Aus dem Handelsblatt!
Am Neuen Markt werden die schlimmsten Befürchtungen wahr
Von CHRISTIAN SCHNELL Vorstände in Untersuchungshaft, gefälschte
Bilanzen, Forderungsbetrug. Die Meldungen der letzten Tage belegen: Der
Neue Markt steckt wieder einmal in einer tiefen Vertrauenskrise, vielleicht
sogar der tiefsten in seiner fünfjährigen Geschichte. Denn die jüngsten Vorgänge
um Comroad, Ceyoniq oder Phenomedia übertreffen selbst die Befürchtungen
derer, die dem deutschen Wachstumssegment bisher schon skeptisch
gegenüberstanden. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die ungezählten
Meldungen und Gerüchte über Unternehmen, die auf der Kippe stehen.
Die Schreckensmeldungen vergrößern noch den Schaden für das bereits
schlechte Image und haben direkte Auswirkungen auf den Handel. Hier
bestimmten bisher wie in jedem so genannten Qualitätssegment die
institutionellen Anleger das Geschehen. Etwa 90 Prozent des Handelsvolumens
kommt an normalen Tagen von ihnen. Doch die großen Fonds, Versicherungen
und Banken finden immer weniger Werte, bei denen ein Einstieg für sie generell
sinnvoll erscheint.
Zwei Dinge spielen dabei eine Rolle: Erstens ist ein Unternehmen erst ab einer
Marktkapitalisierung von mindestens 50 Millionen Euro für Großanleger
interessant. Erst dann ist ein problemloser Handel größerer Pakete möglich.
Derzeit bietet zwar noch rund ein Drittel der über 300 Unternehmen des Neuen
Marktes diese Möglichkeit, doch beinahe täglich werden es weniger.
Hinzu kommt die Kapitalvernichtung in den vergangenen beiden Jahren.
Brachte es das deutsche Wachstumssegment in seiner Hochphase im März
2000 noch auf eine Marktkapitalisierung von 234 Milliarden Euro bei 220
Unternehmen, so repräsentieren momentan die 300 Unternehmen noch eine
Marktkapitalisierung von 44,6 Milliarden Euro.
Mindestens genauso wichtig wie die nackte Statistik ist die Atmosphäre. Auch
den institutionellen Anlegern stellt sich immer häufiger die Frage, wem denn
überhaupt noch zu trauen sei. Unternehmenslenker wie der hemdsärmelige
Ex-Comroad-Chef Bodo Schnabel oder die seriös wirkenden
Ceyoniq-Gründer Thomas Wenzke und Jürgen Brintrup erweckten schließlich
jahrelang den Eindruck von Solidität, Marktkenntnis und Führungsqualität. Bis
dato mussten Investoren im Wesentlichen zwischen soliden Kaufleuten und
"Glücksrittern" unterscheiden, die vor Visionen strotzend irgendwann mit der
rauen Realität konfrontiert wurden. Inzwischen gilt es herauszufinden, bei
welchen Firmenlenkern kriminelle Energie im Spiel sein könnte. Zugegeben,
Anleger wurden schon in der Vergangenheit getäuscht, was die Fälle
Infomatec, Metabox oder CAA belegen. Allerdings wurde hier mit
Ad-hoc-Mitteilungen eine falsche Realität vorgegaukelt.
Skrupellose Bilanzfälschungen stellen aber eine neue Dimension dar. Weitere
Enthüllungen werden nicht lange auf sich warten lassen, und sei es
nur, weil die hellhörig gewordenen Wirtschaftsprüfer die Bilanzen künftig noch
genauer unter die Lupe nehmen werden.
Die Konsequenz: Großinvestoren werden künftig den Neuen Markt als Ganzes
noch zurückhaltender betrachten als sie es bislang schon tun. Das Image der
"Zockerbörse", die bestenfalls für den hochspekulativen Anleger geeignet ist,
wird sich weiter verstärken - sehr zum Schaden Dutzender solider
Unternehmen, die zweifellos noch immer am Neuen Markt vertreten sind und
eigentlich mehr Beachtung verdient hätten. Auch Emissionskandidaten werden
sich künftig zweimal überlegen, ob sie die Kosten des Neuen Marktes zahlen
wollen, um sich schließlich dem Negativimage des Segments auszuliefern.
Gefordert ist dabei nun erneut auch die Deutsche Börse. Sie sollte im Interesse
der Anleger bei Verstößen umgehender handeln. Nach dem derzeitigen Stand
ist beispielsweise Comroad noch bis Mitte Juni im Nemax 50 gelistet. Vor
allem sollte sie sich ernsthafter Gedanken darüber machen, wie sinnvoll es ist, in
einem Wachstumssegment jedes sechste Unternehmen in einen Auswahlindex
zu stecken. Wie werthaltig die Qualität im Nemax 50 ist, haben zuletzt die Fälle
Biodata, Heyde oder Fantastic gezeigt. In der Zwischenzeit sollten die
Verantwortlichen wenigstens bei Neubesetzungen im Nemax 50 mehr
Entscheidungsfreude an den Tag legen. Statt auf Branchenzusammensetzung
und Kontinuität zu bauen, ist hartes Durchgreifen gefragt.
Vorbildfunktion könnte dabei - wieder einmal - die US-Technologiebörse
Nasdaq haben. Dort bietet der Nasdaq 100 eine extrem komprimierte
Auswahl aus den insgesamt etwa 4 300 börsennotierten Werten. Obwohl
Hunderte von Unternehmen Jahr für Jahr aus dem Segment ausscheiden und
der Kurseinbruch in den vergangenen 25 Monaten fast so hoch war wie am
Neuen Markt, wurde bislang zu keinem Zeitpunkt die Existenzberechtigung der
Nasdaq in Frage gestellt.
Große Fonds finden immer weniger Werte, bei denen sie einsteigen können.