Rettet der Kaufrausch die Wirtschaft?

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Rettet der Kaufrausch die Wirtschaft?

 
06.06.03 09:11
Trotz Rezession und Arbeitslosigkeit verschulden sich die amerikanischen Verbraucher munter weiter. Und die Fachleute streiten: Rettet der Kaufrausch die Wirtschaft – oder macht er alles nur schlimmer?

Sergio Costa hat einen krisensicheren Job: Der Mann stiehlt Autos. „Am liebsten arbeite ich nachts“, erzählt er, „der Sicherheit wegen. Aber im Moment gibt es so viel zu tun, dass ich quasi 24 Stunden im Einsatz bin.“ Costa schaltet Alarmanlagen mit wenigen Handgriffen aus, öffnet lautlos Hochsicherheitsschlösser, und manchmal karrt er Fahrzeuge gleich komplett mit seinem Abschleppwagen weg, ohne überhaupt auszusteigen. Vergangenen Monat hat er 402 Autos entwendet, meist BMW oder Toyota.

Doch Costa ist kein gewöhnlicher Autodieb. Bevor er einen Wagen stiehlt, sagt er der Polizei Bescheid – und am Ende bringt er die Fahrzeuge ihren wahren Eigentümern zurück. Costa ist ein so genannter Repo Man, er ist Betriebsmanager bei der Firma Elite Collateral Recovery and Investigations in Elizabeth, New Jersey, die auf Pump gekaufte Fahrzeuge von säumigen Schuldnern zurückholt. Das Unternehmen erhält seine Aufträge von Automobilfirmen und Banken, und die Umsätze steigen seit Monaten.

„Wenn unsere Branche boomt, ist das ein ganz hervorragender Index für Konjunkturkrisen“, spottet Harvey Altes, Chef des Branchenverbandes Time Finance Adjusters. Und tatsächlich: Im vergangenen Jahr „stahlen“ seine Mitgliedsunternehmen die Rekordzahl von zwei Millionen Fahrzeugen von ihren zahlungsunwilligen Besitzern – „eine wirklich gewaltige Menge“, wie Altes sagt. Die Zahl passt zu einer Reihe besorgniserregender ökonomischer Trends. Viele amerikanische Privathaushalte haben ihre Kreditrahmen bei Banken und Kreditkartenfirmen ausgeschöpft, etliche von ihnen können ihre Raten nicht mehr zahlen. Der durchschnittliche Schuldendienst eines US-Haushalts hat inzwischen den Rekordwert von 14 Prozent des verfügbaren Einkommens erreicht, insgesamt stieg die Privatschuld amerikanischer Haushalte auf ein historisches Hoch von 1,7 Trillionen Dollar, und die Zahl der persönlichen Bankrotte stieg im vergangenen Jahr um fünf Prozent. „Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem die Verschuldung der Privathaushalte nicht mehr durchzuhalten ist“, urteilt Dimitri Papadimitriou, Präsident des Levy Institute. „Das wird den Leuten gerade klar – womöglich mit schweren Folgen für die Konjunktur.“

„Einmalig in der Geschichte“

Nun ist die Freude an Krediten in den USA nicht gerade neu. Die Amerikaner leben traditionell auf Pump und sparen weniger als die meisten anderen Industrienationen. Allerdings hat sich der Trend zuletzt noch einmal deutlich beschleunigt. Legten die US-Bürger Anfang der neunziger Jahre noch knapp neun Prozent ihres verfügbaren Einkommens beiseite, lag die Sparquote am Ende des Jahrzehnts bei weniger als zwei Prozent. Der Aktienboom und der vermeintliche Reichtum hatte viele Leute angestachelt, jetzt erst recht ihre Kreditkarten, Bankdarlehen und die Finanzierungsangebote von Einzelhändlern auszuschöpfen. Manche Ökonomen glauben sogar, dass weniger das Internet als diese Kredit- und Konsumwelle den Wachstumsschub der späten Neunziger ausgelöst hatte.

