Enron, Andersen, Merrill Lynch: Immer neue Skandale erschüttern das Vertrauen der Amerikaner in ihre Wirtschaft. Sind die Affären nur drastische Beispiele für die ganz normale Gier und den Machtmissbrauch in den Chefetagen?
Enron-Aufsichtsräte am 7. Mai 2002 vor dem Untersuchungsausschuss des US-Senats
Manchmal hilft aller Spürsinn nicht weiter, ist die ganze elende Ermittlungsarbeit einer Staatsanwaltschaft für die Katz, egal wie viele Aktenseiten sie auch füllt. Manchmal bleibt nur noch das Warten auf einen Zufallsfund. Auf einen Tonbandmitschnitt oder ein Schriftstück, das die Beweiskette schließt und endlich den ersehnten Durchbruch bringt. Zu Eliot Spitzer kam das Ermittlerglück in Form eines Bündels E-Mails.
Monatelang hatte der New Yorker Generalstaatsanwalt auf eigene Faust den Analysten der großen Investmentbanken an der Wall Street nachgestellt, jenen angeblich unabhängigen Finanzexperten, die in den tollen Tagen des großen Aktienkarnevals noch die letzte Dot.com-Klitsche zum Börsenstar hochjubelten. Höchst anrüchig fand Spitzer das, ein Verstoß gegen die stets beschworene Sorgfaltspflicht.
Doch alles, was der Staatsanwalt bei seinen Ermittlungen zu Tage förderte, waren ein paar windelweiche Entschuldigungen und jede Menge Luft. Spitzer hatte sich festgefahren - bis zu jenem Januar-Tag, als er beim Aktenstudium auf eine Reihe E-Mails stieß, die seine Leute neben unzähligen Dokumenten bei Merrill Lynch beschlagnahmt hatten und die unter anderen von Henry Blodget stammten, einem der einflussreichsten Wall-Street-Analysten. Blodget klagte darin über das "Stück Müll", das er gerade zu bewerten habe, an anderer Stelle war von "diesem Stück Mist" die Rede.
Seit der Staatsanwalt seine Beweisstücke der Öffentlichkeit präsentierte, weiß die Welt nun nicht nur, dass sich die Aktiengurus der Wall Street untereinander einer Sprache bedienen, die sich nicht allzu sehr von der von Müllkutschern unterscheidet. Auf ziemlich solidem Fundament ruht jetzt auch sein Verdacht, dass die mächtigen Investmentbanken mutwillig die Interessen der Anleger verrieten, wenn es dem eigenen Profit diente.
Denn was Blodget und seine Kollegen drastisch, aber dafür wahrheitsgemäß als "shit" oder "crap" bezeichneten, empfahlen sie oft kurze Zeit später in ihren Berichten als goldene Kaufgelegenheit. "Buy" oder "Strong buy" lauteten dann ihre Ratschläge. Für die Analysten und ihren Arbeitgeber war diese Art von Falschspiel eine lohnende Geschichte: Mehrere Milliarden Dollar hat allein Merrill Lynch an Gebühren von jenen Firmen kassiert, die sie nicht nur bewerteten, sondern eben auch beim Einsammeln von Kapital berieten. Anpreiser Blodget, der inzwischen seinen Job gekündigt hat, soll zuletzt zwölf Millionen Dollar an Vergütung erhalten haben.

Amerikas jüngster Finanzskandal ist selbst in der langen und an Korruptionsfällen nicht gerade armen Geschichte der Wall Street ohne Parallele. Noch nie zuvor hat das gezielte Verbreiten von Fehlinformationen so viele Anleger so viel Geld gekostet. Zudem steht mit Merrill Lynch nicht irgendeine Bank im Zentrum der Ermittlungen, sondern das größte und einflussreichste Investmenthaus der Welt. Und wie es aussieht, ist erst der Startschuss für weitere peinliche Enthüllungen gefallen.
Mittlerweile hat Spitzer seine Ermittlungen auf Salomon Smith Barney, Morgan Stanley Dean Witter und drei andere Finanzinstitute ausgeweitet. Die Börsenaufsichtsbehörde SEC ist eingeschaltet und das Justiz-Department. Der US-Kongress erwägt die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, um sich selbst ein Bild vom Ausmaß der Verfehlungen zu machen.

Innerhalb weniger Monate wird den Amerikanern nun schon zum zweiten Mal die Nachtseite des Kapitalismus ausgeleuchtet. Gerade erst haben sie den Kollaps des Enron-Konzerns mit all seinen hässlichen Details erlebt. Noch immer sind die Justizbehörden damit beschäftigt, die Trümmer wegzuräumen, die der Bankrott des einst siebtgrößten Unternehmens der USA hinterlassen hat. Über Jahre hatte der Energieriese Gewinne gemeldet, die gar keine waren. Vergangenen Montag begann in Houston das Verfahren gegen den Wirtschaftsprüfungskonzern Arthur Andersen, der mit Gefälligkeitsgutachten die Schwindelwirtschaft gedeckt hatte.
