Düstere Prognose für den Aktienmarkt
US-Physiker: Ab Frühjahr werden die Kurse erneut auf Talfahrt gehen
Von Martin Koch
Schon frühzeitig haben Wissenschaftler versucht, die Gesetze der Börse zu enthüllen. Unter ihnen war auch der deutsche Mathematiker Carl Friedrich Gauß (1777-1855), der spezielle statistische Methoden ersann, um das Verhalten der Kurse vorauszuberechnen. Mit Erfolg, wie seine Biografen versichern: Die Gewinne, die Gauß an der Börse erzielte, überstiegen sein Gehalt als Professor bei weitem, so dass er nach seinem Tod 170000 Taler hinterließ, eine für die damalige Zeit ungeheure Summe.
Natürlich weiß heute niemand genau, ob die Geschichte sich in dieser Weise zugetragen hat oder nur eine schöne Legende ist. Eines hingegen ist unbestreitbar: Beim Versuch, das Verhalten der Aktienkurse mit Hilfe mathematischer Modelle zu prognostizieren, sind die meisten Wissenschaftler kläglich gescheitert. Im Oktober 1929 zum Beispiel erklärte der renommierte US-Wirtschaftstheoretiker Irving Fisher, dass die Börsenwerte noch sehr lange auf einem »permanent hohen Plateau« verharren würden. Wenig später fielen die Kurse um beinahe 90 Prozent und führten zum schlimmsten Zusammenbruch des amerikanischen Aktienmarktes, der als »Schwarzer Freitag« in die Geschichte eingegangen ist.
Auch in den letzten Jahren hat es unerwartete Kurseinbrüche an der Börse gegeben. Um die Anleger künftig auf solche Entwicklungen besser vorzubereiten, haben die Physiker Didier Sornette und Wei-Xing Zhou von der University of California in Los Angeles den amerikanischen Aktienmarkt jetzt erneut einer mathematischen Analyse unterworfen. Wie das britische Wissenschaftsmagazin »New Scientist« (Bd. 176, S.16) berichtet, fußen ihre Berechnungen auf einem physikalischen Modell, das ursprünglich zu dem Zweck entwickelt worden war, das Verhalten von Materialien bei Belastung zu untersuchen. Dabei entstehen bekanntlich winzige Risse, die sich immer weiter ausbreiten und an einem bestimmten Punkt zum Bruch des Materials führen. Mathematisch wird dieser Rückkopplungsprozess durch drei Gleichungen beschrieben, die sich nach Auffassung von Sornette und Zhou auch gut dazu eignen, das Verhalten von Käufern und Verkäufern am Aktienmarkt zu modellieren: »Denn ähnlich wie Risse durch das Material wandern und dieses gegebenenfalls schädigen, durchströmen Informationen den Markt und verändern die Meinung der dort handelnden Personen.« Das heißt: Indem die Börsenhändler unentwegt miteinander kommunizieren, generieren sie eine Stimmung, die den Markt entscheidend beeinflusst.
Herrscht am Aktienmarkt beispielsweise ein sehr optimistisches Klima, das die Kurse losgelöst von der Realwirtschaft künstlich nach oben schnellen lässt, sprechen Wirtschaftswissenschaftler von einer spekulativen Blase, die sich bei nachhaltig schlechter Stimmung als »Anti-Blase« wieder auflöst. Letzteres geschieht derzeit an allen großen Börsen, auch an der Wall Street, wie unter anderem die Berechnungen von Sornette und Zhou belegen. Denn danach befindet sich der amerikanische Börsenindex S&P500, der den Durchschnitt der Aktienwerte der 500 wichtigsten US-Unternehmen angibt, seit August 2000 auf einer permanenten Talfahrt, die, wie es für eine »Anti-Blase« typisch ist, von gelegentlichen Aufschwungphasen unterbrochen wird. Auch die jüngste leichte Erholung der Aktienmärkte, so die Forscher weiter, sei daher nur von kurzer Dauer. Bereits im Frühjahr 2003 würden die Aktienkurse wieder fallen – noch tiefer als im letzten Jahr.
