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Zitat:
Schulden für alle
von Frédéric Lordon
Man musste schon eine kindlich reine Seele haben oder an Wunder glauben, um die eiserne Haltung der US-amerikanischen Akteure in Wirtschaft und Politik gegenüber der sich abzeichnenden Pleite von Lehman Brothers ernst zu nehmen. Tatsächlich schlug die heroische Pose dann binnen zweier Tage in Verzweiflung um. Die Weigerung, die Investmentbank zu retten, blieb jedoch eine äußerst gewagte und letztlich nutzlose Demonstration.
Allerdings kann man angesichts der Entwicklung leicht die Übersicht verlieren. Die immer raschere Folge der Bankenpleiten lässt jede als den endgültigen Höhepunkt der Krise erscheinen – bis die nächste noch dramatischer und spektakulärer ausfällt. Kein Wunder also, wenn verzweifelte Regulierungsbehörden in immer tiefere Verwirrung gestürzt werden.
Eine Notoperation jagt die andere: am 16. März die Bear Stearns Bank; am 12. Juli die Hypothekenbanken Fannie Mae und Freddie Mac; am 6. September der zweite Akt desselben Dramas (siehe Artikel auf S. 20) und dann noch innerhalb desselben Monats: Lehman Brothers und Merrill Lynch, der Versicherungskonzern American International Group (AIG), die Banken Washington Mutual und Wachovia. Die zuständige Doppelspitze aus Zentralbank (Fed) und Finanzministerium glaubte jedes Mal, den tollsten Job gemacht zu haben – um alsbald zu erleben, dass der ganze Schlamassel von vorne losgeht.
Man muss dem Fed-Chef und dem Finanzminister zugestehen, dass sie bei ihrem Versuch, den Zusammenbruch des US-Finanzsystems zu verhindern, einige erstaunliche – wenn auch vergebliche – Teilerfolge erzielt haben. Deren Kosten bemessen sich allerdings nicht nur in finanziellen Dimensionen. Denn weder Ben Bernanke noch Henry Paulson, früher Chef von Goldman Sachs – die reinste Inkarnation des reinen Kapitalismus – und heute Finanzminister einer stockkonservativen Regierung, hätten je gedacht, dass sie sich jedes Mal, wenn sie genötigt sind, eine Rettungsaktion in der kapitalistischen (privatwirtschaftlichen) Finanzwelt zu rechtfertigen, als „Sozialisten“ beschimpfen lassen müssen.
Moralische Empörung ist verständlich, aber hinderlich
Als Bernanke und Paulson in der zweiten Septemberwoche nach der Megarettungsaktion für Fannie und Freddie beschlossen, im Fall Lehman Brothers mit dem Daumen nach unten zu zeigen, taten sie dies gewiss auch, um der üblen Nachrede „Sozialist“ entgegenzutreten. Schließlich signalisierten sie damit der privatwirtschaftlichen Finanzwelt, dass diese die nächste Phase der Krise ohne staatliche Hilfe durchstehen müsse.
Jenseits solcher Empfindlichkeiten ist die Haltung des Tandems Bernanke/Paulson durchaus verständlich. Als Fed-Chef und Finanzminister fragen sie sich zu Recht, was aus den durch ihre Interventionen geschaffenen Präzedenzfällen folgt – und ob die Privatbanken in dem Wissen, dass man ihnen im letzten Augenblick doch aus der Patsche hilft, einer Insolvenz nicht ziemlich gelassen entgegensehen können.
Genau so ist es ja auch bei Bear Stearns und „Fannie-Freddie“ gelaufen. Die moralische Empörung ist verständlich: Dasselbe arrogante Finanzkapital, das sich unbehelligt und unbegrenzt bereichern kann, solang die Geschäfte gut laufen, flüchtet sich in der Krise schleunigst unter die Rockschöße von Vater Staat, fleht ausgerechnet ihn, den es sonst gern als sowjetähnliche Missgeburt betrachtet, um Schutz an und bettelt – nur ausnahmsweise versteht sich – um Rettungsmaßnahmen.
Allerdings ist die moralische Empörung der Öffentlichkeit auch das größte Hindernis, das einer nüchternen Analyse im Wege steht. Das heißt keineswegs, dass sie nicht berechtigt wäre. Im Gegenteil: Sie ist eine große politische Ressource, die man später möglichst effektiv nutzen sollte.
