@Rincewind & alwayslong, zurückkommend auf Eure Fragen bzw unsere Diskussion hier ein Versuch, den Themenkomplex „LV“ mal etwas nüchterner anzugehen. Wenn das hier zu wenig Wirecard-Bezug hat, dann bitte unten nicht weiter aufklappen bzw. einfach überlesen. Ich freue mich über konstruktives Feedback wie immer.
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Vorab folgendes Gedankenkonstrukt: eine Aktie steht bei 100 Euro und zwei Investoren (institutionelle oder Kleinanleger) machen eine Analyse dieser Aktie. Investor A kommt zu dem Schluss, dass die Aktie unterbewertet ist und eigentlich bei 120 Euro stehen müsste. Investor B kommt zu einem anderen Schluss, sieht die Aktie als überbewertet an und sieht einen fairen Kurs von 80 Euro. Bis hierher nichts Diskussionswürdiges nehme ich mal an.
Die Frage stellt sich jetzt: darf nur Investor A von seiner Analyse/Einschätzung profitieren oder darf auch Investor B entsprechend seiner Analyse handeln? Das kann in beiden Fällen auch ein Kleinanleger sein: Aktienpaule kauft sich die Aktie oder einen Call und der Aktienjogi ein KO-Put-Zertifikat. Auf große Investoren trifft das auch zu. Union und die DWS sind positiv gestimmt (auf Wirecard) und kaufen die Aktie, während Slate Path oder TCI von Kursrückgängen bei Wirecard ausgehen. Da letztere mit großem Volumen hantieren, ist das Mittel der Wahl nicht ein Retail-KO-Zertifikat, sondern eine WP-Leihe mit anschließendem Verkauf.
Für die meisten von Euch ist das bereits so eine Art Betrug und Manipulation und rechtfertigt Begriffe wie "Zecken", "Abschaum", "Betrüger", etc. Ich persönlich kann das nicht nachvollziehen. Wenn man das denkt, dann müsste man auch jeden Privatanleger mit dem gleichen Vorwurf konfrontieren, der sich einen Put gekauft hat (über den Delta Hedge des Emittenten hinterlässt der in der Theorie auch Spuren im Kurs).
Die Aussage, dass die etwas verkaufen, das sie nicht besitzen, trifft auch nicht zu: nach der WP-Leihe sind die LVs zwar nicht Eigentümer aber Besitzer - und können somit den "Gegenstand" verkaufen. Ich kann mir vom Nachbarn A auch eine Kiste Bier leihen, die an Nachbar B verkaufen, morgen beim Rewe ne neue kaufen und an A zurückgeben.
Sorry für den leicht philosophischen Umriss, ich wollte damit nur darlegen, dass für mich das Shorten per se nichts Verwerfliches ist. Das ist für mich die Ausführung einer Handelsmeinung – bzw. Strategie. Und vor allem nicht immer gleich "Manipulation" - das Wort lese ich hier jeden Tag Dutzende male, bin immer wieder erstaunt, wie leicht das den Leuten über die Lippen geht. Das sind für mich "normale" Marktteilnehmer nur mit einer konträren Meinung, die es schon immer gegeben hat, immer geben wird und die man einfach akzeptieren muss wenn man an der Börse (in Einzelaktien) sein Geld anlegt.
Was natürlich verwerflich ist und geahndet werden muss: wenn fragwürdige Gerüchte gestreut werden, falsche Aussagen getroffen und in der Tat Dinge manipuliert werden (sind die von der Financial Times benutzten spreadsheets nun echt oder gefälscht?). Aber das ist nicht nur auf der Short-Seite sondern auch auf der Long-Seite zu ahnden wenn zB falsche Übernahmegerüchte gestreut werden. Ein Zwischending/Grenzbereich sind die typischen "talk your position" Aussagen. Sprich: sich erst positionieren und dann auf Konferenzen oder über Twitter seine Positionen loben. Aber auch die gibt es auf beiden Seiten: Icahn/Buffet kaufen sich erst Apple Aktien und erzählen danach jedem wie toll diese Unternehmen sind. Auf der Long-Seite OK, auf der Short-Seite aber Manipulation?
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Dann kam noch die Fragen nach dem „Nutzen“. Ich würde das nicht überbewerten, aber man könnte das Folgende anführen:
- LVs sorgen für mehr Liquidität in der Aktie, damit zu geringerem bid/ask, damit kaufe ich günstiger ein
- LVs sind grundsätzlich ein Korrektiv, das Blasen frühzeitig verhindern/mildern kann (ich sehe aber auch den Punkt, dass im Falle eines massiven Short Squeezes erst eine - wenn auch kurzfristige - Blase erzeugt werden könnte)
- LVs zahlen Leihegebühren, dadurch bekomme ich meinen ETF mittlerweile ohne Kosten
- LVs (oder besser Hedge Funds) bieten mir als Anleger die Möglichkeit, durch Stock Picking eine (Über-)rendite zu erzielen ohne dem Marktrisiko ausgesetzt zu sein. Beispiel: ein LV geht BMW long und Mercedes short weil er davon ausgeht, dass der neue 5er besser läuft als die E-Klasse.
