. Obwohl, seine Geschwister sind da auch nicht besser, wir sind wohl erblich etwas belastet ...
Unsere »Bestie« ist, meinem nun fertig ausgefüllten Fragebogen und ihrem Verhalten nach, menschen- und kindersicher und ihrem Besitzer bestens untergeordnet. Aber wie ist es mit anderen Hunden? Schließlich bekam sie die amtlichen Auflagen, weil sie Hunde beißt.
»Nur ein einziges Mal hat sie zugebissen, Frau Doktor! Ich verstehe auch nicht, warum .... «
»Und wie ist es genau passiert, Herr Busse?« Der aufgeregten Schilderung kann ich Folgendes entnehmen: Kira lief, wie fast immer, ohne Leine, »weil sie ja so gut pariert, Frau Doktor«. Dann war da plötzlich diese Setterhündin, ebenfalls ohne Leine. Diese versuchte mehrmals, Kira von hinten zu besteigen. Kira drohte, indem sie sich sofort hinsetzte und nach hinten knurrte. Die Setterhündin versuchte dennoch immer wieder, Kira auf diese Weise zu zeigen, dass sie die Stärkere sei. Und da sei es dann passiert. Kira biss irgendwann zu. Am Ende waren beide leicht verletzt, die Gegnerin hatte am Hals einen 4 cm langen Hautriss und Kira etliche kleinere blutende Stellen.
»Nun ja«, denke ich, »wenn es sich tatsächlich so abgespielt hat, trifft Kira keine Schuld. Sie ist einfach zu groß und zu stark, um sich von der viel leichteren Hündin unterordnen lassen zu müssen. Und sie hat deutlich gewarnt! Möglicherweise stimmt mit der Sozialisation der Gegnerin etwas nicht? Immerhin hat sie Kiras Zeichen entweder nicht verstanden oder nicht respektiert. Beides große Fehler, die gut sozialisierte Hunde einfach nicht machen. Immer vorausgesetzt, dass die Geschichte stimmt....«
»Herr Busse, wir treffen uns auf der Alten Bult.« Die große Hundewiese ist weithin bekannt. Hier können die Tiere ohne Leine laufen und sich nach Herzenslust austoben, hier ist immer eine Menge los.
Herr Busse lässt Kira auf der Wiese ohne Leine laufen. Ich bitte ihn mehrmals, die Hündin bei Fuß zu rufen. Es klappt perfekt. Einige Meter vor uns spielt ein kleines Kind mit seinem Vater Ball. Ich beobachte Kira gespannt und natürlich immer reaktionsbereit. Wie würde sie auf das Kind reagieren? Sie läuft darauf zu, merkt aber, dass sie offenbar »nicht gefragt« ist und dreht ab. Sie schnüffelt am Boden und trottet langsam hinter uns her. Eine Fahrradfahrerin kommt. Na, mal sehen! Herr Busse ruft: »Kira, Fahrrad!« Kira schlurft zur Seite und gibt den Weg frei. Ein kleiner Jack Russell Terrier flitzt an uns vorbei und fordert die Hündin zum Spielen auf. Sie beschnüffeln sich. Ich bin innerlich gespannt wie ein Flitzebogen. Aber es ist ein junger Rüde, also riskiere ich nicht zu viel, es müsste gut gehen. Es geht gut. Nur dass Kira die Wuselei des Terriers zu viel wird und sie den Kleinen einfach stehen lässt. Der guckt erst etwas enttäuscht, flitzt aber dann wie ein kleiner Flummi weiter.
Wir begegnen einer Retrieverhündin. »Na?«, denke ich und traue dem Braten nicht so ganz. Deshalb bleibe ich ganz in der Nähe, während sich die beiden Hündinnen beschnüffeln. Aber es bleibt eine wenig spannende Begegnung. Schon trotten beide weiter, jede ihrer Wege.
Drei große Hunde kommen auf uns zu. So wie sie sich bewegen, gehören sie demselben Haushalt an, zumindest kennen sie sich sehr gut und sie scheinen mir im Sozialverhalten gut trainiert. Das wird die Feuerprobe! Was macht Kira, wenn sie solch einem eingespielten Team begegnet? Die drei haben uns bereits erreicht und umzingeln unseren Hund mit Getöse. Beide große Rüden zeigen Imponiergehabe. Kira antwortet mit Beschwichtigungsgesten. Die Dritte im Bunde, eine Mischlingshündin, fängt Streit an. Sie fühlt sich mit ihren Freunden im Rücken mächtig überlegen. Ich beobachte Kira. Sie reagiert einwandfrei! Die Hündin und sie jagen sich im Kreis, dann wird wieder geschnüffelt, ein bisschen imponiert, dann wieder gejagt.