Aber wirklich erst in einem späteren Stadium (und ohne sich davon allzu viel zu versprechen) und nachdem man über das, was auf dem Spiel steht, analytische Klarheit gewonnen hat. Zu fragen ist also zunächst nach dem systemischen Risiko, das vor allem aus der Dichte der zwischen den Banken eingegangenen Verpflichtungen herrührt. Diese enge Verflechtung erhöht die Gefahr, dass die Insolvenz eines einzigen Akteurs immer neue Schockwellen aussendet und damit eine Kettenreaktion weiterer Konkurse auslöst.
Damit es auch die womöglich schwerhörigen Ultraliberalen verstehen, sei dies hier genauer erläutert: Das „Systemische“ an dem „systemischen Risiko“ besteht darin, dass es um das ganze „System“ geht, also um die Gesamtheit der privatwirtschaftlichen Finanzinstitute, die potenziell von einem globalen Zusammenbruch betroffen sind. Um es noch deutlicher zu sagen: Wenn das finanzielle und damit das ganze Kredit-„System“ erst einmal in Trümmern liegt, können keinerlei ökonomische Aktivitäten mehr stattfinden, die auf den Einsatz von Geld angewiesen sind. Null Aktivitäten. Genügt das, um die Folgen einer weltweiten Finanzkrise erahnen zu lassen?
So schmerzhaft die Feststellung auch sein mag: Wenn einmal eine Finanzblase geplatzt und das systemische Risiko eingetreten ist, verliert die betreffende Zentralbank praktisch jeden Spielraum für ein Eingreifen. Das ist quasi eine Geiselnahme. Sie besteht darin, dass die privaten Finanzunternehmen die Macht haben, ihr Schicksal zwar nicht auf Gedeih, aber auf Verderb mit der gesamten Wirtschaft zu verbinden und folglich die staatlichen Eingriffe zu ihrer Rettung zu erzwingen.
Diese Geiselnahme wird, wenn man sich erst im Auge des Orkans befindet, praktisch unvermeidlich. Deshalb kann eine wirksame Reregulierung im Finanzsektor nur das strategische Ziel verfolgen, schon das Entstehen von Spekulationsblasen zu verhindern. Hinterher ist es zu spät. Das systemische Risiko lässt sich nur bekämpfen, indem man es beseitigt. Sobald es wieder entsteht und seine Eigendynamik entfaltet, ist das Spiel verloren.
Nun legt zwar die US-Zentralbank keinen ernsthaften Willen an den Tag, das Übel an der Wurzel zu packen. Doch immerhin ist ihr bewusst, wie fremdbestimmt die Rolle ist, die sie in der Krise gegenüber der privaten Finanzindustrie zu spielen hat. Wobei deren politische Macht paradoxerweise in dem Maße zunimmt, wie ihre ökonomische Potenz schwindet. Um zu verhindern, dass die Finanzindustrie eine endgültige Katastrophe auslöst, nimmt es die Politik schweren Herzens auf sich, die einsturzgefährdeten Banken zu stützen.
Im März 2008 drohte das Bankhaus Bear Stearns damit, vereinbarte Transaktionen mit Kreditderivaten1 in Höhe von 13 400 Milliarden Dollar nicht mehr abzuwickeln. Diese Summe ist das Zehnfache der Außenstände des Hedgefonds LTCM, dessen Insolvenz im Jahre 1998 den US-Finanzsektor fast in die Knie gezwungen hätte.
Im Juli 2008 drohte den beiden großen Hypothekenkreditinstituten Fannie Mae und Freddie Mac das Aus, weil sie Schulden in Höhe von 1 500 Milliarden Dollar hatten. Die Schuldtitel von „Freddie und Fannie“ befanden sich im Besitz etlicher Finanzkolosse: Pensionsfonds, Rentenkassen, Versicherungsfonds, normaler öffentlicher Sparkassen – und sogar ausländischer Zentralbanken. Welche katastrophalen Folgen diese Pleite für das gesamte US-amerikanische Finanzsystem gehabt hätte, liegt auf der Hand.
