Das folgende Stück wurde bereits im September 2000 für die Zeitschrift „Einblick“ geschrieben:
Eine Hamburger Dame, die seit zwei Jahrzehnten ein honoriges und also schlechtgehendes Kleingewerbe
betreibt, pflegt Anrufern, die um einen Termin bitten, um ihre fabelhaften Wege zu schnellem Reichtum zu erläutern, mit der Warnung zu verabschieden, daß das schmale Gäßchen, in dem sich ihr Büro befindet, keinen Parkplatz für einen Rolls Royce biete, und auf die Frage »Wieso Rolls?«, die Rückfrage »Ja fahren Sie keinen Rolls?« und die Antwort »Nein, ich fahre Opel« den Bescheid zu geben: »Sie fahren Opel und wollen mir erzählen, wie man reich wird?«
Auf tausend Experten, die als Anlageberater in der Zweigstelle, Ratgeberautor in der Talkshow, Akquisiteur am Telefonbuch oder Redakteur bei einer Wirtschaftszeitung - davon leben, anderen zu erzählen, wie man es durch die Spekulation mit Aktien zum Millionär bringt, kommt, grob geschätzt, ein Aktienkäufer, der ein paar Mark gewinnt. Und gerade der hat keinen Berater gebraucht. Des Rätsels Lösung ist einfach: Wer mehr Geld hat, als er zum täglichen Leben braucht, kann am Aktienmarkt etwas dazugewinnen. Wer nichts hat oder nur Geborgtes, wird es los, er sparte Geld und Sorgen, wenn er es gleich versöffe.
Seit der Menschheit die Hoffnung auf ein Leben jenseits des Kapitalismus abhanden gekommen ist, hat die Industrie der Träume und Illusionen einen ungeheuren Aufschwung genommen. Täglich fällt sie die Seiten und Kanäle mit Tips für den kleinen Opelfahrer, wie er zwischen Probezeit und Frühverrentung auch einmal ganz groß rauskommen kann. Der ordentliche Kleinbürger findet entsprechenden Rat bei den Online-Börsen der Medienkonzerne, der alternative Raffer auf der Seite »Reich & glücklich: anlegen mit der TAZ. Und wie das Märchen vom Tellerwäscher, der es zum Millionär bringt, nur dann seine für die Herrschaft segensreicher nämlich verblödende Wirkung tut, wenn es dann und wann einmal wahr wird, muß es auch ein paarmal wahr werden, daß ein Kleinaktionär an der Börse aus zehntausend Mark zwanzigtausend macht. Allerdings sind beim Lotto, wo der Staat der Gesamtheit der Spieler zwei Drittel ihres Einsatzes abnimmt, um den Rest als Anreiz fürs nächste Mal an ein paar hundert Glückliche aus- zuwerfen, die Chancen größer. Zumal der veranstaltende Fiskus sich wenigstens aus der Ziehung der Gewinnzahlen heraushält, während der Veranstalter des Börsenspiels, das Kapital, die Kurse »pflegt«, das heißt: selbst bestimmt.
Wer sich freilich die Welt lieber so vorstellt, daß im Aufsichtsrat und im Vorstand der Deutschen Bank zwei Dutzend Sozialarbeiter sitzen, deren ganzes Sinnen und Trachten darauf gerichtet ist, die Armen reicher zu machen, weshalb sie sich in Geduld üben, bis der Kursgewinn der Siemens- oder SAP-Aktie statt in ihrem Safe auf dem Girokonto des Lagerarbeiters Karl-Heinz A. aus 0. landet, sollte sich über die Spesen, die sein Aberglauben kostet, nicht beschweren. Leider tut er es doch. Denn im Kopf und im Herzen, wenn man das so nennen will, ist der Kleinaktionär keine Miniatarausgabe des Großaktionärs, sondern ein losgelassener Prämiensparer, der hinter den Tiefs der Kurse, die zu den Hochs gehören wie der Wind zur Hose, nichts als die Kräfte,der Finsternis walten sieht: das - selbstverständlich: fremdländische - Finanzkapital, nämlich recht eigentlich: die Amis, die Wall Street, also die Juden.
Weil es aber die Bestimmung des Kleinaktionärs ist, daß er das Geld, das er nicht den Herstellern von Autos und Kühltruhen herausrückt, auf der Börse loswird, weil er kaufen muß, wenn die Kurse steigen (und die Profis verkaufen), und verkaufen, wenn die Kurse fallen (weil die Profis schon verkauft haben), macht ihn seine Tätigkeit als Spekulant böse. Und so wächst die Aggressivität in der Gesellschaft mit der Zahl ihrer Kleinaktionäre.
Noch tobt sich der Haß, wenn der Kurs einer der neuen »Volksaktien« ein- bricht, vorzüglich auf den Leserbriefseiten aus: über Lügen wird sich da beschwert, über Betrug und Verrat, wenn nichts anderes hergestellt wird als die Voraussetzung für Gewinn, nämlich: Verlust. Was der eine gewinnt, muß ein anderer verlieren. Der andere heißt nur sehr selten Hilmar Kopper. Leider besteht so gar keine Hoffnung, daß der, an dem die Volksgemeinschaft der Kleinaktionäre ihre Wut auslassen wird, wenn sie sich beim nächsten größeren Crash um ihre Ersparnisse beraubt fühlt,