DER SPIEGEL 35/2002 - 26. August 2002
URL: www.spiegel.de/spiegel/0,1518,211009,00.html
Debatte
Die falsche Gewissheit
Peter Schneider zur deutsch-amerikanischen Debatte über den "gerechten Krieg"
DPA
Autor Schneider: "Geht es nicht eine Nummer kleiner?"
Der Intellektuellen-Streit über "den gerechten Krieg" ist in mehr als einer Hinsicht ein Kuriosum. Zunächst einmal fällt die Unterschiedlichkeit des Echos auf. In den USA findet die Debatte praktisch vor leeren Stühlen statt. Das im Februar publizierte Manifest der 60 amerikanischen Intellektuellen "What We're Fighting For" wurde hie und da erwähnt, aber in keiner großen amerikanischen Zeitung abgedruckt. Das amerikanische Publikum interessiert sich zwar brennend für den Krieg, aber offenbar nicht dafür, ob und warum seine Intellektuellen ihn für gerecht halten. In Deutschland machte das Manifest sofort Schlagzeilen in der überregionalen Tagespresse.
Auch hinsichtlich der Autoren fällt eine Asymmetrie ins Auge. Die amerikanische Unterzeichnerliste führt ein breites Spektrum unterschiedlicher Positionen zusammen. Konservative wie Samuel Huntington und Francis Fukuyama stellen sich in der Frage des "gerechten Krieges" neben liberale oder linke Denker wie Michael Walzer und Amitai Etzioni. Was die Verfasser der deutschen Entgegnung "Eine Welt der Gerechtigkeit und des Friedens sieht anders aus" angeht, gibt es keine Überraschungen. Es handelt sich um jene bewährte Gruppe von Mahnern und Warnern - darunter Walter Jens, Horst-Eberhard Richter, Friedrich Schorlemmer, Günter Wallraff -, deren Unterschrift man noch unter keinem Aufruf zur Verbesserung des Menschengeschlechts vermisst hat. Entsprechend unterschiedlich auch der Stil: Während die Amerikaner einen eher kommunikativen Redestil pflegen, der von Euphemismen ("Zu gewissen Zeiten hat unsere Nation eine fehlgeleitete und ungerechte Politik verfolgt") und plakativen Wendungen ("Wer sind wir? Was sind unsere Werte? ... Was ist mit Gott?") nicht zurückschreckt, herrscht in der deutschen Antwort eine Tonlage vor, die zwischen Bischofsbrief ("Sorgen Sie dafür ... Helfen Sie mit ...") und strenger politischer Zurechtweisung ("Die amerikanischen Werte ... stehen auf dem Prüfstand") schwankt.
Aber nun zum Anlass und Verlauf des Streits. Tatsächlich haben die amerikanischen Manifestler dem Rest der Welt einen schwer verdaulichen Brocken hingeworfen. "Es gibt Zeiten", schreiben sie, "in denen es nicht nur moralisch gerechtfertigt, sondern sogar geboten ist, den Krieg zu erwägen - als Antwort auf katastrophale Gewaltakte, Hass und Ungerechtigkeit. Derzeit erleben wir einen solchen Moment. Der Gedanke des ,gerechten Krieges' hat eine breite Grundlage; seine Wurzeln finden sich in vielen Religionen und säkularen Moraltraditionen."
Um es gleich zu sagen: Auch ich halte den Rekurs auf den "gerechten Krieg" für einen Fehlgriff. Der Begriff wurde vom Kirchenvater Augustin systematisch entwickelt und im Mittelalter zur propagandistischen Vorbereitung der Kreuzzüge missbraucht, die zu den großen Verbrechen des christlichen Abendlands gehören. Neuerdings ist es unter den Würdenträgern der westlichen Zivilisation Mode geworden, sich für solche Verbrechen - gleichviel ob Kreuzzüge, Hexenverbrennungen oder Sklaverei - mit einer Reise an die historischen "Tatorte" und einem herzhaften "sorry!" zu entschuldigen. Die Assoziationen, die sich mit dem Wort vom "gerechten Krieg" verbinden, lassen sich durch derlei Gesten natürlich nicht verscheuchen. Allein die Tatsache, dass der amerikanische Präsident in den ersten Tagen nach dem 11. September von einem "Kreuzzug gegen das Böse" sprach - den er dann auch noch auf den Namen "Unendliche Gerechtigkeit" taufte -, hätte die amerikanischen Professoren davor warnen müssen, den belasteten Begriff des "gerechten Krieges" zu rehabilitieren. Dass sie es taten, ohne ein einziges Wort zum Nahost-Konflikt und zum geplanten Krieg gegen den Irak zu sagen, hat zu Recht Fragen ausgelöst - nicht nur in Deutschland und Europa, sondern auch in den USA.
