Genügend Energiereserven über Jahrzehnte
IEA erwartet längerfristig eher moderate Erdölpreise
Laut dem neuesten Outlook der Internationalen Energieagentur reichen die konventionellen Energiereserven über Jahrzehnte aus. Bis 2020 ist mit keinem dramatischen Preisanstieg für Erdöl zu rechnen. Doch wegen der zunehmenden Angebotskonzentration müssten sich die Industrieländer auf Engpässe und Preisschocks gefasst machen.
pra. Buenos Aires, 24. Oktober
Die Welt verfügt über riesige Energiereserven, die trotz dem zu erwartenden kräftigen Wirtschaftswachstum über die nächsten Jahrzehnte nicht ausgehen werden. Dies ist die wichtigste Botschaft des neuesten World Energy Outlook der Internationalen Energieagentur (IEA), der von IEA-Direktor Robert Priddle im Rahmen des Weltenergiekongresses in Buenos Aires vorgestellt wurde. Obwohl die Nachfrage bis 2020 gemäss den Prognosen der IEA um über 50% steigen wird, wird das Angebot von Erdöl, Erdgas und Kohle problemlos mithalten können. Das Erdöl wird seine führende Rolle mit einem um 2,0 Prozentpunkte auf 35,0% steigenden Anteil am weltweiten Primärenergieangebot noch ausbauen. Der Anteil des Erdgases wird um 3,2 Punkte auf 23,9% steigen, während die Kohle hauptsächlich aus ökologischen Gründen einen leichten Rückgang um 0,9 Punkte auf 22,6% hinnehmen wird.
Konkurrenzfähige Ölsande
Die nachgewiesenen konventionellen Erdölreserven werden auf 850 Mrd. bis 1100 Mrd. Fass geschätzt. Dies würde bei gleich bleibendem Verbrauch von 28 Mrd. Fass im Jahr 2000 für 30 bis 40 Jahre reichen. Zieht man das von der IEA erwartete Wachstum in Rechnung, würden bis 2020 jedoch insgesamt 700 Mrd. Fass verbraucht sein, womit die Reserven deutlich weniger lang reichten. Der heutige Stand der bekannten Reserven sagt aber wenig aus über deren künftigen Umfang, weil dank technischem Fortschritt laufend neue Reserven erschlossen werden.
Einen Hinweis auf dieses Potenzial geben die sogenannten konventionellen Erdölressourcen, das heisst jene Vorräte, die nicht nachgewiesen, aber aller Wahrscheinlichkeit nach künftig gefördert werden können. Diese werden vom US Geological Survey auf 3345 Mrd. Fass geschätzt und versprechen damit eine weit längere Verfügbarkeit. Hinzu kommen die unkonventionellen Ressourcen, die in Form von Ölsanden in Kanada auf 2500 Mrd. Fass und in Venezuela auf 1200 Mrd. Fass Rohöl geschätzt werden. Davon können mit heutiger Technologie 300 Mrd. Fass in Kanada und 270 Mrd. Fass in Venezuela gefördert werden, womit allein dadurch der aktuelle Jahresverbrauch für weitere 20 Jahre gesichert wäre. Die Ölsande werden in beiden Regionen bereits genutzt und sollen durch geplante Investitionen von allein in Kanada 25 Mrd. $ bis 2010 stark gefördert werden. Noch länger wird das Erdgas reichen, dessen Ressourcen im Durchschnitt der Analysen auf das 172fache des Jahresverbrauchs von 2000 geschätzt werden, sowie die Kohle, deren Nutzung jedoch auf absehbare Zeit durch die wesentlich ungünstigere Umweltbilanz gegenüber dem Erdgas eingeschränkt werden wird.
Trotz dem starken Nachfragewachstum ist nicht mit einem massiven Preisanstieg für Erdöl zu rechnen, weil die erwartete Angebotsausdehnung und der technische Fortschritt einem Preisdruck entgegenwirken werden. Dies unterstreicht eine Analyse im neuen Outlook. Die IEA rechnet in ihrem Referenzszenario mit einem stabilen Preis von 21 $ (WTI) bis 2010 und danach mit einem steten Anstieg auf 28 $ bis 2020. Damit würden die Opec-Länder 2020 ein Jahreseinkommen von 600 Mrd. $ erzielen, gegenüber 200 Mrd. $ im Jahr 1997. Würde der Preis aber sofort auf 30 $ klettern und bis 2020 auf diesem Stand bleiben, hätten die Opec-Länder 2020 mit einem um 110 Mrd. $ tieferen Einkommen zu rechnen, weil die Gesamtnachfrage um 7% geringer und das Angebot der anderen Länder um 20% höher wäre. Allein die Förderung der unkonventionellen Reserven würde bei einem Preis von 30 $ um 50% steigen. Die Botschaft der von der OECD und damit den wichtigsten Importländern getragenen IEA ist klar: Auch die Opec-Länder müssen ein Interesse an moderaten Preisen haben.
Steigende Abhängigkeit von der Opec
Insgesamt zeichnet die IEA somit ein günstiges Bild der weltweiten Versorgungslage. Priddle warnte jedoch vor zwei Entwicklungen. Erstens wird das erforderliche Angebotswachstum gigantische Investitionen der Branche in Forschung, Exploration, Förderung und Transportkapazitäten erfordern, zumal die am günstigsten auszubeutenden und am nächsten bei den Konsumenten liegenden Felder sich zunehmend erschöpfen werden. Allein das steigende Angebot von Erdöl wird bis 2010 zusätzliche Investitionen in den Kapazitätsausbau von 300 Mrd. $ erfordern; bereits 2001 wurden die Investitionen der Branche gemäss Schätzungen um 25% auf 115 Mrd. $ erhöht. Um diese Mittel zu mobilisieren, werden gemäss der IEA die Regierungen gefordert sein, günstigere regulatorische Rahmenbedingungen für private Investitionen zu schaffen. Als zweite Implikation nannte Priddle, dass sich das Angebot noch viel stärker als heute auf wenige Regionen konzentrieren werde; allein die Opec-Länder werden ihren Marktanteil beim Erdöl von heute 40% auf 54% steigern. Mit der höheren Importabhängigkeit der Industrieländer, vor allem von Europa, wird die Gefahr von vorübergehenden Versorgungsengpässen und Preisschocks steigen. Deshalb sollten sich die Nationen vorsehen.
25. Oktober 2001, 02:06
[NZZ]