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Weitere lose Gedanken zu diesem Themenkomplex:
- Natürlich kann ich die Emotionen verstehen wenn das eigene Investment fällt und man später eine neu aufgebaute Short-Position sieht; emotional stellt man einen direkten Zusammenhang her a la "die haben mir mein Geld geklaut"
- Aber dann müsste man das auch machen wenn eine Union/Norges/long only Fonds unter 3% fällt; macht aber keiner
- Die LVs sind in den letzten Jahren stärker reglementiert worden (ungedeckte Verkäufe sind verboten, zusätzliche Meldepflichten)
- Die LVs haben unbegrenztes Verlustpotenzial (Tesla lässt grüßen) & Leihekosten und müssen eine Transparenz liefern, was bei Long-Investoren nicht der Fall ist
- Beispiel: reduziert ein 'normaler' Fonds von 9,9% auf 5%, dann kann er fast 5% am Markt verkaufen, ohne melden zu müssen; ein LV müsste im Extremfall 49 Einzelmeldungen machen
- In vielen Foren wird mittlerweile jeder Kursrückgang nur noch an LVs festgemacht; dass es auch andere Verkäufer geben kann, kommt den Leuten gar nicht mehr in den Sinn
- Bestes Beispiel: selbst als vor einem Jahr das LV Verbot gab, gab es hier im Forum täglich zig Postings, die LVs hinter den Rückgängen vermutet haben
- Diese Berechnungen a la "das Covern von 1 Mio Aktien hat den Kurs um 3% steigen lassen" ist für mich auch völliger Humbug, da man nicht weiß, wer sonst noch in der Aktie gekauft/verkauft hat und welche Volumina gehandelt wurden
- LVs taugen für mich nicht als Indikator; die liegen genauso oft gut wie sie daneben liegen und ich habe es aufgegeben, daraus Schlüsse zu ziehen
- Wenn ich investiert bin und auf einmal eine neue Short Position sehe, dann hätte ich im Prinzip drei Arten zu reagieren: a) ich stelle mir die Frage, warum die das machen und ob ich evtl etwas übersehe, b) völlig ignorieren oder c) im Forum von Betrug, Abschaum, Skandal und Manipulation zu schreiben. Ich bin bei a) und b) anzutreffen, aber meistens damit allein.
- Bei meinen Anlage-Entscheidungen ist es mir auch völlig egal, ob sich da LVs tummeln oder nicht; zu meinen größten Positionen gehören Aixtron, Wirecard, Evotec, mehr muss ich dazu nicht schreiben
- Dass ich von der Theorie des risikolosen Gewinns nichts halte bei der "Strategie 1 Mio verkaufen / 1 Mio Aktien kaufen", hatte ich schon geschrieben
- Die Annahmen, ab wann LVs covern 'müssen' sind in meinen Augen Quatsch, da keiner weiß, welche Summen die vom Gesamtinvestment eingesetzt haben und welche Strategie dahinter steckt (wenn jemand vor einem Jahr Adyen long/Wirecard short gegangen ist, dann kann WDI wahrscheinlich noch 50% steigen und die liegen immer noch nicht im Minus)
- Besonders lustig (mittlerweile auch aber nervig weil es Überhand nimmt), sind diese Situationen, in denen die Leute immer genau wissen, wann und wie die LVs gerade schmeißen. Der Dax Future kracht um 30 Punkte herunter und hier im Forum kommt ein „man konnte um 16:13 Uhr genau sehen wie die LVs eine neue Angriffswelle geschoben haben, da gingen 500er Pakte über Tradegate“; ist nicht böse gemeint, aber da sitzt dann jemand aus einer völlig anderen Branche in Bottrop vor dem Bildschirm und meint zu wissen, dass das a) ein Angriff, b) eines LVs und nicht eines anderen Investors ist und c) er meint das aus der Ordergröße über Tradegate erkennen zu können? Ich traue mir das nicht zu. Ich weiß nicht, wie man solche Aussagen psychologisch einordnen müsste: geht es darum sich selbst oder anderen beweisen zu müssen, dass man die Situation und die LVs durchschaut hat und man daher nicht veräppelt werden kann?
- Das Finale: fast jeder geht vom Short Squeeze des Jahrzehnts aus a la Volkswagen...dass das eine völlig andere Situation war, wird übersehen
So, wer bis hier noch nicht eingeschlafen ist: das obige Pamphlet ist mein Blick auf den Themenkomplex, den ich mir in den letzten beiden Jahrzehnten angelesen habe, über Youtube-Videos 'gelernt' habe, von IR Abteilungen zu hören bekommen habe, auch via Bloomberg TV, Seeking Alpha, ihor, etc. Wenn aber jemand hier näher an der Materie dran ist als ich, mit Interna dienen kann oder bessere Einblicke hat, dann bitte mich korrigieren. Das gleiche gilt natürlich für alle anderen auch. Wie oben geschrieben, über konstruktives Feedback bin ich dankbar und freue mich über gegenteilige Ansichten.