Ariel Scharons politische Linie ist so klar wie hart. Auf Vergeltung folgt noch stärkere Vergeltung. Der jüngste Beschluss des israelischen Kabinetts, die Angriffe auf palästinensische Ziele zu verstärken, zeigt, dass seine Geradlinigkeit wieder einmal in Starrköpfigkeit übergegangen ist. Scharon hängt noch immer einem Weltbild an, das die Mehrheit der Israelis während der großen Nahost-Kriege hatte.
So kannte ihn das Publikum nicht. Bevor Ariel Scharon im Frühjahr 2001 elfter Premierminister Israels wurde, präsentierte sich der Witwer als liebevoller, alter Mann. Auf seiner 600 Hektar großen Farm im Negev ließ er sich mit Lämmchen auf dem Arm ablichten, umgeben von Kindern. Sollte dieses Schauspiel Indiz sein für eine Revolution seiner Gesinnung? Sollte sich der Hardliner vom Falken zur Taube gewandelt haben?
Wie immer Scharon auch rüberkommen will - den politischen Nachweis für den angestrebten Imagewechsel hat er noch nicht erbracht. Tatsächlich wird er seinem Ruf als "Falke der Falken" gerecht. Nach dem Abkommen von Oslo 1993 war der Terror in Israel stark zurückgegangen. Die Palästinenser hegten die Hoffnung auf einen Abzug der Israelis aus den besetzten palästinensischen Gebieten in drei Stufen. Doch vor allem die Regierungen unter Benjamin Netanjahu und Ehud Barak setzten nach der Ermordung Jizchak Rabins im November 1995 die Vereinbarungen von Oslo II nicht um. Scharon schließlich erklärte den völkerrechtlich bindenden Oslo-Vertrag Anfang 2001 für tot. Unter seiner Herrschaft eskalierte die Gewalt im Nahen Osten weiter: Im ersten Jahr seiner Regierung kamen bei Kämpfen zwischen Israelis und Palästinensern mehr als tausend Menschen ums Leben.
Scharfsinnig, aber "unbelastet von jeglicher Moral" Scharon versucht als mächtigster Mann in Israel umzusetzen, wofür er schon immer antrat: so viel Land und so viel Rechte wie möglich für den jüdischen Staat zu sichern und so wenig wie möglich den Palästinensern zukommen zu lassen. Die Geradlinigkeit, mit der er vorgeht, spiegelt sich in der Biografie des "Kriegers", wie er sich selbst nennt, wieder. Sie weist keinerlei Brüche auf. Seine politische Einstellung und die Wahl seiner Mittel sind über die Zeiten nahezu unverändert. Im Alter von 25 Jahren war der 1928 in einem Moschaw bei Tel Aviv geborene Scharon Befehlshaber der "Einheit 101". Die Geheimtruppe, die im Sommer 1953 mit dem Ziel gegründet worden war, feindliche Stützpunkte jenseits der israelischen Grenze auszuschalten, hatte im Oktober 1953 einen Einsatz gegen das Dorf Kibja in Samaria im Westjordanland. Scharon und seine Leute eroberten das Dorf, brachten in den Häusern Sprengsätze an und töteten 60 Dorfbewohner.
An rücksichtsloser Durchsetzungskraft und an Brutalität mangelte es Scharon auch fortan nicht. Der ehemalige General und heutige Premierminister gilt als scharfsinnig, doch "unbelastet von jeglicher Moral", wie der israelische Schriftsteller Yoram Kaniuk formulierte. Wie gnadenlos ein scharfer Verstand ohne Moral sein kann, zeigt eine Begebenheit, von der Uri Avnery, früherer Kampfgefährte Scharons, berichtet. Scharon war nach dem Sechstagekrieg von 1967 zum Kommandeur der Südfront befördert worden. Als im Gaza-Streifen der Guerillakrieg gegen Israel tobte, sollte Scharon die Palästinenser "befrieden". Dies tat er nach Aussagen Avnerys "stilgemäß": Palästinenser, die mit einer Waffe gefasst wurden, sollten auf der Stelle erschossen werden. Stolz verkündete Scharon später: "Ich habe nie einen Gefangenen erschossen - ich habe einfach keine Gefangenen gemacht."
Anzeige wegen Kriegsverbrechen Der ehemalige Untergrundkämpfer Menachem Begin, Ziehvater Scharons, und der ehemalige Generalstabschef Jizchak Rabin waren fähig, sich veränderten Anforderungen zu stellen. Als Regierungschefs waren sie in der Lage, mit Israels Nachbarn Kompromisse zu schließen. Scharon scheint diese Gabe nicht zu haben. Unverändert verfolgte der bullige, untersetzte Mann über Jahrzehnte dieselben politischen Ziele: keine Teilung Jerusalems, kein Abbau jüdischer Siedlungen im Westjordanland und im Gaza-Streifen, keine Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge in ihr Heimatland.
