14. Juni 1998
www2.tagesspiegel.de/archiv/1998/06/13/wm-10335.html
Elf Sänger sollt ihr sein
Seit 1974 hat die deutsche Nationalelf zu jeder WM ein Lied aufgenommen. In Frankreich steht sie ohne da. - Ob das gutgeht?
VON CHRISTIAN SCHRÖDER
So fing es an: Ohrenbetäubender Jubel, eine Trompetenfanfare und donnernde Paukenschläge. Dann aber erhebt sich aus dem kakaphonischen Lärm ein strahlender Gesang aus zwei Dutzend Männerkehlen. Sie brummen, nein sie brüllen: "Ha-ho-heja heja he / Ha-ho-heja heja he / Fußball ist unser Leben / Denn König Fußball regiert die Welt." Und so hörte es auf: Wieder eine Fanfare, jetzt ein tackernder Computerbeat und dynamisch wummernde Bässe. Wieder erklingt Männergesang, diesmal aber nur von einem Leadsänger, erst beim Refrain setzt der Chor grummelnd ein: "Far away in America / We gonna make it / There's a chance you take it / Let's go!" Zwei Lieder, zwischen denen zwanzig Jahre, zwei gewonnene Weltmeistertitel und zwei verlorene Endspiele liegen. Seit 1974, dem Jahr des Triumphes im eigenen Land, hat die deutsche Fußballnationalmannschaft zu jeder Weltmeisterschaft eine Hymne aufgenommen. Erfolgreicher als in dieser Zeit war der deutsche Fußball nie.
Jetzt aber, wo das deutsche Team in Frankreich nach dem WM-Gold zu greifen versucht und sich zum morgigen Auftaktspiel gegen die USA rüstet, steht die Truppe ohne eigenes Lied da. Keine Plattenfirma wollte die Produktionskosten auf sich nehmen. Denn während "Fußball ist unser Leben", die von Jack White komponierte Hymne von 1974, noch ein hunderttausendfach verkaufter Hit war, entpuppte sich "Far away in America", das mit den Village People eingespielte Lied von 1994, als Flop. Unerbittlich gilt in der Welt des Fußballs: Der Ball ist rund, aber rollen muß der Rubel.
Der englische Zoologe Desmond Morris, der seit den achtziger Jahren als einer der ersten Wissenschaftler das Phänomen der Fußballgesänge erforscht hat, vergleicht das Absingen von Liedern im Stadion mit den Kampfritualen afrikanischer Stammeskrieger. Durch das gemeinsame Singen, so Morris, verwandele sich "eine Gruppe junger Menschen in ein riesiges Tier aus vielen Menschenleibern, das auf jeden Feind furchterregend wirkt". Der Oxfordprofessor bezieht sich damit zwar auf die Schlachtgesänge der Fans, seine Aussage läßt sich aber auch auf die singenden Mannschaften anwenden. Im Lied steckt eine archaische Kraft, die eine Ansammlung von Individuen a) zu einem Kollektiv zusammenschweißt, b) auf ein gemeinsames Ziel einschwört und c) den Gegnern signalisiert, daß mit ihnen nicht gut Kirschen essen ist. "Die Mannschaft ist der Star": Schöner als durch ein gemeinsam dargebotenes Ständchen ließe sich die von Bundestrainer Berti Vogts ausgegebene Parole wohl kaum ausdrücken. Doch die einzige Hymne, die sein Team in Frankreich singen wird, ist das Deutschlandlied.
Die sechs Lieder, die unsere Nationalelf aufgenommen hat, sind Dokumente eines erstaunlichen Emanzipationsprozesses. Durch "Fußball ist unser Leben", die 74er-Hymne mit ihrem zackigen, mitschunkelfähigem Polkarhythmus, weht noch der Bratwurstduft teutonischer Festzeltgemütlichkeit. Später werden der deutsche Fußball und das deutsche Singen dann immer eleganter, filigraner und weltläufiger. Anfangs singen die Kicker noch ganz auf Deutsch, später streuen sie immer wieder fremdsprachliche Brocken in ihre Refrains. Am Ende, der Fußball bricht auf gen Amerika und damit zu neuen Ufern (1994), sind sie sogar zum Absingen kompletter englischer Sätze in der Lage: "You gonna make it, get up and shake it / Far away in America." Der Rhythmus ist jetzt nicht mehr dumpf und hart, sondern weich und geradezu groovy. Bekannt geworden sind die Village People, Könige der New Yorker Discoszene, als bekennende Homosexuelle. Das muß man sich einmal vorstellen: Der deutsche Fußball hat auf einmal Groove! Und Andreas Möller und Jürgen Klinsmann tanzen mit Schwulen, die sich als Polizisten oder Indianer kostümiert haben!