Dem Finanzminister Henry Paulson musste man nicht lang sagen, was zu tun war: Am 12. Juli 2008 mobilisierte er für die angeschlagenen Institute 25 Milliarden Dollar an staatlichen Mitteln, damit sie ihre Kreditlinie ausweiten und mit einer Neufinanzierung starten konnten. Am 6. September stellte sich dann heraus, dass das Ganze doch etwas mehr kosten würde, so in Richtung 200 Milliarden. Pech für den amerikanischen Steuerzahler, die 200 Milliarden würde er wohl leider zuschießen müssen. „I didn’t want to have to do that“, bekannte Paulson immerhin, offenbar erschrocken über seine eigene Metamorphose zum Sozialisten. Aber getan hat er es doch. Und die Wahrheit ist: Er hatte keine andere Wahl.
Weil Lehman Brothers damit verglichen ein kleiner Brocken ist, ergab sich hier für das Tandem Fed/Finanzministerium die Gelegenheit, wenigstens einmal zu demonstrieren, dass es auch anders geht. Da sie die Chance unter keinen Umständen verpassen wollten, ließen sie Lehman für die anderen büßen – mit der ganzen Wut im Bauch, die sie stets heruntergeschluckt hatten, wenn die Finanzmanager in den vorausgegangenen Fällen die Fed und die Politik in den Schwitzkasten genommen hatten.
Ausgelagert in die schlechte Bank
Obwohl der Fall Lehman den beiden Finanzhütern gerade recht kam, um ihren aufgestauten Ärger los zu werden, mussten sie sich die Modalitäten ihrer „Sterbehilfe“ gut überlegen. Am wichtigsten war die Frage, ob ein Bankrott bei der Größe und den Risikostrukturen der Banken, mit denen Lehman Geschäfte machte, ein systemisches Risiko implizieren.
Was die Risiken aus Derivategeschäften betrifft, war Lehman zwar deutlich weniger exponiert als die Bear Stearns Bank2 , die man noch herausgepaukt hatte. Nach seinen finanziellen Dimensionen ist der Fall Lehman jedoch der größte Bankrott in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Die 613 Milliarden Dollar Schulden, die die Bank hinterlässt, stellen die Zahlen des bisherigen Rekordhalters Worldcom (41 Milliarden Dollar Schulden)3 weit in den Schatten. Natürlich ist der effektive Schaden geringer, weil Lehman noch über Aktiva verfügt, die mit der Liquidation der Bank gerade zu Geld gemacht werden sollen. Aber wer weiß, was diese Aktiva in Wirklichkeit wert sind?
Genau das ist die entscheidende Frage. Es geht um mindestens 85 Milliarden Dollar an wertlosen Papieren (davon betreffen 50 Milliarden die berüchtigten Subprime-Derivate), die nach dem ursprünglichen, aber am Ende gescheiterten Restrukturierungsplan in eine „bad bank“ ausgelagert werden sollten. Ihr Wert lag zu dem Zeitpunkt bei 80 Milliarden Dollar, aber natürlich ist zweifelhaft, ob der bei einem Liquidationsverkauf realisiert worden wäre, selbst angesichts der Risiken eines weiteren Wertverlustes wenn die US-Behörden eine geordnete, das heißt zeitlich über mehrere Monate gestreckte Liquidation geplant hatten.
Es half alles nichts: Die Wertverluste werden drastisch ausfallen, und das Problem ist nicht auf den Fall Lehman beschränkt. Denn die Bewertungsregel für offene Handelspositionen nach dem Mark-to-Market-Prinzip (also zu aktuellen Marktpreisen) wird alle anderen Finanzakteure zwingen, ihrerseits dieselben Aktiva zu den Ramschpreisen der „Marke Lehman“ zu bewerten. Und auch deren Bilanzen sind mit solchen Titeln vollgestopft – was logischerweise weitere Wertminderungen nach sich zieht.
Zu diesem Ansteckungsrisiko bei den Wertberichtigungen kommen weitere Risiken hinzu. Da ist zum einen das Entschädigungsrisiko, das daher rührt, dass die vielen Transaktionsverpflichtungen, die Lehman eingegangen ist, nun nicht realisiert werden können. Zum Zweiten gibt es das Risiko bei der Aktivierung der CDS (Credit Default Swaps), jener abgeleiteten Finanzprodukte, die ihre Käufer gegen den Wertverlust ihrer Schuldtitel absichern. Wo es Versicherte gibt, müssen am anderen Ende der Vertragsbeziehung natürlich Versicherer stehen. Und der Konkurs von Lehman hat unweigerlich die Inanspruchnahme von CDS-Verträgen zur Folge, die zum Schutz gegen die Verschuldung von Lehman abgeschlossen wurden. Die zu zahlenden Entschädigungen dürften happig ausfallen.
