Nahezu geschlossen lehnen die Manager aus Ölbranche, Regierungsvertreter, Analysten und Berater bislang die "Ölspitzen"-Theorie ab. Diese basierte auf der Arbeit des Shell-Geologen Marion King Hubbert, der prognostizierte, dass die Ölförderung kurz vor ihrem Maximum stand. Bestehende Reserven und technologische Fortschritte würden zu gering berücksichtigt, dem Spiel der Marktkräfte zu wenig Gewicht beigemessen, argumentieren die Gegner der "Ölspitzen"-Theorie.
Doch am Mittwoch stieg der Preis für ein Barrel (159 Liter) auf mehr als 132 $. Das sind mehr als 1000 Prozent mehr als vor einem Jahrzehnt. Die Angst vor dem Ende der Kohlenwasserstoff-Ära hat die breite Öffentlichkeit erreicht. Viele Branchenvertreter räumen heute ein, dass Lieferengpässe den Preis ebenso treiben wie die stark anwachsende Nachfrage. Analysten von Goldman Sachs halten es sogar für möglich, dass das 159-Liter-Fass Rohöl noch vor dem Ende des Jahrzehnts 200 $ kosten wird.
Haben die Anhänger der Ölspitzen-Theorie also recht? Die jüngsten Entwicklungen deuten darauf hin. So fiel im April erstmals seit einem Jahrzehnt Russlands Fördermenge. Ein halber Punkt Minus, dabei hatte das Land vor fünf Jahren noch Zuwächse von zwölf Prozent gemeldet. Lukoil-Vorstand Leonid Fedun sagte sogar, Russlands Produktion habe den Zenit womöglich bereits überschritten.
Nur wenige Tage später bestätigte Saudi-Arabien, dass man Pläne für eine Ausweitung der Produktion auf Eis gelegt habe. Energieminister Ali Naimi sagte, die ihm vorliegenden Prognosen würden keine Steigerung der Kapazitäten über das ohnehin geplante Maß hinaus rechtfertigen. Das widerspricht den meisten anderen Vorhersagen und hat die Frage aufgeworfen, ob der weltgrößte Ölproduzent Saudi-Arabien die Produktion tatsächlich nicht steigern möchte oder ob sich nach 75 Jahren Förderung die Reserven tatsächlich dem Ende zuneigen.
Saudi-Arabien steckt in der Zwickmühle. Als das Königreich kürzlich eine leichte Erhöhung der Fördermengen ankündigte, drückte das den Preis kaum, denn jede Produktionssteigerung zehrt nur umso schneller die Reserven auf. Erschwert wird die Situation dadurch, dass Saudi-Arabiens Erdölindustrie sehr öffentlichkeitsscheu ist. Die Hauptstadt Riad ist so stark abgeschottet, dass die Analysten des Finanzdienstleisters Sanford Bernstein es mit Satellitenüberwachung versuchten. Neun Monate lang kontrollierten sie so die Bohraktivitäten des Landes auf dem Ölfeld Ghawar. Sie kamen zu dem Schluss, dass sich Saudi-Arabien mehr als erwartet anstrengen muss, um dem nördlichen Teil des weltgrößten Felds mehr Öl abzugewinnen.
Die Ankündigung Riads, die Kapazitäten nicht aufzustocken, wertete der bekannte Ölmarktanalyst Matthew Simmons als weiteren Beleg dafür, dass das Königreich gegen den Kollaps ankämpft. Mit seinem Buch "Wenn der Wüste das Öl ausgeht" trug der Investmentbanker entscheidend dazu bei, Zweifel an der künftigen Verlässlichkeit Saudi-Arabiens zu säen. Simmons kam nach Prüfung von 200 technischen Studien zu dem Schluss, dass die Ölfelder des Königreichs schwieriger zu erschließen seien und sich schneller leerten, als es die Scheichs bislang einzugestehen bereit waren.
Simmons sagt, die Welt hänge von einigen wenigen riesigen, alten, schwindenden Ölfeldern ab. Seit den 1970er-Jahren sei fast nichts Neues entdeckt worden, was ihnen gleichkommt. Ein Fünftel des heute verbrauchten Öls stammt aus einem Feld, das über 40 Jahre alt ist. Kein Feld, das in den vergangenen 30 Jahren entdeckt wurde, produziert mehr als eine Million Barrel pro Tag. Zudem ist die Größe der seit damals entdeckten Felder dramatisch gesunken.
