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LITERATURDEBATTE
Autoren unter Generalverdacht
Von Volker Hage
Kulturkritiker rüsten zu einer bizarren Literaturdebatte: Verharmlosen erfolgreiche Bücher wie Günter Grass' Novelle "Im Krebsgang" oder Bernhard Schlinks Roman "Der Vorleser" die Schuld der Deutschen an Holocaust und Zweitem Weltkrieg?
Schrille Alarmmeldungen kommen aus vielen Himmelsrichtungen: Von der Schweiz aus sieht die "Neue Zürcher Zeitung" ("NZZ") in Deutschland eine "neue Unbefangenheit der eigenen Geschichte gegenüber" walten. Anzeichen für eine solche "Transformation der Täter- in eine Opfergesellschaft" gebe es schon lange, jetzt aber drohe die Thematisierung deutschen Leidens - wie etwa in der Bestseller-Novelle "Im Krebsgang" von Günter Grass - das Leid der Holocaust-Opfer und -Überlebenden zu relativieren.
Aus Berlin meldet die "Süddeutsche Zeitung" ("SZ") nach einer Lesung des Schriftstellers Peter Schneider aus dessen neuem Prosawerk, dem Autor gehe es um die "Entlastung der Deutschen von ihrer Schuld".
Die in Hamburg erscheinende Zeitschrift "Mittelweg 36" bezichtigt den in Basel lebenden deutschen Autor Dieter Forte, er habe in einem Roman über den Bombenkrieg seinen Figuren einen kollektiven "Opferstatus" zuerkannt, um "Fragen der Schuld" abwehren zu können.
Am härtesten aber attackiert wiederum die "SZ" den Erfolgsautor Bernhard Schlink und dessen Roman "Der Vorleser". Der Mann wolle schlicht "mit der Vergangenheit aufräumen".
Sind neuerdings in der deutschen Literatur, klammheimlich oder schamlos offen, Verharmloser deutscher Schuld am Werk? Lügen Romane und Novellen Täter dreist zu Opfern um? Es scheint so, als hätten Kulturkritiker da unter dem Banner der politischen Korrektheit Stoff für eine aufregende Debatte angesammelt.
Da wird ausgerechnet dem Schriftsteller Grass, 74, seit vielen Jahren erklärter Gegner jeder CDU-Politik, in der "NZZ" nachgesagt, er knüpfe mit seiner Sicht der Dinge an Äußerungen des früheren Bundeskanzlers Konrad Adenauer über das Unglück der Deutschen an.
Noch spektakulärer ist der Angriff auf Schlinks Roman "Der Vorleser" (1995), das weltweit erfolgreichste Werk eines deutschen Literaten nach der "Blechtrommel" von Grass und Patrick Süskinds Roman "Das Parfum".
Selbst das notorisch an ausländischer Leseware desinteressierte US-Publikum fand Gefallen an der eigenwilligen Geschichte des jungen Helden Michael Berg und seiner älteren Geliebten Hanna Schmitz, die sich später als ehemalige KZ-Aufseherin entpuppt - in Deutschland ist das Buch mittlerweile Schullektüre, in Hollywood wird derzeit die Verfilmung vorbereitet. Sind Millionen Leser naiv einem beschönigenden Machwerk aufgesessen, müssen nun besorgte Eltern sich um die Lektüre ihrer Schulkinder sorgen, sollen die Filmbosse den Dreh besser abblasen?
Haarsträubende ideologische Mängel des Romans hat Willi Winkler im "SZ"-Feuilleton ausgemacht - er deckt das Buch mit Vokabeln wie "Holo-Kitsch", "treudeutsch" und "abscheulich" regelrecht ein.
Wohin Winklers Vorwurf zielt, macht sein Seitenhieb auf den Spielberg-Film "Schindlers Liste" deutlich, durch den man sich angeblich "sogar als Deutscher wieder besser fühlen" könne - unzulässigerweise, versteht sich. Ähnlich soll das wohl auch für Schlink gelten und seine Romanfiktion von dem jungen Jura-Studenten, der in der Angeklagten eines KZ-Prozesses plötzlich seine ehemalige Geliebte wiedererkennen muss. Weil er in ihr nicht allein die Schergin zu erblicken vermag, büßt er die Selbstgewissheit moralischer Überlegenheit gegenüber der Väter- und Tätergeneration ein.
