Herr Kostolany - Was halten Sie von Charts?
Ich halte etwas davon, aber nicht zuviel. Ich würde aufgrund der Charts nicht kaufen, aber unter keinen Umständen gegen sie operieren. Ich schaue mir gerne Charts über eine längere Zeitspanne (mindestens sechs bis zwölf Monate) an, aber auch nur bei einzelnen Aktien und nicht bei den Marktindexen.
Ein Krankenhausarzt betrachtet auch nur die Fieberkurve eines einzelnen Patienten in einem Krankenzimmer, um seine Schlüsse zu ziehen und den Gesundheitszustand zu beurteilen, und errechnet nicht die Durchschnittsfieberkurve aller in dem Zimmer zusammenliegenden Kranken.
Die Charts sind die Fieberkurven einer Aktie, die mir über ihren Zustand in den letzten Wochen und Monaten Auskunft geben. Das ist schon eine gewisse Basis für die Beurteilung - auch für die Zukunft. Der Chart kann mir vielleicht auch Informationen über das Verhalten der Insider bei einem Unternehmen geben, die sonst nicht überall bekannt sind.
Eine im Zickzack aufsteigende Linie deutet darauf hin, daß die Insider (Manager, Großaktionäre usw.) ihren Bestand an den betreffenden Aktien vergrößern wollen. Dafür können sie verschiedene Gründe haben: Sie wissen schon, daß die Gewinne steigen, daß sie neue, sehr chancenreiche Produkte auf den Markt bringen. Sie wollen eventuell verhindern, daß eine andere Gruppe das Unternehmen übernimmt, oder ganz einfach ihre Kontrolle über dieses Unternehmen ausbauen.
Eine im Zickzack fallende Linie zeigt dagegen, daß die Insider ihren Bestand vielleicht verringern oder sogar total ausverkaufen möchten.
Die steigende Zickzacklinie - zwei Schritte hinauf, einen hinunter, zwei Schritte hinauf, einen hinunter - läßt vermuten, daß die Käufergruppe mit ihren Käufen sehr vorsichtig vorgeht, damit nicht zu viele Mitläufer dabei sind. Nachdem der Kurs etwas gestiegen ist, stoppt man die Käufe, verkauft sogar eine Kleinigkeit, um die anderen zu täuschen, und fängt wieder an zu kaufen, wenn der Kurs zurückgegangen ist.
Im umgekehrten Fall - zwei Schritte hinunter, einen hinauf, zwei Schritte hinunter etc. - gehen die verkaufenden Gruppen ebenfalls mit größter Vorsicht vor. Nach dem Rückgang der Kurse stoppen sie die Verkäufe, erwerben vielleicht sogar wieder etwas, damit sich der Kurs beruhigt.
Wie gesagt kommt es oft vor, daß eine Gruppe die Kontrolle über ein Unternehmen erwerben möchte. Doch eines Tages muß sie feststellen, daß die benötigten 51 Prozent der Aktien für die Mehrheit nicht erreicht werden konnten. Sie befinden sich in festen Händen. Da die Gruppe an einer Minderheitsbeteiligung nicht interessiert ist, verkauft sie die erworbenen Aktien wieder und drückt dadurch den Kurs in die Tiefe. Dieser Fall kommt recht häufig vor. Das naive Börsenpublikum steht verständnislos vor dem Phänomen der erst rapide steigenden und dann heftig fallenden Kurse.
Bemerkenswert ist auch, wenn die Chartlinie einer Aktie genau in die entgegengesetzte Richtung geht wie die Tendenz des gesamten Marktes, sie entweder gegen den großen Trend steigt oder fällt. So verrät uns der Chart etwas über die Transaktionen der Insider. Ich würde nicht gegen eine fallende Chartlinie kaufen, wenn die gesamte Börsentendenz steigend ist. Dagegen ist es ein besonders gutes Zeichen für eine Aktie, wenn ihr Chart steigt, während die gesamte Tendenz fallend ist. Aber ich würde Aktien nicht nur deshalb kaufen, weil ihr Chart steigt - das ist nicht genügend.
Man kann bei den Charts auch folgendes Beobachten (ich betone beobachten, und nicht herauslesen): Wenn eine Aktie mit einem Zickzackkurs in die Höhe geht und auf einem gewissen Niveau eine Decke bildet, die der Kurs nicht durchbrechen kann, wenn also der Kurs sozusagen öfter an die Decke springt, wieder abfällt usw., könnte das bedeuten, daß bei einem gewissen Kurs große Mengen der Aktie aus irgendeiner Quelle auf den Markt kommen. Die Makler haben den Auftrag, bei einem bestimmten Kurs zu verkaufen. Dann kommt der Augenblick, wo der Kurs die Decke durchbohrt und in die Höhe geht; das würde bedeuten, daß das zur Verfügung stehende Quantum verkauft ist und keine neue Ware herauskommt.
Wenn umgekehrt eine Aktie im Zickzackkurs tief abfällt, einen gewissen Boden aber nicht durchbricht, öfters auf den Boden fällt und wieder hochspringt, könnte das bedeuten, daß eine Gruppe Kurspflege betreibt, besser gesagt interveniert, um eine Panik bei den Besitzern zu verhindern. Wenn der Kurs dann zu einem bestimmten Zeitpunkt den Boden durchbricht, hieße das, daß die intervenierende Gruppe nicht weiter kaufen will, sei es, daß sie dazu keine Mittel mehr hat oder nicht mehr aufwenden will.
Noch eine Beobachtung: Wenn der Kurs einer Aktie nach einem heftigen Rückschlag eine gewisse Zeit auf einem tiefen Niveau stehenbleibt, aber nicht weiter fällt, obwohl alle Berichte und Ereignisse dafür sprechen, könnte das bedeuten, daß die Insider schon darüber informiert sind, daß sich das Unternehmen in einer Umkehrsituation befindet und gute Chancen für die Zukunft bestehen. Diese Analyse bestätigt sich dann, wenn der Kurs dieser Aktie langsam wieder zu steigen beginnt.
Da es Tausende von Chartspielern gibt, können sie selber manchmal Kursbewegungen verursachen. Wenn es nach ihrer Theorie bestimmte Signale gibt, würden sie kaufen oder verkaufen und so die Schwankungen selber erzeugen. Diese wären jedoch nur von kurzer Dauer.
Für Unsinn halte ich, aus verschiedenen Kurvenformen schwerwiegende Schlüsse zu ziehen, wie immer sie heißen mögen: "Untertasse", "Seitenflanke", "Schulter-Kopf-Schulter" usw. Solche Kennzeichnungen dienen nur den Tagesspielern, die kurzfristige Operationen durchführen wollen. Ich kannte in meinem Leben Hunderte von Spielern, die mit ihren Chartsystemen handelten, aber ich kenne nicht einen, der zum Schluß nicht all sein Geld verloren hätte.
Fazit: Man soll die Charts beobachten und aus ihnen Schlüsse ziehen, ihnen aber nicht blind folgen. Sie zeigen klar und verständlich die Vergangenheit einer Aktie, die man kennen sollte; denn wie sagt der chinesische Spruch? Wer die Zukunft erforschen will, muß die Vergangenheit kennen.
André Kostolany: Kostolanys Börsenseminar