Neil Shepard, Ökonom an der University of Oxford, zweifelt diese düstere Prognose an: »Der Kurs der Aktien lässt sich schon deshalb nicht voraussagen, weil viele Börsenhändler erst nach dem Auftauchen von neuen Informationen über den Markt darüber entscheiden, ob sie kaufen oder verkaufen sollen.« Außerdem sei die Kursentwicklung von politischen Ereignissen abhängig, die niemand langfristig vorhersagen könne. Sornette kontert mit eigenen Erfahrungen. Bereits 1999 sei es ihm gelungen, erklärte er gegenüber »New Scientist«, mit Hilfe eines mathematischen Modells die Entwicklung des japanischen Nikkei-Index zu simulieren: »Ich habe mein eigenes Geld investiert und bin damit sehr gut gefahren.«
Glück gehabt, muss man da wohl sagen. Denn die Börse ist ein hochgradig chaotisches System, in dem die Preise sich mit atemberaubender Geschwindigkeit verändern. Dass viele Anleger bei hohen Kursen dennoch um so waghalsiger investieren, liegt nicht zuletzt daran, dass in der westlichen Gesellschaft seit der Aufklärung das lineare Denken dominiert – in Wirtschaft und Politik, wie wir derzeit erleben, und natürlich auch an der Börse. Solange es aufwärts geht, will niemand so recht wahrhaben, dass dem Steigen der Kurse (Hausse) zugleich deren Sinken (Baisse) inhärent ist. Das gilt aber genauso umgekehrt.
»Ganze Vermögen entstehen und vergehen in Ausbrüchen hektischer Marktaktivität und wilder Kurssprünge«, schreibt der französische Mathematiker Benoit B. Mandelbrot, weist aber zugleich darauf hin, dass solche spektakulären Verläufe nach den Modellen der klassischen Wirtschaftstheorie gar nicht vorkommen dürften. Folgt man zum Beispiel der Black-Scholes-Formel, mit deren Hilfe häufig die Preise für Aktienkaufoptionen berechnet werden, dann wäre ein Crash, das heißt das abrupte Platzen einer spekulativen Blase, nur alle Jahrmillionen zu erwarten. Denn die Kursschwankungen sind hier nach der Gaußschen Glockenkurve verteilt, bei der die Wahrscheinlichkeit für große Preissprünge verschwindend gering ist. Dennoch kommen solche Sprünge in der Praxis recht häufig vor, im Schnitt sogar jeden Monat. »Man darf daher wohl annehmen«, sagt Mandelbrot, »dass die klassische Theorie nur etwa 95 Prozent der Preisschwankungen zutreffend beschreibt.« Der recht hohe Gültigkeitswert resultiert vor allem aus der Tatsache, dass selbst so hochkomplexe Systeme wie die Börse für eine gewisse Zeit einer überschaubaren Dynamik folgen, bevor sie instabil werden und ins Chaos abdriften. Erst dann, so Mandelbrot, müsse der klassische Ansatz durch ein Modell ersetzt werden, das auf so genannten Fraktalen beruht. Ein Fraktal ist eine geometrische Form, die sich in Teile zerlegen lässt, welche jeweils eine verkleinerte Form des Ganzen darstellen. Diese Eigenschaft wird als »Selbstähnlichkeit« bezeichnet. Und selbstähnlich sind nach Mandelbrots Analyse auch die Kurven, die die zeitliche Entwicklung der Aktienkurse beschreiben. Das heißt: Ob wir nun einen Tag, eine Woche oder ein Jahr betrachten, die Struktur der Preisschwankungen bleibt annähernd dieselbe.
Aber eben nur annähernd, so dass auch dieses Modell keine exakte Voraussage der Börsenkurse erlaubt. Es ist lediglich geeignet, auf der Grundlage zurückliegender Handelsaktivitäten die Wahrscheinlichkeit künftiger Kursentwicklungen abzuschätzen. Wie dagegen der Preisanstieg oder -abfall an einem bestimmten Tag oder in einer bestimmten Woche sein wird, hängt von zahllosen Zufällen ab (Kriege, Naturkatastrophen, allgemeine Kaufunlust etc.), die auch das beste Modell nicht erfassen kann und die jeden Aktienkauf riskant machen.