Das nun ist sehr ärgerlich, denn nach aller Erfahrung machen sich die Versicherungsregeln der CDS auf dem Papier ganz gut, sind tatsächlich jedoch eher windige Konstruktionen. Ihr Markt ist zudem extrem anfällig und lässt gewaltige Erschütterungen befürchten, sobald er durch einen großen Konkurs urplötzlich unter Druck gerät. Unglücklicherweise war zum Zeitpunkt der Lehman-Pleite die Verstaatlichung von „Fannie-Freddie“ noch kaum verdaut, und viele Beobachter sahen schon in dieser Übernahme eine große Gefahr für den Markt der Kreditausfallversicherungen.
Es war sicher dieses ganze Bündel von Risiken, das die Doppelspitze Fed/Finanzminister“ dazu brachte, die Lehman Brothers nicht mehr zu retten und stattdessen die maßgeblichen Banker der Wall Street davon zu überzeugen, dass sie sich wohl selbst um den Insolvenzfall würden kümmern müssen, jedenfalls so weit es in ihrem wohlverstandenen Interesse ist. Vergeblich: Am Ende jenes stürmischen Wochenendes hatte der private Bankensektor keinen einzigen Rettungsplan zustande gebracht.
Warum nicht? Weil sich hinter der abstrakten „Wall Street“ eine Fülle partikularer und teils unterschiedlicher Interessen verbirgt. Der von der Doppelspitze ausgeheckte Restrukturierungsplan, dessen Scheitern Lehman in die Insolvenz entließ, sah zunächst vor, Lehman aufzuteilen und eine gesunde – sprich: solvente – Bank von der britischen Barclays und der Bank of America übernehmen zu lassen und für die marode Bank eine lokale Finanzierung durch die Wall-Street-Institute zu organisieren.
Aber genau die dortigen Platzhirsche, und zumal die, denen das Geld für den Rückkauf des „Tafelsilbers“ fehlt, waren natürlich nicht geneigt, die Wertverluste der „schlechten Bank“ mitzutragen. Sie wollten oder konnten nicht hinnehmen, dass sie für einen hohen Preis die nützlichen Helfer spielen und dann zwei Glückskindern (Barclays und Bank of America) erlauben sollten, sich mit den Kronjuwelen davonzustehlen und den anderen die Aufräumarbeiten in den Finanzruinen zu überlassen.
In Wahrheit war dieses Wochenende vom 12. bis 14. September 2008 eine einzige gigantische Pokerpartie. Die Spieler waren das Duo Paulson/Bernanke, das eine eiserne Unnachgiebigkeit zur Schau tragen musste, und die Vertreter der Wall Street, die deren Haltung zunächst, wenn auch fälschlicherweise, als Strategie deuteten, die den Privatbanken ein größeres finanzielles Engagement abtrotzen soll.
Wahnwitz der Finanzwelt
Kompliziert wurde das Spiel durch die Differenzen zwischen den beiden Lagern bei den Privatbanken: den opportunistischen Restrukturierungsgehilfen und den Zwangsfinanzierern. Die zweite Gruppe kam der ersten nur murrend entgegen und ließ klar erkennen, dass ihr eigenes Interesse nicht gerade dem Überleben der Lehman Bank galt. Unter diesen Umständen erwies sich die Koordination der Rettungsaktion für Lehman Brothers als unmöglich.
Damit schien der Beweis erbracht: Das Spitzenduo Fed/Finanzministerium log doch nicht! Es hatte tatsächlich auf „laissez faire“ gesetzt und den Bankrott zugelassen. Also war es nicht mehr „sozialistisch“. Diese Einschätzung galt freilich nur für zwei Tage, was das Duo zu dem Zeitpunkt allerdings noch nicht wusste. Dennoch wollten Bernanke und Paulson liebend gern an ihr neues, altes Image glauben. Und eine Woche lang wurden sie dazu von all ihren Bewunderern (die sich zwischenzeitlich über ihre merkwürdigen Anwandlungen leicht irritiert zeigten) aufs Schärfste ermutigt. Mit besonderer Genugtuung kommentierte die Financial Times: „Für die Staatsaufsicht ist es nun Zeit, sich wieder zurückzuziehen. Was sie bis heute unternommen hat, müsste ausreichen.“4
Über die Frage, was ausreichend ist, befindet allerdings nicht die Financial Times, sondern die ökonomische Wirklichkeit. Im Fall der Lehman-Bank waren – wie so häufig – die tatsächlichen Risiken noch nicht zutage getreten. Und so hatte auch die Fed, als sie noch glaubte, ihren „sozialistischen“ Weg wieder verlassen zu können, ihren Krisenpoker noch längst nicht gewonnen. Denn hinter der Nebelwand des Lehman-Konkurses brauten sich schon neue Gefahren zusammen, die das Krisenmanagement des Tandems auf den Ausgangspunkt zurückwarfen.