Ein Manifest für den Krieg
veröffentlichten Mitte Februar 60 führende US-Gelehrte. In ihrer Streitschrift "What We're Fighting For" ("Wofür wir kämpfen") erklären sie den Kampf gegen den Terror zum gerechten Krieg: Jeder Mensch habe Anspruch auf Freiheit und Individualität sowie das Recht zur Sinnsuche in Religion und Gewissen; niemand dürfe im Namen Gottes töten. Zwar gab es im April eine Erwiderung amerikanischer Gewaltgegner wie Gore Vidal, doch stärkeres Echo entstand in Deutschland. Anfang Mai erschien ein von 103 Intellektuellen unterzeichneter Gegenaufruf: "Eine Welt der Gerechtigkeit und des Friedens" könne nicht aus Gewalt entstehen, universale Werte seien so strikt nicht denkbar. Vor drei Wochen nun kam die Antwort aus den USA: Darin werfen die Autoren des ursprünglichen Thesenpapiers den mehrheitlich linksliberalen deutschen Kritikern der US-Politik vor, sie hätten "keine schlüssige moralische Position"; stattdessen, so einer der Unterzeichner, betreibe man antiamerikanische Rhetorik. "Wir erwarten Ihre Antwort", heißt es am Schluss. Hier antwortet der Schriftsteller Peter Schneider.
Wer hat das Recht, einen "gerechten Krieg" auszurufen? Geht es nicht eine Nummer kleiner? Ist es nicht angemessener, davon zu sprechen, dass es gerechtfertigte und notwendige Kriege gibt? Kriege, denen ein Volk oder eine Staatengemeinschaft nicht ausweichen kann?
Der Unterschied zwischen den Adjektiven "gerecht" und "gerechtfertigt" erscheint auf den ersten Blick belanglos. In Wirklichkeit läuft es auf den Unterschied zwischen einer Anmaßung und dem Eingeständnis hinaus, dass Regierungen, auch demokratisch gewählte Regierungen, die Gerechtigkeit nicht gepachtet haben.
Wer behauptet, dass er aus unausweichlichen und gerechtfertigten Gründen einen Krieg führen müsse, muss sich darauf einlassen, seinen Anspruch ständig an der Wahl der eingesetzten Mittel und an der Umsetzung seiner Kriegsziele messen zu lassen. Wer behauptet, dass er einen "gerechten Krieg" führe, muss ihn nicht mehr rechtfertigen und schließt die Möglichkeit des Irrtums aus. Er läuft Gefahr, die partiellen Interessen einer Nation mit den universellen Interessen der Menschheit zu verwechseln.
Aber im entscheidenden Punkt behalten die amerikanischen Manifestler Recht: Krieg ist nicht gleich Krieg. (Nicht von ungefähr wird seit altersher zwischen Angriffs- und Verteidigungskriegen unterschieden. Befreiungskriege unterliegen einer anderen Bewertung als kolonialistische Eroberungs- und Unterwerfungskriege. Und im letzten Jahrzehnt hat sich erneut gezeigt, dass gegen Gewaltherrscher manchmal kein anderes Mittel bleibt als die militärische Intervention.)