Was Winkler in seiner Polemik an Argumenten fehlt, ersetzt er durch Rempeleien. Mit schulmeisterlicher Geste etwa gesteht er Schlink zu, er habe wohl "von den Verbrechen vor seiner Zeit gehört" - doch was habe er daraus gemacht? "Er schweigt nicht, sondern er schreibt darüber." Unerhört offenbar für einen Schriftsteller.
"Der Jurist Schlink nimmt sich das Recht heraus", so ein Vorwurf Winklers, "die Judenvernichtung an dem einen Musterfall zu erklären." Als ob Schlink, 57, der neben seiner literarischen Tätigkeit als Jura-Professor und Verfassungsrichter arbeitet, nicht genau wüsste, dass der Schriftsteller jeweils nur den Einzelfall verhandeln kann. Er soll die Absicht gehabt haben, ausgerechnet in einem Roman die Judenvernichtung zu "erklären"?
Der "SZ"-Artikel verweist auf eine "erregte Debatte", die auf der britischen Insel losgebrochen sei, schon mit der Unterzeile: "England begreift nicht mehr, was es an Bernhard Schlinks Bestseller ,Der Vorleser' fand." Tatsächlich ist die angebliche Debatte in England nur ein Vorwand für die eigene Attacke gegen Schlinks Buch: Der britische Disput wurde in vier Leserbriefen im "Times Literary Supplement" ("TLS") ausgetragen, die im März auf eine Rezension von Schlinks Erzählungsband "Flights of Love" ("Liebesfluchten") reagierten - der Roman "The Reader" war vom gleichen Blatt schon 1997 vorgestellt und damals als "unwiderstehlich" gelobt worden.
Auch jetzt wurde Schlink im "TLS" verteidigt (was die "Süddeutsche" unterschlägt), doch in der Tat: Drei Leser zeigen sich über den fast sieben Jahre alten Roman empört - darunter der Germanistik-Professor Jeremy Adler, Sohn eines Holocaust-Überlebenden und nun Hauptzeuge der Anklage. Genüsslich zitiert Winkler den Schlusssatz Adlers: "Es wirft ein trauriges Schlaglicht auf unsere verkehrte Welt, dass diesen Schundroman ausgerechnet ein deutscher Richter ausgebrütet hat."
Und aus einem anderen Leserbrief zitiert er: "Wenn Literatur irgendeine Bedeutung haben soll, dann ist darin kein Platz für den ,Vorleser'." Darum geht es Winkler: hinaus aus den heiligen Hallen der Literatur!
Ähnlich verdreht sind die "SZ"-Vorwürfe gegen Peter Schneider. Nach einer gemeinsamen Veranstaltung mit Bundeskanzler Gerhard Schröder in Berlin, wo er Ende Februar aus seinem Buch "Und wenn wir nur eine Stunde gewinnen ..." vortrug, hieß es, Schneider habe sich angestellt, "als hätte er eben erst vom Holocaust gehört".
Das genau recherchierte Buch beschreibt die Überlebensgeschichte des jüdischen Musikers Konrad Latte im Berlin der Nazi-Zeit, berichtet von einer der wenigen glücklichen Ausnahmen, an der immerhin rund 50 Helfer beteiligt waren - historisch belegt wie die Rettungsaktion des Deutschen Oskar Schindler.
"Ein ganz aufregendes neues Thema: Ein Jude überlebt die Nazi-Zeit", heißt es dazu höhnisch in der "SZ". "Ein Tatsachenbericht. Die eigentlichen Helden scheinen die Deutschen zu sein, die ihn verstecken." Die Tendenz des Artikels: Schneider, 61, wolle in den Deutschen keine Täter mehr sehen.