Mit steigendem Alter sinkt die Produktion - teilweise radikal. Ein Beispiel dafür ist das mexikanische Feld Cantarell. Aus dem 1976 von einem Fischer entdeckten Feld wurden in Spitzenzeiten über zwei Millionen Barrel pro Tag gepumpt. Heute ist es die Hälfte und die Mengen sinken weiter, jedes Jahr um 24 Prozent. Ähnliche Trends, wenn auch nicht so dramatisch, finden sich in fast allen Feldern weltweit, darunter möglicherweise auch die vier größten Ghawar, Cantarell, Burgan in Kuwait und Daqing in China. Jedes Jahr dienen bis zu zwei Drittel der neuen Kapazitäten dazu, den Ausfall der alternden Felder aufzufangen.
Shellgeologe Hubbert sagte 1956 korrekt vorher, dass die Produktion in den USA zwischen 1965 und 1970 ihren Höhepunkt erreichen würde. Spätere Prognosen erwiesen sich als weniger zuverlässig. Die Hubbert-Kurve besagt, dass das Produktionsniveau einer begrenzten Ressource einen glockenförmigen Verlauf nimmt. Nach dem Überschreiten des Zenits drohen also Wirtschaftsunruhen und ein rascher Rückfall in die vorindustrielle Zeit.
Die Sorgen über die künftige Erdölversorgung haben mittlerweile auch die Führungsetagen der Ölbranche erreicht. ConocoPhillips-Chef James Mulva und Total-Chef Christophe de Margerie sagten kürzlich beide, die Weltproduktion werde ihrer Einschätzung nach niemals mehr als 100 Millionen Barrel pro Tag betragen. Doch diese Menge benötigt die Welt nach Einschätzung der Internationalen Energieagentur IEA in sieben Jahren - und weitere 16 Millionen Barrel täglich im Jahr 2030.
Als Anhänger der "Ölspitzen"-Theorie würden sich Mulva und de Margerie wohl kaum bezeichnen lassen. Doch wie immer mehr Branchenmanager und Minister vertreten auch sie die Einschätzung, dass der Welt das leicht zu gewinnende Öl ausgeht und dass vor allem politische Hindernisse die Firmen davon abhalten, die geschätzten Reserven von 2400 bis 4400 Milliarden Barrel zu fördern.
Die Mineralölbranche bereitet sich nicht auf einen Tag X vor, an dem das Öl endgültig alle ist, sondern nutzt neue Technologien, um alte Felder besser zu nutzen und schwer zugänglichere Reserven zu erschließen. Aber auch sie tritt für einen weniger verschwenderischen Umgang mit dem Bodenschatz ein.
Manager aus der Mineralölbranche räumen ein, dass die Felder der Industrienationen, beispielsweise in der Nordsee und in Alaska, vor der Spitze stehen. Doch ihrer Einschätzung nach enthalten unkonventionelle Felder wie die im venezolanischen Orinoko-Gürtel oder die Ölschiefervorkommen im kanadischen Alberta mehr Erdöl als Saudi-Arabien, und auch die Arktis beherbergt möglicherweise immense Bestände. Chinas neue Liebe zum Auto lasse sich, so die Manager, eventuell mit alternativem Treibstoff befriedigen, der aus Erdgas, Kohle, Getreide, Zuckerrohr, Algen oder Truthahninnereien, gewinnen lassen.
Das größte Ölfeld liegt unterhalb Detroits, sagt der Berater Joseph Stanislaw von Deloitte Consulting. Er spielt damit darauf an, dass sich täglich Millionen Barrel Erdöl sparen ließen, wenn die Amerikaner auf umweltfreundlichere Autos umsteigen würden.
All das bedeute, die weltweite Produktion werde "ein Jahrzehnt oder mehrere auf einem wellenförmigen Plateau liegen, bevor sie langsam absteigt", sagt Peter Jackson von Cambridge Energy Research Associates (Cera). Das Beraterunternehmen sieht für die globalen Produktionsfähigkeiten keinen Rückgang vor dem Jahr 2030 voraus und liefert damit eine der zuversichtlichsten Prognosen ab.
Entspannung ist trotzdem nicht angesagt, räumt auch Cera ein. Saudi-Arabiens überschüssige Kapazitäten sind so gering wie seit vielen Jahren nicht mehr. Wegen des Erdölhungers von China und anderen Ländern belaufen sie sich auf nur noch zwei bis drei Millionen Barrel pro Tag. Das würde nicht ausreichen, um große Produktionsausfälle auszugleichen - ein Umstand, der nicht unwesentlich zum hohen Ölpreis beiträgt.