Der Krieg der Alliierten gegen die Aggression der faschistischen Achsenmächte Deutschland/Italien war alles in allem ein gerechtfertigter Krieg. Insofern war die deutsche Nachkriegslosung "Nie wieder Krieg!" eine zwar verständliche, weltweit erwünschte, aber unzureichende Lehre aus der deutschen Vergangenheit. Diese Losung, in der der Unterschied zwischen Angreifern und Angegriffenen, zwischen Tätern und Opfern verschwand, konnte sich wohl nur im Land der Täter durchsetzen. Die von den Deutschen überfallenen Nachbarvölker, die Polen, Niederländer, Franzosen oder Dänen hätten sich eine solche Formel nur um den Preis der Selbstverleugnung zu eigen machen können. Denn sie hatten Waffen in die Hand nehmen und Krieg führen müssen, um die deutschen Aggressoren zu stoppen und schließlich zu besiegen - und würden es im Wiederholungsfalle wieder tun. Hätte es nicht eher heißen müssen: Nie wieder Aggression! Nie wieder Überfall! Nie wieder Herrenwahn und Rassismus!? Erst in den späten neunziger Jahren hat die rot-grüne Bundesregierung das nie geprüfte Überlebensmotto der Nachkriegsdeutschen in Frage gestellt. An der Seite der Nato haben deutsche Soldaten mit dafür gesorgt, die ethnische Raserei im ehemaligen Jugoslawien zu beenden.
REUTERS
Einsturz des World Trade Center: "Affektive Enthemmung"
Der Skandal an der deutschen Antwort auf den Vorstoß der amerikanischen Intellektuellen ist, dass sie ihm mit den alten Formeln des deutschen Nachkriegskonsenses zu Leibe rücken: Krieg ist gleich Krieg, und wir, die deutschen Unschuldsengel, erklären der Welt, was moralisch ist. Verblüfft fragen die amerikanischen Autoren in ihrem Antwortbrief: "Abgesehen davon, dass Sie die Tradition des ,gerechten Krieges' als einen ,unglückseligen historischen Begriff' bezeichnen, entfalten Sie an keiner Stelle eine schlüssige moralische Position zur Frage des gerechtfertigten Waffengebrauchs."
Tatsächlich wird diese Kernfrage von den deutschen Entgegnern vollständig ignoriert. Im Ton von Schulmeistern gestehen sie zwar ein, dass die US-amerikanischen Truppen "einen hervorragenden Beitrag" zur Niederringung des Hitler-Faschismus geleistet haben - Note 1 -, aber für die nachfolgenden Jahrzehnte verteilen sie dann nur noch Sechsen. Im Einleitungssatz verurteilen sie den Anschlag auf das World Trade Center, um sogleich zu ihrem eigentlichen Anliegen zu kommen, nämlich "den Krieg, den Ihre Regierung und ihre Verbündeten, uns eingeschlossen, in der Anti-Terror-Allianz in Afghanistan führen und dem bisher über 4000 unbeteiligte Menschen ... zum Opfer gefallen sind, mit derselben Schärfe abzulehnen". Der Leser reibt sich die Augen. Woher die phantastische Zahlensymmetrie? Die Zahl der Opfer des Attentats vom 11. September liegt nach letzten Angaben bei 3038, die Zahl der zivilen Opfer in Afghanistan kennt niemand mit Gewissheit - in der seriösen internationalen Presse werden Zahlen zwischen 400 und 5000 genannt.
Jedes dieser Opfer ist eines zu viel, und es ist notwendig, den Bush-Kriegern in Afghanistan, die ihre menschlichen "targets" vorzugsweise aus der Luft verfolgen und dabei auch mal eine ganze Hochzeitsgesellschaft auslöschen, die zur Feier des Ereignisses mit Gewehren in die Luft geschossen hat, solche unentschuldbaren Vorfälle vorzuhalten. Aber ist es nicht makaber, dass die deutschen Mahner die Zahl der zivilen Toten des Afghanistan-Krieges eigenmächtig auf 4000 festsetzen, um ihr Argument zu haben: 4000 afghanische Ziviltote stehen rund 4000 Opfern des Anschlags vom 11. September gegenüber? Um dann fortzufahren: "Es gibt keine universal gültigen Werte, die es erlauben, einen Massenmord mit einem weiteren Massenmord zu rechtfertigen."