(ND 04.01.03)
US-Physiker: Ab Frühjahr werden die Kurse erneut auf Talfahrt gehen
Von Martin Koch
Schon frühzeitig haben Wissenschaftler versucht, die Gesetze der Börse zu enthüllen. Unter ihnen war auch der deutsche Mathematiker Carl Friedrich Gauß (1777-1855), der spezielle statistische Methoden ersann, um das Verhalten der Kurse vorauszuberechnen. Mit Erfolg, wie seine Biografen versichern: Die Gewinne, die Gauß an der Börse erzielte, überstiegen sein Gehalt als Professor bei weitem, so dass er nach seinem Tod 170000 Taler hinterließ, eine für die damalige Zeit ungeheure Summe.
Natürlich weiß heute niemand genau, ob die Geschichte sich in dieser Weise zugetragen hat oder nur eine schöne Legende ist. Eines hingegen ist unbestreitbar: Beim Versuch, das Verhalten der Aktienkurse mit Hilfe mathematischer Modelle zu prognostizieren, sind die meisten Wissenschaftler kläglich gescheitert. Im Oktober 1929 zum Beispiel erklärte der renommierte US-Wirtschaftstheoretiker Irving Fisher, dass die Börsenwerte noch sehr lange auf einem »permanent hohen Plateau« verharren würden. Wenig später fielen die Kurse um beinahe 90 Prozent und führten zum schlimmsten Zusammenbruch des amerikanischen Aktienmarktes, der als »Schwarzer Freitag« in die Geschichte eingegangen ist.
Auch in den letzten Jahren hat es unerwartete Kurseinbrüche an der Börse gegeben. Um die Anleger künftig auf solche Entwicklungen besser vorzubereiten, haben die Physiker Didier Sornette und Wei-Xing Zhou von der University of California in Los Angeles den amerikanischen Aktienmarkt jetzt erneut einer mathematischen Analyse unterworfen. Wie das britische Wissenschaftsmagazin »New Scientist« (Bd. 176, S.16) berichtet, fußen ihre Berechnungen auf einem physikalischen Modell, das ursprünglich zu dem Zweck entwickelt worden war, das Verhalten von Materialien bei Belastung zu untersuchen. Dabei entstehen bekanntlich winzige Risse, die sich immer weiter ausbreiten und an einem bestimmten Punkt zum Bruch des Materials führen. Mathematisch wird dieser Rückkopplungsprozess durch drei Gleichungen beschrieben, die sich nach Auffassung von Sornette und Zhou auch gut dazu eignen, das Verhalten von Käufern und Verkäufern am Aktienmarkt zu modellieren: »Denn ähnlich wie Risse durch das Material wandern und dieses gegebenenfalls schädigen, durchströmen Informationen den Markt und verändern die Meinung der dort handelnden Personen.« Das heißt: Indem die Börsenhändler unentwegt miteinander kommunizieren, generieren sie eine Stimmung, die den Markt entscheidend beeinflusst.
Herrscht am Aktienmarkt beispielsweise ein sehr optimistisches Klima, das die Kurse losgelöst von der Realwirtschaft künstlich nach oben schnellen lässt, sprechen Wirtschaftswissenschaftler von einer spekulativen Blase, die sich bei nachhaltig schlechter Stimmung als »Anti-Blase« wieder auflöst. Letzteres geschieht derzeit an allen großen Börsen, auch an der Wall Street, wie unter anderem die Berechnungen von Sornette und Zhou belegen. Denn danach befindet sich der amerikanische Börsenindex S&P500, der den Durchschnitt der Aktienwerte der 500 wichtigsten US-Unternehmen angibt, seit August 2000 auf einer permanenten Talfahrt, die, wie es für eine »Anti-Blase« typisch ist, von gelegentlichen Aufschwungphasen unterbrochen wird. Auch die jüngste leichte Erholung der Aktienmärkte, so die Forscher weiter, sei daher nur von kurzer Dauer. Bereits im Frühjahr 2003 würden die Aktienkurse wieder fallen – noch tiefer als im letzten Jahr.