Doch bis heute ist Ökonomen und Psychologen ein Rätsel, warum diese Mentalität sich seit dem Platzen der Aktienblase nicht geändert hat – im Gegensatz zu früheren Rezessionen. Nach der Wirtschaftskrise von 1991 zum Beispiel sank die Kreditaufnahme der Amerikaner drastisch. Diesmal dagegen nahmen die Amerikaner fröhlich weiter Kredite auf, sogar schneller als zuvor, wenn man den Anteil am verfügbaren Einkommen zum Maßstab nimmt. „Eine solche Beschleunigung ist in der Nachkriegsgeschichte einmalig“, sagt Jan Hatzius, Ökonom bei der Investmentbank Goldman Sachs in New York.

Das Resultat: Der Schuldenstand der amerikanischen Privathaushalte bricht alle Rekorde, inzwischen liegen die Schulden eines amerikanischen Durchschnittshaushalts über seinem Nettojahreseinkommen.

Etliche Kreditinstitute bekommen bereits kalte Füße. Finanzierungsfirmen großer Autokonzerne wie Ford Motor verzeichneten in den vergangenen drei Jahren einen Zuwachs ihrer Kreditausfälle um ein Drittel. Eine Studie der Schuldnerberatungsfirma Myvesta ergab im November, dass ein Amerikaner heutzutage im Durchschnitt 3250 Dollar Schulden auf zwei bis drei Kreditkarten mit sich herumträgt – ein Anstieg um fast 1000 Dollar gegenüber dem Vorjahr. Die Kreditkartenfirmen berichten, dass immer mehr Amerikaner am Maximum ihrer Kreditrahmen angelangt sind und mit ihren Zahlungen nicht mehr nachkommen, zumal etliche dieser Firmen in den vergangenen Jahren den so genannten Sub-Prime-Lending-Markt erschlossen hatten. Ihre Kunden sind Leute, die keine einwandfreie Kreditgeschichte vorweisen konnten. Jetzt sind die Kreditkartenfirmen nervöser denn je: Einige rufen bei unzuverlässigen Kunden schon vor dem Rechnungsdatum an, um vorsorglich zur Bezahlung zu mahnen. Die Gebühren und Zinsen für säumige Schuldner sind drastisch gestiegen.

Längst geraten auch Leute in die Schuldenfalle, die früher kaum gefährdet schienen. Der Verband der Repo Men etwa stellte zuletzt fest, dass immer mehr Leute ihre Autos gleich freiwillig hergeben. „Die wollen den Ärger nicht“, sagt der Branchensprecher Altes, „das sind im Grunde ehrliche Leute aus dem bürgerlichen Mittelstand in einer außergewöhnlichen Lebenslage.“ Leute wie Mantell Sponder aus Brooklyn zum Beispiel, der als Computerexperte an der Wall Street einst 150000 Dollar im Jahr verdiente und sich nach einem Jahr Arbeitslosigkeit inzwischen rüde Telefonmanieren angewöhnt hat. „Die Kreditkartenfirmen und Gläubiger rufen hier quasi täglich an“, sagt Sponder und zuckt mit den Schultern. „Es ist einfach kein Geld da – und ich habe mir angewöhnt, gar nicht erst mit denen zu reden. Ich knalle dann gleich den Hörer auf die Gabel.“

Die Hausbesitzer fühlen sich reich

Es gibt freilich auch etliche Ökonomen, die von einer privaten Schuldenkrise nichts wissen wollen. Die Schuldenmacherei, so ihr Argument, könnte sich als gewonnene Wette auf eine bessere Zukunft herausstellen. Schließlich profitiert die Wirtschaft vom starken Konsum der Amerikaner. So könnte die kollektive Kreditaufnahme zur sich selbst erfüllenden Prophezeihung werden. Wer behält Recht – die Schwarzmaler oder die Optimisten?