Du lieber Himmel! Wie geschichtsvergessen muss man sein, um an solche falschen Gleichungen zu glauben? Haben die Verfasser nie von den deutschen Juden, Hitler-Gegnern und Widerstandskämpfern gehört, die während der britischen und amerikanischen Luftangriffe in Berlin und anderswo in Verstecken saßen, um ihr Leben zitterten und sich dennoch wünschten, dass noch mehr Bomben fielen, die dem Mordregime der Nazis ein Ende bereiten würden? Mit Recht wenden die angeklagten amerikanischen Autoren ein: "Es ist moralische Blindheit, wenn Sie die unbeabsichtigte Tötung von Zivilisten in einem Krieg, dessen Grund gerechtfertigt ist ... mit der beabsichtigten Ermordung von Zivilisten in einem Bürogebäude gleichsetzen, deren Ziel es ist, die Zahl der zivilen Opfer zu maximieren."
AP
US-Bombardement in Afghanistan: Phantastische Zahlensymmetrie
Mit solchen Unterscheidungen halten sich die deutschen Moralexperten nicht auf. Von irgendwelchen gerechtfertigten Gründen des amerikanischen Gegenschlags wollen sie nichts wissen und unterstellen den Amerikanern, 11. September hin oder her, dass sie sich in Wahrheit "von geostrategischen Motiven leiten lassen", um "ihre Hegemonialposition ... zu festigen". Und halten ihnen vor, dass die "Konzentration von ungeheuren Machtpotenzialen in einem einzigen Land ... eine wichtige Quelle der Instabilität von grenz- und kulturüberschreitenden Beziehungen ist".
Was sollen die USA, die sich ihre Rolle als einzige verbleibende Supermacht nicht ausgesucht haben, eigentlich tun, um es solchen Ratgebern Recht zu machen? Ihre "ungeheuren Machtpotenziale" mit anderen teilen, am besten mit den Deutschen?
Wie auch immer, nach den Erkenntnissen der deutschen Mahner muss man die Terrorangriffe von al-Qaida und die Selbstmordattentate der Palästinenser als Reaktionen auf diese "Machtungleichheit" begreifen. Die "als ungerecht wahrgenommene eigene Unterlegenheit" rufe "affektive Enthemmungen hervor" und mobilisiere ein "ungeheures Reaktionspotenzial bis zur Bereitschaft, auch das eigene Leben durch Selbstmordattentate zu opfern".
Der Skandal an der deutschen Antwort sind ihre Formeln: Krieg ist gleich Krieg, und wir deutschen Unschuldsengel erklären der Welt, was moralisch ist
Ich habe meine Zweifel daran, ob sich die machtbesessenen Führer von al-Qaida und die zynischen Zuhälter der Hamas, die halberwachsene Kinder zu Selbstmordattentaten verführen, in dieser sensiblen Interpretation ihrer Untaten wiedererkennen. Erklärtermaßen wollen die islamistischen Fanatiker jeden Juden aus Palästina vertreiben, und dazu ist ihnen das von Saddam Hussein mit jeweils 25 000 Dollar honorierte Selbstopfer ihrer Jugend recht. Die falsche Gewissheit, die aus dem deutschen Brief an die amerikanischen Intellektuellen spricht, hat etwas mit einem Denk- und Gefühlsverbot zu tun. Das Böse, davon scheinen die deutschen Verfasser überzeugt zu sein, gibt es gar nicht, folglich muss es auch nicht, und notfalls mit Gewalt, gestoppt werden. Jeder Akt von Barbarei, jede ideologische Verirrung, jeder Hassausbruch und jeder Mordwahn auf der Welt hat, so glauben sie, nachvollziehbare und behebbare, soziale Ursachen; man muss diese Ursachen bloß verstehen und verändern, mit den Gedemütigten und "affektiv Enthemmten" in einen Dialog eintreten, ihnen Verständnis entgegenbringen, und schon kommt man zu einer friedlichen Lösung.
Wer wird leugnen, dass diese Überzeugung irgendwie sympathisch ist, sympathischer jedenfalls als die kriegerische Ansage der amerikanischen Intellektuellen? Ich muss allerdings gestehen, dass mir im Ernstfall um die Reaktions- und Handlungsfähigkeit von Leuten, die zwischen einem Terrorakt von islamistischen Faschisten und einem gerechtfertigten Gegenschlag nicht sicher unterscheiden können, bange ist. Aber eigentlich kann dieser Ernstfall gar nicht eintreten - eben weil wir für die "affektiv Enthemmten" und Verstörten so viel Verständnis haben.