Undenkbar wäre so etwas gewesen in der Ära des Bundestrainers Helmut Schön, des Fußballpatriarchen mit der Schiebermütze. Fußball ist unser Leben: das war ein programmatisches Bekenntnis. Über Bildungsreform und die neue Ostpolitik wurde allenthalben diskutiert in den Willy-Brandt-Jahren, doch der Kopf eines Nationalspielers hatte frei zu sein fürs Köpfen. Gefragt waren noch immer die Ärmel-aufkrempel-Tugenden des Wiederaufbaus. "Wir kämpfen und geben alles, bis dann ein Tor nach dem andern fällt / Ja, einer für alle, alle für einen, wir halten fest zusammen." Das Cover der Platte zeigt die Nationalspieler mit nackenlangen Haaren (Ausnahmen: Georg "Katsche" Schwarzenbeck und Berti Vogts) und in hellblauen Adidas-Trainingsanzügen mit Bügelfalte. Wenn alle fest hinten zusammenstehn, sind wir unbesiegbar. Die Sache hat dann ja auch geklappt.
Von der Weltmeisterschaft 1978 in Argentinien hat sich vor allem eine akustische Momentaufnahme in das Gedächnis der Nation eingebrannt: der "Tooor! Tooor! I werd narrisch! Der Kollege Toningenieur und i, wir busseln uns ab!"-Ausruf des österreichischen Fernsehkommentators Eddi Finger. Mit drei Toren hatte der Alpennationalspieler Hans Krankl Deutschland in der zweiten Finalrunde aus dem Wettbewerb geschossen. Der Titelverteidiger war blamiert. Peinliches Ende einer erwartungsvoll angetretenen Dienstreise, das allerdings bereits in der WM-Hymne "Buenos Dias, Argentina", aufgenommen mit Udo Jürgens, vorauszuahnen war. "Buenos Dias, Argentina, er war lang, mein Weg zu dir / Doch nun schwenk' ich den Sombrero, Buenos Dias, ich bin hier." Genauso pomadig und schwerfällig wie ihr Lied war auch die Spielweise der Nationalspieler. Melancholie ist ein Gefühl, das man tanzen kann. Man kann es aber auch kicken.
Der Tiefpunkt war aber erst vier Jahre später erreicht, bei der WM 1982 in Spanien. Auch hier nahm die Hymne das Ergebnis im Grunde genommen vorweg. "Das Glück hat einen Namen, in Spanien heißt es La Felicidad", sangen die deutschen Spieler, angeführt von Michael Schanze, "es liegt im Lachen der Senoritas und ihren Lippen wie roter Mohn / Olé ola, Olé ola, Olé Espana e la musica." Kein Wort mehr vom Teamgeist, statt dessen wurden zu hedonistischem Disco-Beat "weiße Strände", die "rote Sonne" und "heiße Nächte voll Zärtlichkeit" beschworen. Nicht als Mannschaft, sondern als undisziplinierter Haufen überbezahlter Stars traten die deutschen Spieler in Spanien auf. Über ein 1:0 gegen Österreich gurkte sich die Truppe um Breitner, Schumacher und Rummenigge zwar bis ins Finale durch, wurde dort aber gerechterweise von Italien mit 3:1 abgefertigt. Der Ruf war ruiniert.
Es folgte die geistig-moralische Wende. Jupp Derwall stürzte, Franz Beckenbauer wurde als Teamchef installiert. Ein Rollback begann, zurück zu den Tugenden von 1974: Disziplin und Kampfkraft. Da war es nur folgerichtig, die Hymne für das Tunier in Mexiko 1986 mit Peter Alexander zu produzieren, dem Altstar mit der Witwentrösterstimme. "Mexico mi amor, mi amor / Spiegel der stolzen Seele sind deine Lieder." Die Melodie schunkelt im Walzertakt, im Hintergrund schwelgen die Geigen. Elegant war das Spiel der deutschen Elf in Mexico nicht, aber effektiv. Sie steigerte sich von Match zu Match und wurde erst von Argentinien im Endspiel mit 3:2 besiegt. Mit gewachsenem Selbstbewußtsein fuhr das Beckenbauerteam dann 1990 zur Endrunde nach Italien. Nur ein Ziel konnte es geben: Rom, den Austragungsort des Finales. "Sempre Roma" hieß deshalb das Lied zur WM, noch einmal mit Udo Jürgens intoniert. Fußballkaiser Franz und Schlagerkönig Udo: das paßte. "Sempre Roma, der Wind im Colosseum singt Lieder aus vergangener Zeit / Und durch den Titusbogen weht leise die Unendlichkeit." Eine Siegeshymne, unterlegt mit donnerndem Syntheziserschmalz. Der Rest ist Geschichte: der 2:1-Viertelfinalsieg gegen Holland mit Rijkards Spuck-Attacke auf Völler, das Hitchcock-Halbfinale gegen England, das Endspiel gegen Argentinien, Brehmes im linken Eck versenkter Elfer zum 1:0.