Als Begin über seinen Schatten sprang und 1978 in Camp David mit dem ägyptischen Präsidenten Anwar al-Sadat Frieden schloss, war Scharon dagegen. Einen Autonomiestatus für das Westjordanland und den Gaza-Streifen wollte er nicht akzeptieren, so wenig wie die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Ägypten und den Rückzug vom Sinai. Als die Israelis die Golan-Höhen teilweise räumten, befahl Scharon offenbar aus Verärgerung über die israelische Politik die Sprengung der syrischen Stadt Kuneitra. Die Verantwortung Scharons an den Massakern von Sabra und Schatila 1982 während des Libanonfeldzuges wird möglicherweise in naher Zukunft von einem belgischen Gericht beurteilt werden. In Brüssel wurde gegen den israelischen Premier Anzeige wegen Kriegsverbrechen erstattet.
Erbitterter Gegner von Kompromissen Ende der achtziger Jahre tat sich Scharon weiterhin als erbitterter Gegner von Kompromissen mit den Palästinensern hervor. Rabin warf er vor, er liefere jüdische Siedler in den "israelischen Kernlanden Judäa und Samaria" an die "verbrecherische PLO" aus. Welche Politik er für richtig hielt, zeigte er, als er sich 1987 eine Wohnung im muslimischen Teil der Jerusalemer Altstadt einrichtete. Die Gefühle anderer ließen ihn kalt: Als der Mossad 1988 in Tunis den Militärchef der PLO, Khalil al-Wasir (Abu Dschihad), tötete, applaudierte Scharon öffentlich. Gleichzeitig drang er darauf, das Verteidigungsministerium zu übernehmen, um die Intifada I, den Aufstand palästinensischer Jugendlicher, der sich 1986 entfacht hatte, niederzuschlagen.
Selbst die Gangart mancher Parteifreunde aus dem konservativen Likudblock war Scharon nicht hart genug. Als er Ende 1998 im Kabinett Netanjahu das Außenministerium übernahm, erklärte er, er halte den im amerikanischen Wye Plantation zwischen Netanjahu und Arafat vereinbarten Truppenrückzug der Israelis aus 13 Prozent des besetzten palästinensischen Gebietes für ein "nationales Desaster". In Wye selbst hatte er sich geweigert, Arafat bei der Begrüßung die Hand zu schütteln.
Angst vor dem Fremden Es wäre die Hand eines Arabers gewesen. Einem Araber die Hand zu reichen, davor hatte sich bereits Scharons Mutter gefürchtet. Als seine Eltern nach dem Ersten Weltkrieg aus Osteuropa kommend nach Palästina einwanderten, ankerten sie vor Jaffa, bis sie in kleinen Booten von arabischen Seeleuten an Land gebracht wurden. Scharons Mutter erinnerte sich Jahre später, wie einer der Araber ihr ins Boot half: "Ich hatte schreckliche Angst. Er streckte uns zwei große Hände entgegen; und ich, die noch niemals einen Araber gesehen hatte, wusste nicht, was er wollte. Er sah für mich wie ein Fettklumpen aus." Für die Studentin aus Osteuropa war die Begegnung mit der arabischen Welt ein Kulturschock.
Scharon ging es während seiner militärischen und politischen Karriere darum, ein Israel möglichst ohne Araber zu bauen. Vor dem Libanon-Feldzug 1982 hatte Scharon folgenden Plan: Die Palästinenser sollten aus dem Libanon nach Jordanien vertrieben werden, um das dortige Regime zu stürzen. Sobald sie ihren eigenen Staat errichtet hätten, so der Zionist Scharon gegenüber einem Journalisten, wäre es möglich geworden, ein araberfreies Israel vom Mittelmeer bis an den Jordan zu errichten.
Israel, Oase im Feindesland Scharon liebt Landkarten - mit ihnen lebt er seine strategischen Phantasien aus. So wie ein Landschaftsplaner in Gedanken Hecken und Tümpel verschiebt, so verschiebt der Stratege Scharon Grenzen und Völker. Für die Zeit nach dem Tod Ajatollah Chomeinis soll er sogar die Okkupation des Iran durch israelische Truppen in Erwägung gezogen haben. Den Amerikanern bot er 1981 an, zu diesem Zweck riesige Waffenlager in Israel anzulegen.
Das Weltbild Scharons ist das der Gründerzeit des Staates Israel geblieben, als die Araber noch am Tag der Staatsgründung den Krieg ausriefen mit dem Ziel, die Juden ins Meer zu treiben. In Scharons Augen ist Israel immer noch von Feinden umzingelt, genau wie seine Oase im Negev von lebensfeindlichem Land umgeben ist. Dort, im Kreise seiner Vertrauten, allerdings gilt Scharon als ein durchaus humorvoller und charmanter Mensch.