Der Angriff auf Dieter Forte in der Zeitschrift "Mittelweg 36", herausgegeben vom Hamburger Institut für Sozialforschung, einer Stiftung von Jan Philipp Reemtsma, ist da schon subtiler. In dem Beitrag zu der 1997 von W. G. Sebald (1944 bis 2001) ausgelösten Debatte über "Luftkrieg und Literatur" und dessen Frage, warum die deutsche Literatur das Thema der eigenen Leidenserfahrung im Zweiten Weltkrieg bislang kaum zur Sprache gebracht habe, wird Dieter Fortes bemerkenswerter autobiografischer Roman "Der Junge mit den blutigen Schuhen" (1995) einer ideologischen Nachprüfung unterzogen.
Forte erzählt von Todesangst und Traumatisierung in den Luftschutzkellern. Darf sich ein Kind in der Erinnerung als unschuldiges Opfer des Bombenkriegs sehen? Darf der Autor das regimekritische Milieu des Düsseldorfer Arbeiterviertels so schildern, wie es sich ihm dargestellt hat? Und von einem älteren jüdischen Handwerker erzählen, Opa Winter, der sich innerhalb der Nachbarschaft im "Quartier" sicher aufgehoben fühlt? Darf es heißen: "Es gab Heldentaten, von denen nie einer berichtet hat"?
Offenbar nicht. Der Zeitschriften-Autor Stephan Braese fährt schwere Geschütze politischer Besserwisserei gegen Fortes Werk auf: Die "Gestalt der Machthaber" bleibe im Roman unscharf, lautet noch der geringste Vorwurf. Vielmehr: Nicht nur dem Kind, auch der Familie und den Bewohnern des Viertels, erklärten Nazi-Gegnern, werde "Opferstatus" zugeschrieben.
Schlimmer noch sei Fortes Schilderung des Versuchs, "einen Juden zu retten": Die Darstellung der (angeblich) "einzigen im Roman gestalteten jüdischen Figur" lehnt Braese als "Stereotypisierung des verfolgten Juden" ab - da kann sich Forte, 66, lange auf die realen Vorbilder berufen und an einen Juden namens Sommer erinnern, dessen Leben er so beschrieben habe, "wie es nun einmal ablief, auf dass er nicht vergessen wird".
Für die Deutschen im Luftschutzkeller war eine antifaschistische Haltung (wie bei Forte beschrieben) nun einmal nicht typisch, also kann die ganze Perspektive nicht stimmen. So einfach ist das.
Forte aber kommt sich nun "wie ein gemaßregelter DDR-Autor" vor, einer, "der von der Partei gehörig belehrt wurde, dass er den Klassenfeind nicht, wie von der Partei formuliert, richtig beschrieben habe und sein Werk deshalb nichts taugen könne". Er empfindet die Rüge aus dem Hamburger Institut als "politischen Verweis", als Political Correctness "in ihrer peinlichsten Form".
Tatsächlich hat es seit den Tagen der DDR keine derart ideologischen Gutachten über deutsche Literatur gegeben. Damals schrieb die Partei der Arbeiterklasse den Schriftstellern eine historische und ideologische Perspektive zwingend vor: Vorbildliche Figuren und beispielhafte Handlungen waren gefordert, nicht eigenwillige Perspektiven, selbstbezogene Befindlichkeiten, subjektive Erinnerungen.
"Parteilichkeit und Volksverbundenheit" ließen nicht zu, dass etwa der zweite Teil eines Romans von Boris Djacenko ("Herz und Asche") publiziert wurde. Der Autor schildert darin, wie eine aus dem KZ befreite Frau von Russen vergewaltigt wird. Die DDR-Zensoren warfen dem Autor seinerzeit nicht nur "antisowjetische Tendenzen" vor, sondern sie taten sein Manuskript auch gleich als "historisch unwahr und künstlerisch unzulänglich" ab.
Auch heute werden politische und literaturkritische Verdammung gern verquickt, ob im Fall des "Vorlesers" oder der neuen Grass-Novelle "Im Krebsgang", die von der Versenkung des deutschen Flüchtlingsschiffs "Wilhelm Gustloff" im Januar 1945 mit rund 9000 überwiegend zivilen Opfern berichtet. Natürlich darf und muss es unterschiedliche Kritikermeinungen geben, auffällig bleibt doch die Kombination von politischem Unbehagen und der Behauptung der literarischen Unwürdigkeit des Gegenstands. Gegen lobende Rezensionen, unter anderem im SPIEGEL (6/2002), durchaus unter Hinweis auf die Brisanz des Themas, setzten die "SZ" und die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" rigorose Verrisse mit politisch-moralischer Argumentation.