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Debatte
Die falsche Gewissheit
Peter Schneider zur deutsch-amerikanischen Debatte über den "gerechten Krieg"
DPA
Autor Schneider: "Geht es nicht eine Nummer kleiner?"
Der Intellektuellen-Streit über "den gerechten Krieg" ist in mehr als einer Hinsicht ein Kuriosum. Zunächst einmal fällt die Unterschiedlichkeit des Echos auf. In den USA findet die Debatte praktisch vor leeren Stühlen statt. Das im Februar publizierte Manifest der 60 amerikanischen Intellektuellen "What We're Fighting For" wurde hie und da erwähnt, aber in keiner großen amerikanischen Zeitung abgedruckt. Das amerikanische Publikum interessiert sich zwar brennend für den Krieg, aber offenbar nicht dafür, ob und warum seine Intellektuellen ihn für gerecht halten. In Deutschland machte das Manifest sofort Schlagzeilen in der überregionalen Tagespresse.
Auch hinsichtlich der Autoren fällt eine Asymmetrie ins Auge. Die amerikanische Unterzeichnerliste führt ein breites Spektrum unterschiedlicher Positionen zusammen. Konservative wie Samuel Huntington und Francis Fukuyama stellen sich in der Frage des "gerechten Krieges" neben liberale oder linke Denker wie Michael Walzer und Amitai Etzioni. Was die Verfasser der deutschen Entgegnung "Eine Welt der Gerechtigkeit und des Friedens sieht anders aus" angeht, gibt es keine Überraschungen. Es handelt sich um jene bewährte Gruppe von Mahnern und Warnern - darunter Walter Jens, Horst-Eberhard Richter, Friedrich Schorlemmer, Günter Wallraff -, deren Unterschrift man noch unter keinem Aufruf zur Verbesserung des Menschengeschlechts vermisst hat. Entsprechend unterschiedlich auch der Stil: Während die Amerikaner einen eher kommunikativen Redestil pflegen, der von Euphemismen ("Zu gewissen Zeiten hat unsere Nation eine fehlgeleitete und ungerechte Politik verfolgt") und plakativen Wendungen ("Wer sind wir? Was sind unsere Werte? ... Was ist mit Gott?") nicht zurückschreckt, herrscht in der deutschen Antwort eine Tonlage vor, die zwischen Bischofsbrief ("Sorgen Sie dafür ... Helfen Sie mit ...") und strenger politischer Zurechtweisung ("Die amerikanischen Werte ... stehen auf dem Prüfstand") schwankt.
Aber nun zum Anlass und Verlauf des Streits. Tatsächlich haben die amerikanischen Manifestler dem Rest der Welt einen schwer verdaulichen Brocken hingeworfen. "Es gibt Zeiten", schreiben sie, "in denen es nicht nur moralisch gerechtfertigt, sondern sogar geboten ist, den Krieg zu erwägen - als Antwort auf katastrophale Gewaltakte, Hass und Ungerechtigkeit. Derzeit erleben wir einen solchen Moment. Der Gedanke des ,gerechten Krieges' hat eine breite Grundlage; seine Wurzeln finden sich in vielen Religionen und säkularen Moraltraditionen."
Um es gleich zu sagen: Auch ich halte den Rekurs auf den "gerechten Krieg" für einen Fehlgriff. Der Begriff wurde vom Kirchenvater Augustin systematisch entwickelt und im Mittelalter zur propagandistischen Vorbereitung der Kreuzzüge missbraucht, die zu den großen Verbrechen des christlichen Abendlands gehören. Neuerdings ist es unter den Würdenträgern der westlichen Zivilisation Mode geworden, sich für solche Verbrechen - gleichviel ob Kreuzzüge, Hexenverbrennungen oder Sklaverei - mit einer Reise an die historischen "Tatorte" und einem herzhaften "sorry!" zu entschuldigen. Die Assoziationen, die sich mit dem Wort vom "gerechten Krieg" verbinden, lassen sich durch derlei Gesten natürlich nicht verscheuchen. Allein die Tatsache, dass der amerikanische Präsident in den ersten Tagen nach dem 11. September von einem "Kreuzzug gegen das Böse" sprach - den er dann auch noch auf den Namen "Unendliche Gerechtigkeit" taufte -, hätte die amerikanischen Professoren davor warnen müssen, den belasteten Begriff des "gerechten Krieges" zu rehabilitieren. Dass sie es taten, ohne ein einziges Wort zum Nahost-Konflikt und zum geplanten Krieg gegen den Irak zu sagen, hat zu Recht Fragen ausgelöst - nicht nur in Deutschland und Europa, sondern auch in den USA.