Nach dem vermeintlichen Ende der Krise ließ die erste Reprise keine zwei Tage auf sich warten. Und was für eine Reprise. Der drohende Konkurs der Versicherungsgruppe AIG (American International Group) ist ein wahres Schulbeispiel, das den Wahnwitz der zeitgenössischen Finanzwelt in seiner Reinform vor Augen führt. Weil das normale Versicherungsgeschäft allzu glanzlos erschien, schufen die Herren an der Spitze von AIG einen neuen Geschäftszweig „Finanzprodukte“.
Zitatende
MfG.L;)
Zitat:
Schulden für alle
von Frédéric Lordon
Man musste schon eine kindlich reine Seele haben oder an Wunder glauben, um die eiserne Haltung der US-amerikanischen Akteure in Wirtschaft und Politik gegenüber der sich abzeichnenden Pleite von Lehman Brothers ernst zu nehmen. Tatsächlich schlug die heroische Pose dann binnen zweier Tage in Verzweiflung um. Die Weigerung, die Investmentbank zu retten, blieb jedoch eine äußerst gewagte und letztlich nutzlose Demonstration.
Allerdings kann man angesichts der Entwicklung leicht die Übersicht verlieren. Die immer raschere Folge der Bankenpleiten lässt jede als den endgültigen Höhepunkt der Krise erscheinen – bis die nächste noch dramatischer und spektakulärer ausfällt. Kein Wunder also, wenn verzweifelte Regulierungsbehörden in immer tiefere Verwirrung gestürzt werden.
Eine Notoperation jagt die andere: am 16. März die Bear Stearns Bank; am 12. Juli die Hypothekenbanken Fannie Mae und Freddie Mac; am 6. September der zweite Akt desselben Dramas (siehe Artikel auf S. 20) und dann noch innerhalb desselben Monats: Lehman Brothers und Merrill Lynch, der Versicherungskonzern American International Group (AIG), die Banken Washington Mutual und Wachovia. Die zuständige Doppelspitze aus Zentralbank (Fed) und Finanzministerium glaubte jedes Mal, den tollsten Job gemacht zu haben – um alsbald zu erleben, dass der ganze Schlamassel von vorne losgeht.
Man muss dem Fed-Chef und dem Finanzminister zugestehen, dass sie bei ihrem Versuch, den Zusammenbruch des US-Finanzsystems zu verhindern, einige erstaunliche – wenn auch vergebliche – Teilerfolge erzielt haben. Deren Kosten bemessen sich allerdings nicht nur in finanziellen Dimensionen. Denn weder Ben Bernanke noch Henry Paulson, früher Chef von Goldman Sachs – die reinste Inkarnation des reinen Kapitalismus – und heute Finanzminister einer stockkonservativen Regierung, hätten je gedacht, dass sie sich jedes Mal, wenn sie genötigt sind, eine Rettungsaktion in der kapitalistischen (privatwirtschaftlichen) Finanzwelt zu rechtfertigen, als „Sozialisten“ beschimpfen lassen müssen.
Moralische Empörung ist verständlich, aber hinderlich
Als Bernanke und Paulson in der zweiten Septemberwoche nach der Megarettungsaktion für Fannie und Freddie beschlossen, im Fall Lehman Brothers mit dem Daumen nach unten zu zeigen, taten sie dies gewiss auch, um der üblen Nachrede „Sozialist“ entgegenzutreten. Schließlich signalisierten sie damit der privatwirtschaftlichen Finanzwelt, dass diese die nächste Phase der Krise ohne staatliche Hilfe durchstehen müsse.
