wenn die Börse zur Nebensache gerät...

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wenn die Börse zur Nebensache gerät...

 
11.09.02 13:00
New York – Sie weinte, sie flehte, sie schrie. Doch niemand konnte sie trösten. Bis heute nicht.

Rachel Uchitel (27), die Frau, die in den Asche-übersäten Straßen Manhattans nach ihrem Verlobten Andy O’Grady (32 †) suchte – und im Moment ihrer tiefsten Verzweiflung fotografiert wurde. Ihr schmerzverzerrtes Gesicht wirkt wie ein Gemälde des amerikanischen Albtraums. Ein entsetzlich Schönes. Ein entsetzlich Berührendes.

Heute – am Jahrestag der Katastrophe – wird die junge Fernsehproduzentin („Bloomberg TV“) zum Ground Zero zurückkehren, um still der Opfer zu gedenken.  Der Tag, an dem sie ihre Liebe – und ihren Glauben an Gott verlor.

Wir sind – bei herrlichem Spätsommerwetter – an einem Teich im Central Park verabredet. Sie trägt knappe, blaue Sportkleidung, wirkt entspannt, scheint jeden Sonnenstrahl zu genießen. Winzige Sommersprossen tanzen dort, wo vor einem Jahr nur Tränen liefen.

So weit die Fassade.

Denn Rachel tut gar nicht erst so, als habe sie den Horror des 11. September verarbeitet. „Mein Leben wird nie mehr so sein, wie es einmal war“, sagt sie bitter.

Ihr Liebster, der Investment-Banker Andy O’Grady, ist tot. Der Mann, den sie am 4. Mai 2002 heiraten wollte. „Es wurde der traurigste Tag meines Lebens. Ich hatte jede Szene vor Augen: Wie ich vor dem Traualtar gestanden hätte. Wie Andy vor Aufregung fast verrückt geworden wäre, wie er sich später eine Zigarre angezündet hätte...“

Sie hatte sich fest vorgenommen, am 4. Mai an seinem Grab zu stehen. Es ging nicht. „Ich hatte bis heute erst ein Mal die Kraft dazu. Er ist in meiner Erinnerung noch zu lebendig; sein Optimismus, seine Energie.“

Noch immer klingen seine letzten Worte im Ohr: „Rachel, du verstehst nicht, da springen Leute aus dem Fenster“, schrie Andy, als sie ihn nach dem Einschlag des ersten Flugzeuges in seinem Büro (104. Stock, Südturm) anrief. Dann donnerte das zweite Flugzeug ins World Trade Center – 20 Stockwerke unter ihm.

Die TV-Journalistin arbeitet wie in Trance weiter, bereitet die Horrorbilder für die Nachrichten auf. Erst dann begreift sie, dass sie selbst Teil dieses Horrors ist. Sie druckt Suchplakate, zieht mit Mutter Susan („meine größte Hilfe“) von Krankenhaus zu Krankenhaus. Aus Verzweiflung wird Panik. Hatte er nicht noch vor wenigen Tagen im Urlaub neben ihr am Strand gelegen? „Ich sagte mir: Andy ist der stärkste Mensch der Welt. So einer kann doch nicht plötzlich tot sein.“

Als selbst die „winzige Hoffnung“ schwindet, tut Rachel etwas, was New Yorks Geist dieser Tage zeigt: Sie geht in die Tierhandlung, kauft sich einen „Brüsseler Griffon“-Welpen. Ihr Trost auf vier Pfoten, beschließt sie, soll den Namen eines Helden tragen. Sie nennt ihn „Rudy Giuliani“.

Vier Monate später finden Helfer bei den Aufräumarbeiten am Ground Zero den Körper ihres Verlobten – ohne Arme und Beine. Er weist keine Feuerspuren auf. Rachel schließt daraus, dass Andy in dem Moment starb, als der Südturm einstürzte.

Unter die Trümmer gerieten dabei auch ihr unbeschwertes Lachen, ihre Träume. „Keine Minute ist seitdem vergangen, in der ich nicht an Andy denke – vom Aufwachen bis zum Einschlafen. Das Schlimmste ist, dass ich ihm nicht mehr sagen kann, wie sehr er vermisst wird.“

Warm und zärtlich klingt ihre Stimme, wenn sie von ihm spricht. Als wäre sie frisch verliebt. Wie hat vor vier Jahren alles angefangen?

„Wir waren zum Rendezvous verabredet. Ich wurde krank, wollte absagen. Da brachte er mir heiße Suppe und Ginger Ale nach Hause.“

Rachel deutet auf den Teich vor uns und erklärt, was dieser Ort für sie bedeutet: „Da draußen, im Ruderboot, hat Andy mich gefragt, ob ich ihn heiraten möchte. Dann hat er mir den Verlobungsring angesteckt.“

Sie trägt den Ring immer noch, hält ihn melancholisch in die Sonne. An ihm glitzern drei Diamanten, Symbole der Unvergänglichkeit.

„Und hier, im Bootshaus, habe ich ihm mit Freunden ,good-bye‘ gesagt. Mit einer 300-Leute-Party. Wir wollten nicht nur den Tod betrauern, sondern sein großartiges, erfülltes Leben feiern.“

Sie schließt die Augen. Sie will nicht länger bleiben an diesem Ort voller Erinnerungen: „Können wir ein Stück durch den Park gehen?“

Eine Zeit lang ist es still, nur das Rascheln der Eichhörnchen ist zu hören. Was fühlte sie, als sie den Verlust endgültig realisierte? Sie habe sich „nichts sehnlicher gewünscht, als ein Jahr überspringen zu können.“ Nicht „noch einmal eine Phase durchzumachen, in der du dich mal okay fühlst, dann wieder unter der Dusche in Tränen ausbrichst“.

Was nur enge Freunde wissen: Rachel ging am 11. September nicht zum ersten Mal durch die Hölle. Als sie 15 war, verschwand ihr Vater spurlos. Er wurde später tot gefunden.

Sie atmet tief durch. Beide Male seien ihre Gebete vergeblich gewesen. „Ich weiß einfach nicht mehr, zu welchem Gott ich noch beten soll. Glaube hat mit Hoffnung zu tun, mit Wünschen – verstehst du? So etwas gibt es in meinem Leben nicht, das gibt es nur im Märchen.“

Will sie nach all dem, was passiert ist, aus Manhattan wegziehen? „Nein. Die Stadt ist Teil meiner Identität“, sagt sie trotzig und fügt hinzu: „Ich liebe meinen Job.“ All ihre Energie steckt sie derzeit in Arbeit – „meine Therapie“.

Schritt für Schritt versucht Rachel wieder, Menschen an sich heranzulassen. Sich Männern neu zu öffnen. Freundinnen konnten sie kürzlich zu einem Blind-Date überreden. Schickes Restaurant, romantisches Dinner, ein interessanter Mann. „Was für ein schöner Ring“, sagte er ahnungslos. Rachel starrte ihn an. Ließ die Gabel fallen. Rannte davon.

Sie weiß es selbst: Die Aufräumarbeiten an ihrer Seele werden noch viel länger dauern als die am Ground Zero.

ruhrpottzocker:

Börse IST Nebensache ! Nie vergessen !

 
11.09.02 13:08
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