Keine Frage, dass alles am Enron-Desaster überdimensioniert war: die Gier des Managements, das noch kurz vor dem Konkurs 1,1, Milliarden Dollar auf eigene Konten brachte, die Verantwortungslosigkeit von Aufsichtsräten und Buchprüfern, die selbst die abenteuerlichsten Finanztransaktionen abnickten. Doch nun fragen sich viele, ob das, was eben noch als größter Wirtschaftsskandal der amerikanischen Nachkriegsgeschichte galt, wirklich eine Anomalie war, ein besonders abschreckendes, aber eben doch außergewöhnliches Beispiel für Habsucht und Machtmissbrauch in den Chefetagen - oder nicht eher ein düsterer Paradefall.
Amerika steckt mitten in einer peinlichen Selbstbefragung, und dabei geht es längst nicht mehr nur um das Fehlverhalten einzelner Wirtschaftsführer oder Firmen. Das Vertrauen in das System selbst ist erschüttert und, was vielleicht noch schwerer wiegt, in seine Institutionen.

Denn das ist die eigentlich erschreckende Parallele zwischen dem Enron-Debakel und dem Wall-Street-Skandal: Wieder einmal haben die zuständigen Aufsichtsorgane nichts bemerkt, allen voran die SEC, jene hoch gelobte Börsenbehörde, die doch geradezu als Musterbeispiel effektiver Kapitalmarktkontrolle galt. Wieder einmal haben alle Vorschriften und Regularien, die einen fairen und vor allem rechtmäßigen Wertpapierhandel sicherstellen sollen, einfach versagt.
"Etwas ist schrecklich verrottet im amerikanischen Wirtschaftssystem", befindet das Wirtschaftsmagazin "Fortune". Von der "größten Krise des Kapitalismus" seit hundert Jahren spricht "Business Week", vergleichbar nur noch mit der Ära der großen Monopole um 1900, auch dies ein Zeitalter der Hybris und Arroganz, das schließlich mit der Zerschlagung der Kartelle durch Präsident Theodore Roosevelt endete.
Es kommt viel zusammen in diesen Tagen: Da ist die ständig steigende Zahl von Unternehmen, die jetzt, da alle Welt genauer auf die Ertragszahlen sieht, eingestehen müssen, dass sie ihre Bilanzen mit allerlei Kunstbuchungen trickreich aufgebläht haben. Allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres haben sich 64 Firmen Verfahren wegen des Verdachts auf Bilanzmanipulation eingefangen. Vor kurzem erst hat Xerox dafür eine Rekordstrafe in Höhe von zehn Millionen Dollar akzeptiert. Selbst die Geschäftszahlen von Vorzeigeunternehmen wie General Electric oder IBM, die in der Vergangenheit gerade wegen ihrer wunderbar ausgeglichenen Quartalsergebnisse geschätzt wurden, gelten nun als fragwürdig.
Da ist die wachsende Empörung über Unternehmensführer, die zwar rigoros bei den Zuschüssen zur Krankenversicherung ihrer Angestellten sparen und zu Tausenden Beschäftigte auf die Straße setzen, sich selbst aber mit ordentlichen Gehaltsaufschlägen verwöhnen. Kenneth Chenault beispielsweise, Chef des Finanzkonzerns American Express, konnte im vergangenen Jahr seine Bezüge auf insgesamt 31,5 Millionen Dollar nahezu verdoppeln - obwohl die Gewinne der Firma um 53 Prozent und der Börsenkurs um 35 Prozent einbrachen.
Kaum etwas illustriert vielleicht besser den Stimmungsumschwung beim Publikum als der Ansehensverlust der Vorstandshelden, die im vergangenen Jahrzehnt so etwas wie Kultstatus erlangten: Bernie Ebbers von WorldCom, eben noch als Star der Telekommunikationsindustrie gefeiert - vorletzte Woche zum Rücktritt gezwungen; der ehemalige General-Electric-Boss Jack Welch, über Jahre die Ikone des US- Wirtschaftswunders - eine Spaßfigur für die Late Night Shows, an der vor allem die außerehelichen Eskapaden interessieren.

Sicher, ein wenig gleicht die allgemeine Katerstimmung dem Katzenjammer nach einer allzu ausschweifenden Party. Keine Frage auch, dass viele Investoren den Heilsversprechen der Aktienpropheten nur zu gern folgten. Doch andere dazu zu ermuntern, die Einsätze zu erhöhen, ist das eine - sie planmäßig auszunehmen, etwas ganz anderes.
Tatsächlich, so scheint es, sind in den Jahren des Börsenbooms nicht nur die Recheneinheiten verrutscht, sondern auch die moralischen und vor allem professionellen Standards. Es ist eine seltsame Kumpanei, die nun ans Licht kommt, je länger die Ermittlungen dauern. Eine Kultur der gegenseitigen Vorteilsnahme und -gewährung, bei der Insider nach eigenen Regeln zu spielen begannen und die Grenzen zwischen Akteuren und Kontrolleuren zunehmend verwischten.