Jenseits solcher Empfindlichkeiten ist die Haltung des Tandems Bernanke/Paulson durchaus verständlich. Als Fed-Chef und Finanzminister fragen sie sich zu Recht, was aus den durch ihre Interventionen geschaffenen Präzedenzfällen folgt – und ob die Privatbanken in dem Wissen, dass man ihnen im letzten Augenblick doch aus der Patsche hilft, einer Insolvenz nicht ziemlich gelassen entgegensehen können.
Genau so ist es ja auch bei Bear Stearns und „Fannie-Freddie“ gelaufen. Die moralische Empörung ist verständlich: Dasselbe arrogante Finanzkapital, das sich unbehelligt und unbegrenzt bereichern kann, solang die Geschäfte gut laufen, flüchtet sich in der Krise schleunigst unter die Rockschöße von Vater Staat, fleht ausgerechnet ihn, den es sonst gern als sowjetähnliche Missgeburt betrachtet, um Schutz an und bettelt – nur ausnahmsweise versteht sich – um Rettungsmaßnahmen.
Allerdings ist die moralische Empörung der Öffentlichkeit auch das größte Hindernis, das einer nüchternen Analyse im Wege steht. Das heißt keineswegs, dass sie nicht berechtigt wäre. Im Gegenteil: Sie ist eine große politische Ressource, die man später möglichst effektiv nutzen sollte.
Aber wirklich erst in einem späteren Stadium (und ohne sich davon allzu viel zu versprechen) und nachdem man über das, was auf dem Spiel steht, analytische Klarheit gewonnen hat. Zu fragen ist also zunächst nach dem systemischen Risiko, das vor allem aus der Dichte der zwischen den Banken eingegangenen Verpflichtungen herrührt. Diese enge Verflechtung erhöht die Gefahr, dass die Insolvenz eines einzigen Akteurs immer neue Schockwellen aussendet und damit eine Kettenreaktion weiterer Konkurse auslöst.
Damit es auch die womöglich schwerhörigen Ultraliberalen verstehen, sei dies hier genauer erläutert: Das „Systemische“ an dem „systemischen Risiko“ besteht darin, dass es um das ganze „System“ geht, also um die Gesamtheit der privatwirtschaftlichen Finanzinstitute, die potenziell von einem globalen Zusammenbruch betroffen sind. Um es noch deutlicher zu sagen: Wenn das finanzielle und damit das ganze Kredit-„System“ erst einmal in Trümmern liegt, können keinerlei ökonomische Aktivitäten mehr stattfinden, die auf den Einsatz von Geld angewiesen sind. Null Aktivitäten. Genügt das, um die Folgen einer weltweiten Finanzkrise erahnen zu lassen?
So schmerzhaft die Feststellung auch sein mag: Wenn einmal eine Finanzblase geplatzt und das systemische Risiko eingetreten ist, verliert die betreffende Zentralbank praktisch jeden Spielraum für ein Eingreifen. Das ist quasi eine Geiselnahme. Sie besteht darin, dass die privaten Finanzunternehmen die Macht haben, ihr Schicksal zwar nicht auf Gedeih, aber auf Verderb mit der gesamten Wirtschaft zu verbinden und folglich die staatlichen Eingriffe zu ihrer Rettung zu erzwingen.
Diese Geiselnahme wird, wenn man sich erst im Auge des Orkans befindet, praktisch unvermeidlich. Deshalb kann eine wirksame Reregulierung im Finanzsektor nur das strategische Ziel verfolgen, schon das Entstehen von Spekulationsblasen zu verhindern. Hinterher ist es zu spät. Das systemische Risiko lässt sich nur bekämpfen, indem man es beseitigt. Sobald es wieder entsteht und seine Eigendynamik entfaltet, ist das Spiel verloren.
Nun legt zwar die US-Zentralbank keinen ernsthaften Willen an den Tag, das Übel an der Wurzel zu packen. Doch immerhin ist ihr bewusst, wie fremdbestimmt die Rolle ist, die sie in der Krise gegenüber der privaten Finanzindustrie zu spielen hat. Wobei deren politische Macht paradoxerweise in dem Maße zunimmt, wie ihre ökonomische Potenz schwindet. Um zu verhindern, dass die Finanzindustrie eine endgültige Katastrophe auslöst, nimmt es die Politik schweren Herzens auf sich, die einsturzgefährdeten Banken zu stützen.