Die langfristigen Alternativen bergen ganz eigene Probleme. Die Ölschiefervorkommen in Alberta abzutragen ist ein sehr großes und schmutziges Unterfangen, das immense Mengen an Energie und Wasser brauchen würde. Und dank Venezuelas populistischem Präsidenten Hugo Chávez wagt es kaum ein ausländisches Ölunternehmen, Milliardenbeträge in die Erschließung der Felder im Orinoko-Gürtel zu pumpen. Und die Technologie zur Erschließung von Ölvorkommen in der Arktis muss erst noch erfunden werden. Was die alternativen Energiequellen anbelangt, so sagen auch die optimistischsten Befürworter voraus, dass Sonnenkraft, Wind und Truthahngedärm nur eine Nebenrolle im Energiemix spielen werden.
Selbst wenn ab Morgen alle Beschlüsse zur Steigerung des Anteils erneuerbarer Energiequellen umgesetzt würden und alle Ölsparmaßnahmen befolgt würden, müsste die Opec der IEA zufolge bis 2030 die Tagesproduktion um 11,5 Millionen Barrel steigern. Und den Großteil davon müsste Saudi-Arabien stemmen.
11,5 Millionen sind eine Menge, über 50 Prozent mehr als die Steigerung, die die Opec zwischen 1980 und 2006 erreichte. Erschwerend kommen jetzt noch ein Fachkräftemangel (das Durchschnittsalter der Branche beträgt fast 50 Jahre) und Engpässe bei der Versorgung mit Stahl und anderen wichtigen Materialien hinzu.
Was geschieht, wenn Politik, überalterte Mitarbeiter und Materialmangel zusammenkommen und Saudi-Arabien nicht als Retter einspringen will oder kann? Werden die Vertreter der "Ölspitzen"-Theorie recht behalten, wenn auch aus den falschen Gründen?
Das hängt von der Korrekturfähigkeit des Markts ab. Für Optimisten sieht der schlimmste Fall so aus: Die hohen Ölpreise bremsen die Nachfrage und geben so den Unternehmern Gelegenheit, sich Methoden zur Gewinnung und Konservierung von Energie auszudenken.
In den USA und anderen Industrienationen verlangsamt sich das Wachstumstempo der Nachfrage bereits. Möglicherweise werde dies den energiehungrigen Schwellenländern ermöglichen, weitere Produktionssteigerungen einzufordern, sagt der Analyst Neil McMahon von Sanford Bernstein. Bei einem Weltwirtschaftswachstum von 3,5 Prozent bleibe die Ölnachfrage praktisch unverändert, so McMahon.
Die Statistikabteilung EIA des US-Energieministeriums prognostiziert, dass die USA ihre Importe von Erdöl und Petroleumprodukte in den kommenden 22 Jahren leicht zurückfahren werden. Die Abhängigkeit des weltgrößten Ölverbrauchers von Importen würde demzufolge von 60 Prozent bis 2015 auf 50 Prozent sinken und bis 2030 dann wieder auf 54 Prozent zunehmen. Als Gründe für den Rückgang führt die EIA geringeren Treibstoffverbrauch von Autos, eine niedrigere Nachfrage, die stärkere Verwendung von Biokraftstoff und eine Erhöhung der Produktion im Golf von Mexiko an.
Die Szenarien der Pessimisten beinhalten einen ernsteren und umfassenderen Abschwung, da die Entwicklungsländer unter der Last, die steigenden Treibstoff- und Lebensmittelkosten ihrer Bürger subventionieren zu müssen, in die Knie gehen. Das vielleicht schwärzeste Bild malt der Geologe und Autor Jeremy Leggett in seinem Buch "Half Gone: Oil, Gas, Hot Air and the Global Energy Crisis": "Der Häuserpreis kollabierte, die Aktienmärkte brachen ein ... Firmen gingen bankrott. Hunderttausende und dann Millionen Arbeiter verloren ihre Beschäftigung. In ehemals wohlhabenden Städten voller Straßencafés bildeten sich Schlangen vor den Suppenküchen und Heerscharen von Bettlern in den Straßen."
http://www.ftd.de/politik/international/...0%D6lzeitalter/358566.html