Ein Manifest für den Krieg
veröffentlichten Mitte Februar 60 führende US-Gelehrte. In ihrer Streitschrift "What We're Fighting For" ("Wofür wir kämpfen") erklären sie den Kampf gegen den Terror zum gerechten Krieg: Jeder Mensch habe Anspruch auf Freiheit und Individualität sowie das Recht zur Sinnsuche in Religion und Gewissen; niemand dürfe im Namen Gottes töten. Zwar gab es im April eine Erwiderung amerikanischer Gewaltgegner wie Gore Vidal, doch stärkeres Echo entstand in Deutschland. Anfang Mai erschien ein von 103 Intellektuellen unterzeichneter Gegenaufruf: "Eine Welt der Gerechtigkeit und des Friedens" könne nicht aus Gewalt entstehen, universale Werte seien so strikt nicht denkbar. Vor drei Wochen nun kam die Antwort aus den USA: Darin werfen die Autoren des ursprünglichen Thesenpapiers den mehrheitlich linksliberalen deutschen Kritikern der US-Politik vor, sie hätten "keine schlüssige moralische Position"; stattdessen, so einer der Unterzeichner, betreibe man antiamerikanische Rhetorik. "Wir erwarten Ihre Antwort", heißt es am Schluss. Hier antwortet der Schriftsteller Peter Schneider.
Wer hat das Recht, einen "gerechten Krieg" auszurufen? Geht es nicht eine Nummer kleiner? Ist es nicht angemessener, davon zu sprechen, dass es gerechtfertigte und notwendige Kriege gibt? Kriege, denen ein Volk oder eine Staatengemeinschaft nicht ausweichen kann?
Der Unterschied zwischen den Adjektiven "gerecht" und "gerechtfertigt" erscheint auf den ersten Blick belanglos. In Wirklichkeit läuft es auf den Unterschied zwischen einer Anmaßung und dem Eingeständnis hinaus, dass Regierungen, auch demokratisch gewählte Regierungen, die Gerechtigkeit nicht gepachtet haben.
Wer behauptet, dass er aus unausweichlichen und gerechtfertigten Gründen einen Krieg führen müsse, muss sich darauf einlassen, seinen Anspruch ständig an der Wahl der eingesetzten Mittel und an der Umsetzung seiner Kriegsziele messen zu lassen. Wer behauptet, dass er einen "gerechten Krieg" führe, muss ihn nicht mehr rechtfertigen und schließt die Möglichkeit des Irrtums aus. Er läuft Gefahr, die partiellen Interessen einer Nation mit den universellen Interessen der Menschheit zu verwechseln.
Aber im entscheidenden Punkt behalten die amerikanischen Manifestler Recht: Krieg ist nicht gleich Krieg. (Nicht von ungefähr wird seit altersher zwischen Angriffs- und Verteidigungskriegen unterschieden. Befreiungskriege unterliegen einer anderen Bewertung als kolonialistische Eroberungs- und Unterwerfungskriege. Und im letzten Jahrzehnt hat sich erneut gezeigt, dass gegen Gewaltherrscher manchmal kein anderes Mittel bleibt als die militärische Intervention.)