Herr Busse wird an meiner Seite nervös. »Lassen Sie sie mal, Herr Busse, sie sagt der anderen bloß, dass sie mindestens genau so kräftig ist wie sie. Das sieht nur so gefährlich aus.« Die beiden scheinen gleich stark zu sein, eine prinzipiell immer etwas heikle Situation. Jetzt kommt es auf exaktes Benehmenkönnen an, auf ganz kleine Zeichen der Schwäche und der Stärke, aber inzwischen habe ich Kira genug in Aktion gesehen, um ihr vertrauen zu können. »Da passiert schon nichts«, beruhige ich den Mann.
Die fremde Hündin kläfft, woraufhin ihre zwei männlichen Begleiter zurückkehren. Jetzt! Aber unsere »Bestie« erkennt die Übermacht sofort und wirft sich auf den Rücken, sie ergibt sich also, worauf die drei befriedigt weiterziehen. Das war's. Keine Verletzung, kein Tropfen Blut, dafür eine gekonnte Darbietung in den Finessen der Hundesprache. Wie das unter Hunden eigentlich immer zu sein hat. Dafür hat sich die Natur schließlich die großartige Kommunikationsfähigkeit der Wölfe einfallen lassen. Denn, so wehrhaft und gut bewaffnet wie sie sind, hätten sie sich anderenfalls schon längst gegenseitig ausgerottet und der Mensch hätte sie nie zu sehen bekommen.
Bei unseren Hunden ist es nicht anders. Die Fähigkeit, sich ohne Blutvergießen zu einigen, beherrschen sie von Geburt an. Wenn wir Menschen es ihnen ermöglichen, diese angeborenen Anlagen von Welpenbeinen an zu trainieren und wenn wir sie Artgenossen frei begegnen lassen ohne uns ständig einzumischen, dann passiert ja auch nichts. Wenn die Tiere allerdings während der Aufzuchtphase kaum Kontakt zu fremden Artgenossen haben und auch später schon beim Anblick eines anderen Hundes auf den Arm genommen oder angeleint werden, dann haben sie natürlich niemals die Gelegenheit zu lernen, ihre Kräfte und Möglichkeiten realistisch einzuschätzen. Manch ein kleiner Hund reagiert dann schlicht vermessen, manch ein großer verliert das Augenmaß und wird aggressiv.
Bestimmten Zuchtlinien bei Kampfhunden sagt man nach, dass in ihnen diese angeborene Kommunikationsfähigkeit zum Teil weggezüchtet worden sei. Das mag sein, Kira stammt jedenfalls eindeutig nicht aus einer solchen Zuchtlinie.
Wir begegnen an diesem Nachmittag noch vielen anderen Hunden: jungen und alten, kleinen und großen, frechen und phlegmatischen, Hündinnen und Rüden. Überall das Gleiche: Kira benimmt sich vorzüglich. Sie zeigt ihre Überlegenheit zwar etwas weniger, als es ihr nach Körperkraft eigentlich zustehen würde und überhaupt zeigt sie an Rangordnungsfragen wenig Interesse, aber ansonsten ist ihr Sozialverhalten, Kampfhund hin oder her, einfach perfekt.
»Und die soll ich jetzt nur noch an der Leine führen und mit Maulkorb?« Herr Busse sieht bekümmert und verbittert aus.
»Nein! Und wenn es das Letzte ist, was ich tue, verlassen Sie sich drauf. Ich mach' das mit dem Amt schon klar. Wenn alle Hunde sich so benehmen könnten wir Ihrer, Herr Busse, dann lebten wir in einer besseren Welt ... «
Das Gutachten hat mich ganz schön Arbeit gekostet. Aber Kira darf weiterhin ohne Maulkorb Gassi gehen. Ihr Besitzer nimmt sie an die Leine, wenn sie älteren oder ängstlichen Personen begegnen, ansonsten darf sie aber frei laufen. Ich weiß, ich kann mich auf die beiden verlassen.
Das sind die Sternstunden der Verhaltenstherapie.
Entnommen der "Bull Terrier Gazette" 4/99,
mit freundlicher Zustimmung des Kynos Verlag