Neil Shepard, Ökonom an der University of Oxford, zweifelt diese düstere Prognose an: »Der Kurs der Aktien lässt sich schon deshalb nicht voraussagen, weil viele Börsenhändler erst nach dem Auftauchen von neuen Informationen über den Markt darüber entscheiden, ob sie kaufen oder verkaufen sollen.« Außerdem sei die Kursentwicklung von politischen Ereignissen abhängig, die niemand langfristig vorhersagen könne. Sornette kontert mit eigenen Erfahrungen. Bereits 1999 sei es ihm gelungen, erklärte er gegenüber »New Scientist«, mit Hilfe eines mathematischen Modells die Entwicklung des japanischen Nikkei-Index zu simulieren: »Ich habe mein eigenes Geld investiert und bin damit sehr gut gefahren.«
Glück gehabt, muss man da wohl sagen. Denn die Börse ist ein hochgradig chaotisches System, in dem die Preise sich mit atemberaubender Geschwindigkeit verändern. Dass viele Anleger bei hohen Kursen dennoch um so waghalsiger investieren, liegt nicht zuletzt daran, dass in der westlichen Gesellschaft seit der Aufklärung das lineare Denken dominiert – in Wirtschaft und Politik, wie wir derzeit erleben, und natürlich auch an der Börse. Solange es aufwärts geht, will niemand so recht wahrhaben, dass dem Steigen der Kurse (Hausse) zugleich deren Sinken (Baisse) inhärent ist. Das gilt aber genauso umgekehrt.
»Ganze Vermögen entstehen und vergehen in Ausbrüchen hektischer Marktaktivität und wilder Kurssprünge«, schreibt der französische Mathematiker Benoit B. Mandelbrot, weist aber zugleich darauf hin, dass solche spektakulären Verläufe nach den Modellen der klassischen Wirtschaftstheorie gar nicht vorkommen dürften. Folgt man zum Beispiel der Black-Scholes-Formel, mit deren Hilfe häufig die Preise für Aktienkaufoptionen berechnet werden, dann wäre ein Crash, das heißt das abrupte Platzen einer spekulativen Blase, nur alle Jahrmillionen zu erwarten. Denn die Kursschwankungen sind hier nach der Gaußschen Glockenkurve verteilt, bei der die Wahrscheinlichkeit für große Preissprünge verschwindend gering ist. Dennoch kommen solche Sprünge in der Praxis recht häufig vor, im Schnitt sogar jeden Monat. »Man darf daher wohl annehmen«, sagt Mandelbrot, »dass die klassische Theorie nur etwa 95 Prozent der Preisschwankungen zutreffend beschreibt.« Der recht hohe Gültigkeitswert resultiert vor allem aus der Tatsache, dass selbst so hochkomplexe Systeme wie die Börse für eine gewisse Zeit einer überschaubaren Dynamik folgen, bevor sie instabil werden und ins Chaos abdriften. Erst dann, so Mandelbrot, müsse der klassische Ansatz durch ein Modell ersetzt werden, das auf so genannten Fraktalen beruht. Ein Fraktal ist eine geometrische Form, die sich in Teile zerlegen lässt, welche jeweils eine verkleinerte Form des Ganzen darstellen. Diese Eigenschaft wird als »Selbstähnlichkeit« bezeichnet. Und selbstähnlich sind nach Mandelbrots Analyse auch die Kurven, die die zeitliche Entwicklung der Aktienkurse beschreiben. Das heißt: Ob wir nun einen Tag, eine Woche oder ein Jahr betrachten, die Struktur der Preisschwankungen bleibt annähernd dieselbe.
Aber eben nur annähernd, so dass auch dieses Modell keine exakte Voraussage der Börsenkurse erlaubt. Es ist lediglich geeignet, auf der Grundlage zurückliegender Handelsaktivitäten die Wahrscheinlichkeit künftiger Kursentwicklungen abzuschätzen. Wie dagegen der Preisanstieg oder -abfall an einem bestimmten Tag oder in einer bestimmten Woche sein wird, hängt von zahllosen Zufällen ab (Kriege, Naturkatastrophen, allgemeine Kaufunlust etc.), die auch das beste Modell nicht erfassen kann und die jeden Aktienkauf riskant machen.
(ND 04.01.03)