Der Krieg der Alliierten gegen die Aggression der faschistischen Achsenmächte Deutschland/Italien war alles in allem ein gerechtfertigter Krieg. Insofern war die deutsche Nachkriegslosung "Nie wieder Krieg!" eine zwar verständliche, weltweit erwünschte, aber unzureichende Lehre aus der deutschen Vergangenheit. Diese Losung, in der der Unterschied zwischen Angreifern und Angegriffenen, zwischen Tätern und Opfern verschwand, konnte sich wohl nur im Land der Täter durchsetzen. Die von den Deutschen überfallenen Nachbarvölker, die Polen, Niederländer, Franzosen oder Dänen hätten sich eine solche Formel nur um den Preis der Selbstverleugnung zu eigen machen können. Denn sie hatten Waffen in die Hand nehmen und Krieg führen müssen, um die deutschen Aggressoren zu stoppen und schließlich zu besiegen - und würden es im Wiederholungsfalle wieder tun. Hätte es nicht eher heißen müssen: Nie wieder Aggression! Nie wieder Überfall! Nie wieder Herrenwahn und Rassismus!? Erst in den späten neunziger Jahren hat die rot-grüne Bundesregierung das nie geprüfte Überlebensmotto der Nachkriegsdeutschen in Frage gestellt. An der Seite der Nato haben deutsche Soldaten mit dafür gesorgt, die ethnische Raserei im ehemaligen Jugoslawien zu beenden.
REUTERS
Einsturz des World Trade Center: "Affektive Enthemmung"
Der Skandal an der deutschen Antwort auf den Vorstoß der amerikanischen Intellektuellen ist, dass sie ihm mit den alten Formeln des deutschen Nachkriegskonsenses zu Leibe rücken: Krieg ist gleich Krieg, und wir, die deutschen Unschuldsengel, erklären der Welt, was moralisch ist. Verblüfft fragen die amerikanischen Autoren in ihrem Antwortbrief: "Abgesehen davon, dass Sie die Tradition des ,gerechten Krieges' als einen ,unglückseligen historischen Begriff' bezeichnen, entfalten Sie an keiner Stelle eine schlüssige moralische Position zur Frage des gerechtfertigten Waffengebrauchs."
Tatsächlich wird diese Kernfrage von den deutschen Entgegnern vollständig ignoriert. Im Ton von Schulmeistern gestehen sie zwar ein, dass die US-amerikanischen Truppen "einen hervorragenden Beitrag" zur Niederringung des Hitler-Faschismus geleistet haben - Note 1 -, aber für die nachfolgenden Jahrzehnte verteilen sie dann nur noch Sechsen. Im Einleitungssatz verurteilen sie den Anschlag auf das World Trade Center, um sogleich zu ihrem eigentlichen Anliegen zu kommen, nämlich "den Krieg, den Ihre Regierung und ihre Verbündeten, uns eingeschlossen, in der Anti-Terror-Allianz in Afghanistan führen und dem bisher über 4000 unbeteiligte Menschen ... zum Opfer gefallen sind, mit derselben Schärfe abzulehnen". Der Leser reibt sich die Augen. Woher die phantastische Zahlensymmetrie? Die Zahl der Opfer des Attentats vom 11. September liegt nach letzten Angaben bei 3038, die Zahl der zivilen Opfer in Afghanistan kennt niemand mit Gewissheit - in der seriösen internationalen Presse werden Zahlen zwischen 400 und 5000 genannt.
Jedes dieser Opfer ist eines zu viel, und es ist notwendig, den Bush-Kriegern in Afghanistan, die ihre menschlichen "targets" vorzugsweise aus der Luft verfolgen und dabei auch mal eine ganze Hochzeitsgesellschaft auslöschen, die zur Feier des Ereignisses mit Gewehren in die Luft geschossen hat, solche unentschuldbaren Vorfälle vorzuhalten. Aber ist es nicht makaber, dass die deutschen Mahner die Zahl der zivilen Toten des Afghanistan-Krieges eigenmächtig auf 4000 festsetzen, um ihr Argument zu haben: 4000 afghanische Ziviltote stehen rund 4000 Opfern des Anschlags vom 11. September gegenüber? Um dann fortzufahren: "Es gibt keine universal gültigen Werte, die es erlauben, einen Massenmord mit einem weiteren Massenmord zu rechtfertigen."