Heraus tröpfeln jetzt Geschichten von Wirtschaftsprüfern, die so eng mit den Finanzvorständen zusammenarbeiten, dass sie irgendwann einfach die Seiten tauschen - mit der absurden Folge, dass dann Kollegen mit Ex-Kollegen über die Zulässigkeit von Bilanztransaktionen beraten. Analysten wie Jack Grubman, neben Blodget einer der ganz Großen der Branche, fanden nichts dabei, Vorstände wie Ebbers als Freunde zu bezeichnen, obwohl ihr Job doch Distanz erfordert. So gesehen passt es dann auch ins Bild, dass der SEC mit Harvey Pitt heute ein Mann vorsteht, der zuvor die Firmen, die er nun überwachen muss, als Lobbyist in Washington vertreten hat.
Viel ist nun vom "Reinemachen" die Rede, von "Fairness" und der "Integrität der Finanzmärkte", die es wieder herzustellen gelte. Geradezu beschwörend klingen die Appelle an Politik und Aufsichtsbehörden, endlich für schärfere Gesetze und bessere Kontrolle zu sorgen. Die Stärke der amerikanischen Volkswirtschaft beruht ja zum gut Teil auf ihrer hoch entwickelten Börsenkultur. Jeder zweite US-Bürger besitzt Aktien, Millionen legen jeden Monat einen Teil ihres Lohns in Wertpapieren an, sorgen so für ständigen Zufluss frischen Kapitals und verschaffen damit der US-Wirtschaft einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil.
Bislang hat der Mehrheit der amerikanischen Kleinanleger auf den Schwindel erregenden Wertverlust ihrer Depots relativ besonnen reagiert, selbst nach den Terroranschlägen vom 11. September blieben Panikverkäufe die Ausnahme. Doch jeder neue Skandal könnte den Umschlag bringen - mit verheerenden Folgen für Wachstum, Nachfrage, Beschäftigung und damit die gesamte Weltkonjunktur.
Ohne durchgreifende Reformen, da sind sich die Experten einig, wird es kaum gelingen, die Anleger zu überzeugen, dass der amerikanische Kapitalmarkt und nicht das Eigenheim der richtige Ort ist, um sein Geld anzulegen. Vieles, was bis vor kurzem noch den Stolz der US-Wirtschaft ausmachte, wird dabei auf den Prüfstand müssen. Das beginnt schon bei der Art und Weise, in denen Firmen Rechenschaft über ihren Geschäftsverlauf ablegen.
Gerade die amerikanischen Bilanzvorschriften galten bislang als vorbildlich, das Testat nach US-Standard war auch für Konzerne hier zu Lande eine Art Beweis, dass sie nun in der Weltliga mitspielten. Doch was, so fragen sich jetzt viele, ist von einem Regelwerk zu halten, das einem Konzern erlaubt, eine Gesellschaft aus den Büchern verschwinden zu lassen, von der er gerade mal 3 Prozent der Anteile veräußert hat, aber immer noch 97 Prozent daran hält? Ein Verfahren, das die Enron-Spitze zur Perfektion trieb, um den ständig wachsenden Schuldenberg unsichtbar zu machen.
Als eher zweifelhaftes Finanzinstrument haben sich auch die Optionspläne erwiesen, auf die heute kaum eine Firma bei der Entlohnung ihres Spitzenpersonals verzichten mag. Viele Vorstände haben sich inzwischen den Zugriff auf Aktienpakete in einer Größenordnung gesichert, die jedenfalls mit dem Shareholder-Value-Gedanken nichts mehr zu tun hat. Ein Schlupfloch in den Bilanzrichtlinien erlaubt zudem, dass diese Gehaltsbestandteile, deren Wert sich leicht auf Hunderte Millionen Dollar summiert, nicht als Kosten ausgewiesen werden müssen und so eine realistische Bewertung der Ertragslage weiter erschweren. "Pervers" nennt Notenbankchef Alan Greenspan diesen Effekt.
Einen Vorgeschmack auf den Widerstand, den Corporate America jeder ernsthaften Reform entgegenzusetzen gewillt ist, haben die vergangenen Wochen gegeben. Erfolgreich haben sich die großen Wirtschaftsprüfungskonzerne bislang allen Bestrebungen widersetzt, sie zur Abspaltung ihres lukrativen Beratungsgeschäfts zu bewegen, um Interessenkonflikte mit der Bilanzprüfung künftig auszuschließen. Und auch die Wall-Street-Banken sehen bisher kaum Grund, ihr Geschäftsgebaren zu überdenken. Den Vorschlag, die Expertise der Analysten nur noch intern zu verwenden, lehnen sie rundweg ab.
Immerhin, ein Zugeständnis haben die Investmenthäuser vergangene Woche gemacht: Statt fünf soll es für die Analysten künftig nur noch drei Bewertungskategorien geben. Gut denkbar, dass damit zumindest die Zahl der Verkaufsempfehlungen steigt. Derzeit tragen etwa zwei Prozent der Aktieneinschätzungen die Bewertung "sell".
spiegel.de
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