AP
Peter Schneider (l.) mit Hans-Christoph Buch und Bundeskanzler Schröder im Februar 2002: Das penibel recherchierte Buch "Und wenn wir nur eine Stunde gewinnen..." schildert, wie ein jüdischer Musiker dank deutscher Helfer überlebt - eine unzulässige Verklärung?
Mit Literatur habe das nichts mehr zu tun, lautete der Schlusssatz der "SZ"-Kritik, die Novelle sei "literarisch und ästhetisch dürftig". In der "FAZ", die zunächst eine eher freundliche Kritik druckte, schmähte man das Grass-Werk nun als "eine bessere Handreichung für Volksschullehrer", bei der, so die rhetorische Leerformel, "der Spielraum für divergierende ästhetische Wertungen als besonders gering veranschlagt werden darf".
Keine Frage, dass solche Reaktionen - wie sie es selbst gegen die meisterhafte KZ-Kinosatire "Das Leben ist schön" des Italieners Roberto Benigni gab - auch mit dem immensen Publikumserfolg zu tun haben: Die Bücher von Grass und Schlink verkaufen sich bestens. Und literarischer Erfolg macht in Deutschland skeptisch.
Rund 30 Grass-Übersetzer sitzen derweil weltweit an der Arbeit. 23 von ihnen trafen sich gerade erst im Lübecker Buddenbrook-Haus mit dem Autor zur traditionellen Besprechungsrunde, darunter Boris Chlebnikow, der das Buch ins Russische überträgt. Er berichtete, wie in seiner Heimat dem Buch entgegengefiebert wird und dass auch dort schon eine Diskussion begonnen habe (ein Sowjet-U-Boot hatte die "Gustloff" torpediert). Grass hat ohnehin erst spät seine russischen Leser erreicht: Wie in der DDR waren seine Bücher lange Jahre in Moskau unerwünscht.
Doch ein weniger vom Erfolg verwöhnter Autor wie Dieter Forte fragt sich derzeit, ob es noch möglich ist, über "persönliche Verletzungen und Traumata" zu schreiben, ohne in die nun um sich greifende Täter-Opfer-Debatte verstrickt zu werden. Sind die ideologischen Mängelrügen erst der Anfang eines neuen Generalverdachts, unter den sich jene deutsche Literatur gestellt sieht, die aus dem Abstand eines halben Jahrhunderts heraus (und zum Teil schon aus zweiter Hand) die von den Deutschen ausgelöste Katastrophe des Weltkriegs neu erzählen möchte?
IN SPIEGEL ONLINE
· Titel: Die Deutschen als Opfer - Günter Grass erzählt vom tausendfachen Tod bei der Versenkung der "Wilhelm Gustloff" (04.02.2002)
· Vergangenheitsbewältigung: Kempowski kritisiert den Grass-Hype (03.04.2002)
· Nachkriegsliteratur: Günter Grass kritisiert "revanchistischen Unterton" (05.02.2002)
· Der neue Grass: Rückwärts krebsen, um voranzukommen (04.02.2002)
Da klingt es schon fast bedenklich, wenn ein besonnener Kritiker wie Wolfgang Ignée in der "Stuttgarter Zeitung" erwähnt, dass eine "unbefangene jüngere Generation" inzwischen Abschied von der These der Kollektivschuld nehme und beginne, "die Historie differenzierter zu sehen".
Noch sind jüngere Autoren wie Marcel Beyer ("Flughunde"), Judith Kuckart, deren neuer Roman "Lenas Liebe" wie nebenbei von einem Ausflug nach Auschwitz erzählt, oder Tanja Dückers, die an einem Roman arbeitet, der ebenfalls vom "Gustloff"-Untergang handelt, nicht ins Visier der Correctness-Überwacher geraten. Hätte die aktuelle, bizarre Debatte nun vorauseilende Ängstlichkeit zur Folge: Es wäre ein Unglück für die Literatur.