Die Rechnung geht nur auf, wenn mit der Nachfrage auch der Arbeitsmarkt anspringt. Zwar sind im vergangenen Jahr die Einkommen um 4,5 Prozent gestiegen – nach nur 1,8 Prozent im Vorjahr –, aber zu einem großen Teil lag das an Steuerkürzungen aus Washington. Außerdem hat die Arbeitslosenquote in den USA gerade wieder die Sechsprozentmarke überschritten.

Entscheidend ist auch die Entwicklung der Zinsen und der Hauspreise. Notenbankchef Alan Greenspan hält die Leitzinsen zurzeit auf einem Rekordtief und macht keine Anstalten, sie bald wieder steigen zu lassen. Den Großteil ihrer neuen Kredite haben sich die Amerikaner in den vergangenen Monaten besorgt, indem sie zu diesen günstigen Zinssätzen Hypothekenkredite auf ihre Häuser aufnahmen – oder ihre bestehenden Hypotheken umschuldeten. Ein besonders gutes Geschäft machten dabei Hausbesitzer, die in Gegenden eines boomenden Immobilienmarktes leben, zum Beispiel in Sacramento oder in New York City: Einige Hauspreise sind in den vergangenen Jahren um 30, 50, gar 100 Prozent gestiegen, sodass bei der Umschuldung Extra-Cash anfiel und sich die Hausbesitzer umso reicher fühlten. Doch etliche Ökonomen sehen inzwischen die Hauspreise auf einem Hoch angelangt, einige Schwarzseher warnen sogar vor einem Kollaps der Immobilienpreise in einigen Regionen. Die Zinsen können zudem kaum weiter fallen. Mit dieser Art des Schuldenmachens dürfte es also bald vorbei sein.

Weil aber niemand so richtig weiß, wie ernst die Lage wirklich ist, erreichen die amerikanischen Verbraucher in diesen Tagen höchst unterschiedliche Signale. „Leben Sie reich“, rät die Citibank auf Plakaten an Hauswänden und in Spots im Fernsehen: Die Bankiers wollen ihrer Kundschaft gern einreden, dass es auch in Krisenzeiten „keine gute Idee ist, sich aus Sparsamkeit selbst die Haare zu schneiden“. Und dass Amerikaner sozusagen „mit dem Recht auf akzeptierte Kreditanträge geboren“ seien. Umgekehrt werden Schuldenratgeber wie Überleben Sie die Ferien ohne Bankrott zu Bestsellern. Beratungsseminare für überschuldete Amerikaner sind gefragt, und auch halbseidene Angebote („So bekommen Sie eine neue Kredit-Identität“) finden immer mehr verzweifelte Interessenten. Das American Bankruptcy Institute sorgt sich inzwischen darum, dass „die steigenden Zahlen der Zahlungsunfähigkeiten in den Haushalten auch die finanzielle Gesundheit der Kreditgeber-Institutionen gefährden“ könne. Und die sonst so optimistische Bankenwirtschaft unternimmt in Washington eine gewaltige Lobby-Anstrengung, um die Gesetze rings um den persönlichen Bankrott zu reformieren. Wer Pleite geht, darf in den Vereinigten Staaten in der Regel eine Menge behalten – oft das Haus und hohe Freibeträge auf Autos, Juwelen und die Hauseinrichtung. Die neue Gesetzgebung soll nach dem Wunsch der Kreditinstitute deutlich härter durchgreifen.

Böse Zeiten also für säumige Schuldner, und gute Zeiten für Leute wie die Repo Men? Vielleicht auch nicht. „Der Mai war ein ganz merkwürdiger Monat“, klagt in diesen Tagen der Branchensprecher Harvey Altes. „Die Autofirmen haben in den vergangenen Monaten so viele Autos mit Nullzinsen und Sonderrabatten verkauft, dass sie sowieso einen Verlust machen“, sagt Altes. „So ist der neueste Trend, dass sie die Fahrzeuge gar nicht mehr zurückhaben wollen.“

www.zeit.de/2003/24/Privatbankrotte
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