Du lieber Himmel! Wie geschichtsvergessen muss man sein, um an solche falschen Gleichungen zu glauben? Haben die Verfasser nie von den deutschen Juden, Hitler-Gegnern und Widerstandskämpfern gehört, die während der britischen und amerikanischen Luftangriffe in Berlin und anderswo in Verstecken saßen, um ihr Leben zitterten und sich dennoch wünschten, dass noch mehr Bomben fielen, die dem Mordregime der Nazis ein Ende bereiten würden? Mit Recht wenden die angeklagten amerikanischen Autoren ein: "Es ist moralische Blindheit, wenn Sie die unbeabsichtigte Tötung von Zivilisten in einem Krieg, dessen Grund gerechtfertigt ist ... mit der beabsichtigten Ermordung von Zivilisten in einem Bürogebäude gleichsetzen, deren Ziel es ist, die Zahl der zivilen Opfer zu maximieren."
AP
US-Bombardement in Afghanistan: Phantastische Zahlensymmetrie
Mit solchen Unterscheidungen halten sich die deutschen Moralexperten nicht auf. Von irgendwelchen gerechtfertigten Gründen des amerikanischen Gegenschlags wollen sie nichts wissen und unterstellen den Amerikanern, 11. September hin oder her, dass sie sich in Wahrheit "von geostrategischen Motiven leiten lassen", um "ihre Hegemonialposition ... zu festigen". Und halten ihnen vor, dass die "Konzentration von ungeheuren Machtpotenzialen in einem einzigen Land ... eine wichtige Quelle der Instabilität von grenz- und kulturüberschreitenden Beziehungen ist".
Was sollen die USA, die sich ihre Rolle als einzige verbleibende Supermacht nicht ausgesucht haben, eigentlich tun, um es solchen Ratgebern Recht zu machen? Ihre "ungeheuren Machtpotenziale" mit anderen teilen, am besten mit den Deutschen?
Wie auch immer, nach den Erkenntnissen der deutschen Mahner muss man die Terrorangriffe von al-Qaida und die Selbstmordattentate der Palästinenser als Reaktionen auf diese "Machtungleichheit" begreifen. Die "als ungerecht wahrgenommene eigene Unterlegenheit" rufe "affektive Enthemmungen hervor" und mobilisiere ein "ungeheures Reaktionspotenzial bis zur Bereitschaft, auch das eigene Leben durch Selbstmordattentate zu opfern".
Der Skandal an der deutschen Antwort sind ihre Formeln: Krieg ist gleich Krieg, und wir deutschen Unschuldsengel erklären der Welt, was moralisch ist
Ich habe meine Zweifel daran, ob sich die machtbesessenen Führer von al-Qaida und die zynischen Zuhälter der Hamas, die halberwachsene Kinder zu Selbstmordattentaten verführen, in dieser sensiblen Interpretation ihrer Untaten wiedererkennen. Erklärtermaßen wollen die islamistischen Fanatiker jeden Juden aus Palästina vertreiben, und dazu ist ihnen das von Saddam Hussein mit jeweils 25 000 Dollar honorierte Selbstopfer ihrer Jugend recht. Die falsche Gewissheit, die aus dem deutschen Brief an die amerikanischen Intellektuellen spricht, hat etwas mit einem Denk- und Gefühlsverbot zu tun. Das Böse, davon scheinen die deutschen Verfasser überzeugt zu sein, gibt es gar nicht, folglich muss es auch nicht, und notfalls mit Gewalt, gestoppt werden. Jeder Akt von Barbarei, jede ideologische Verirrung, jeder Hassausbruch und jeder Mordwahn auf der Welt hat, so glauben sie, nachvollziehbare und behebbare, soziale Ursachen; man muss diese Ursachen bloß verstehen und verändern, mit den Gedemütigten und "affektiv Enthemmten" in einen Dialog eintreten, ihnen Verständnis entgegenbringen, und schon kommt man zu einer friedlichen Lösung.
Wer wird leugnen, dass diese Überzeugung irgendwie sympathisch ist, sympathischer jedenfalls als die kriegerische Ansage der amerikanischen Intellektuellen? Ich muss allerdings gestehen, dass mir im Ernstfall um die Reaktions- und Handlungsfähigkeit von Leuten, die zwischen einem Terrorakt von islamistischen Faschisten und einem gerechtfertigten Gegenschlag nicht sicher unterscheiden können, bange ist. Aber eigentlich kann dieser Ernstfall gar nicht eintreten - eben weil wir für die "affektiv Enthemmten" und Verstörten so viel Verständnis haben.
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