Kreuzigt nicht die Analysten!
von Marc H. Gerstein, Direktor von Investment Research
Hier geht es also um die Analysten und ich will gleich vorab sagen, dass ich diesen beliebten Sündenböcke der Finanzwelt nicht noch mehr Prügel verabreichen werde. Und ich weiß auch schon, was Sie jetzt sagen: Das sind schließlich die Leute, die die Internet-Blase mitgetragen haben, die selbst einen holländischen Tulpenzüchter des 17. Jahrhunderts vor Neid hätte erblassen lassen.
Aber viel interessanter für Anleger ist doch die Frage, wie sie denn eigentlich Research nutzen können, um ihre Aktienauswahl zu verbessern. Und genau dieser Frage will ich hier nachgehen.
Zahlreiche Konflikte, wertvolle Empfehlungen
Natürlich kenne ich die Kontroverse über die Arbeit von Analysten innerhalb von Investmentbanken und der daraus entstehenden Interessenskonflikte. Und auch die Frage, warum Analysten so gut wie niemals zum Verkauf raten, ist reichlich erörtert worden. Und wo ich schon dabei bin: Auch die Interpretationen von Kennzahlen und der Gebrauch von "pro-forma" und anderen nebligen Größen ist mir bewusst. Und dann ist da noch das ganze Spiel von Gewinn- und Umsatzschätzungen. Ja, ich kenne all die Argumente, habe ich doch selbst genug Zeit in der Branche verbracht. Und trotz alledem: Analystenempfehlungen sind wertvoll und Anleger können sie für die Verbesserung ihrer Investmentperformance nutzen.Mit Verstand investieren
Das Geheimnis zur richtigen Nutzung von Analystenschätzungen ist einfach: Benutzen Sie einfach Ihren gesunden Menschenverstand und beurteilen Sie Anlageempfehlungen in der gleichen Weise, in der Sie sich auch im Alltag Entscheidungen fällen. Wenn Sie immer einen Toyota gefahren haben, würden Sie Ihr Auto auch nicht einfach auf den Schrott werfen und sich sofort einen Mitsubishi bestellen, nur weil irgendein Spezialist in einem Automagazin sagt, das man jetzt Mitsubishi fahren müsse. Vielmehr würden Sie sich ihr eigenes Urteil über die Meinung des Spezialisten bilden und vielleicht eine Testfahrt mit dem Mitsubishi unternehmen. Aber Sie würden nicht einfach blind dem Rat des Experten folgen.Genauso verhält es auch mit Analysten. Bilden Sie sich Ihre eigene Meinung über das, was Sie in den Berichten lesen.
Komplexe Probleme
Die Probleme in Zusammenhang mit Analysten-Research sind sehr komplex. Daran können auch neue Reformen nichts ändern. Das gilt besonders für den Bereich Investmentbanking. Sollte die Verbindung zwischen Research und Bankgeschäft gekappt werden, wer wird dann für das Research bezahlen?Anleger, die es bedenklich finden, dass Bankmanager ihren Analysten bestimmte Vorgaben machen, sollten nicht vergessen, wie teuer die Produktion von unabhängigem Research ist. Schließlich sind für einen einzigen Bericht oft Interviews mit Lieferfirmen, Wettbewerbern, Kunden und Angestellten notwendig. Und das kann bei einem Unternehmen von der Größe von z. B. General Electrics sehr aufwendig sein.
Für Anleger weit einfacher zu lösen sind da Probleme mit den Daten, an denen die Performance gemessen wird . Wenn Sie in einer Analyse solche neuen "Kennzahlen" wie Earnings before Expenses (Gewinne vor Ausgaben) lesen, dann kann ich nur sagen "Ab in den Papierkorb damit".
Die Empfehlungssprache
Der größte Fehler der Analystengemeinde lag in der Weise, in der Empfehlungen benannt wurden. Was genau ist eigentlich der Unterschied zwischen "Buy" und "Strong Buy"? Vielleicht die Lautstärke, in der die Ratings ausgegeben werden?In Wirklichkeit sind natürlich alle Analystenempfehlungen wie in der Schule auf einer Skala von "sehr gut" bis "ungenügend" angesiedelt. Empfehlungen, die nach Nummern organisiert sind, folgen normalerweise einer Spektrum von eins bis fünf. Manchmal kann es aber auch nur von eins bis drei reichen. Wie dem auch sei - und derzeit geht der Trend in den USA eher zur Dreier-Skala - die Arbeit für die Anleger bleibt einfach. Sie müssen nur erkennen, dass es sich um eine Gut-Schlecht-Skala handelt und die Empfehlungen unter diesem Gesichtspunkt interpretieren.
Keine Empfehlung ist direkt zu verstehen
Und das ist auch schon alles. Die beste Empfehlung kann niemals wirklich "Kaufen" meinen, denn eine Kaufempfehlung muss Dinge miteinbeziehen, die kein Analyst wissen kann. Dazu gehören die persönlichen Anlageziele des jeweiligen Investors, sein Anlagestil, seine Risikobereitschaft. Und dann muss man natürlich auch noch die Lage auf dem Gesamtmarkt miteinbeziehen.Aus den gleichen Gründen, kann eine Verkaufsempfehlung niemals direkt "Verkaufen" bedeuten. Wall Street Analysten bevorzugen z. B. normalerweise Werte mit hohen aber kurzfristigen Gewinnen je Aktie. Sollte dies nicht dem Anlagestil des jeweiligen Investors entsprechen, kann dieser auch nicht blind der Empfehlung des Analysten folgen.
Verantwortung übernehmen
Daher können Anleger letztendlich auch nicht die Analysten für Fehlkäufe verantwortlich machen. Oder für Erfolge. Investoren sind vielmehr vollständige Teilnehmer des Anlageprozesses. Und da gibt es auch keinen Unterschied zwischen Privatanlegern und institutionellen Investoren. Die letzteren unterhalten ihre hauseigenen Analysten ("Buy Side-Analysten"), die für die Interpretation von Broker Research ("Sell Side") unter den Anlagegesichtspunkten ihres Unternehmens zuständig sind.Wenn Anleger also Analysen mit offenen Augen lesen und sich der Umstände, unter denen diese Berichte erstellt werden, bewusst sind und sie dementsprechend zu interpretieren verstehen, dann kann Broker-Research die Investment-Performance tatsächlich verbessern. Unter dem Strich können Analystenempfehlungen Ihre Anlagen also durchaus positiv beeinflussen.