Im März 2008 drohte das Bankhaus Bear Stearns damit, vereinbarte Transaktionen mit Kreditderivaten1 in Höhe von 13 400 Milliarden Dollar nicht mehr abzuwickeln. Diese Summe ist das Zehnfache der Außenstände des Hedgefonds LTCM, dessen Insolvenz im Jahre 1998 den US-Finanzsektor fast in die Knie gezwungen hätte.
Im Juli 2008 drohte den beiden großen Hypothekenkreditinstituten Fannie Mae und Freddie Mac das Aus, weil sie Schulden in Höhe von 1 500 Milliarden Dollar hatten. Die Schuldtitel von „Freddie und Fannie“ befanden sich im Besitz etlicher Finanzkolosse: Pensionsfonds, Rentenkassen, Versicherungsfonds, normaler öffentlicher Sparkassen – und sogar ausländischer Zentralbanken. Welche katastrophalen Folgen diese Pleite für das gesamte US-amerikanische Finanzsystem gehabt hätte, liegt auf der Hand.
Dem Finanzminister Henry Paulson musste man nicht lang sagen, was zu tun war: Am 12. Juli 2008 mobilisierte er für die angeschlagenen Institute 25 Milliarden Dollar an staatlichen Mitteln, damit sie ihre Kreditlinie ausweiten und mit einer Neufinanzierung starten konnten. Am 6. September stellte sich dann heraus, dass das Ganze doch etwas mehr kosten würde, so in Richtung 200 Milliarden. Pech für den amerikanischen Steuerzahler, die 200 Milliarden würde er wohl leider zuschießen müssen. „I didn’t want to have to do that“, bekannte Paulson immerhin, offenbar erschrocken über seine eigene Metamorphose zum Sozialisten. Aber getan hat er es doch. Und die Wahrheit ist: Er hatte keine andere Wahl.
Weil Lehman Brothers damit verglichen ein kleiner Brocken ist, ergab sich hier für das Tandem Fed/Finanzministerium die Gelegenheit, wenigstens einmal zu demonstrieren, dass es auch anders geht. Da sie die Chance unter keinen Umständen verpassen wollten, ließen sie Lehman für die anderen büßen – mit der ganzen Wut im Bauch, die sie stets heruntergeschluckt hatten, wenn die Finanzmanager in den vorausgegangenen Fällen die Fed und die Politik in den Schwitzkasten genommen hatten.
Ausgelagert in die schlechte Bank
Obwohl der Fall Lehman den beiden Finanzhütern gerade recht kam, um ihren aufgestauten Ärger los zu werden, mussten sie sich die Modalitäten ihrer „Sterbehilfe“ gut überlegen. Am wichtigsten war die Frage, ob ein Bankrott bei der Größe und den Risikostrukturen der Banken, mit denen Lehman Geschäfte machte, ein systemisches Risiko implizieren.
Was die Risiken aus Derivategeschäften betrifft, war Lehman zwar deutlich weniger exponiert als die Bear Stearns Bank2 , die man noch herausgepaukt hatte. Nach seinen finanziellen Dimensionen ist der Fall Lehman jedoch der größte Bankrott in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Die 613 Milliarden Dollar Schulden, die die Bank hinterlässt, stellen die Zahlen des bisherigen Rekordhalters Worldcom (41 Milliarden Dollar Schulden)3 weit in den Schatten. Natürlich ist der effektive Schaden geringer, weil Lehman noch über Aktiva verfügt, die mit der Liquidation der Bank gerade zu Geld gemacht werden sollen. Aber wer weiß, was diese Aktiva in Wirklichkeit wert sind?
Genau das ist die entscheidende Frage. Es geht um mindestens 85 Milliarden Dollar an wertlosen Papieren (davon betreffen 50 Milliarden die berüchtigten Subprime-Derivate), die nach dem ursprünglichen, aber am Ende gescheiterten Restrukturierungsplan in eine „bad bank“ ausgelagert werden sollten. Ihr Wert lag zu dem Zeitpunkt bei 80 Milliarden Dollar, aber natürlich ist zweifelhaft, ob der bei einem Liquidationsverkauf realisiert worden wäre, selbst angesichts der Risiken eines weiteren Wertverlustes wenn die US-Behörden eine geordnete, das heißt zeitlich über mehrere Monate gestreckte Liquidation geplant hatten.
Es half alles nichts: Die Wertverluste werden drastisch ausfallen, und das Problem ist nicht auf den Fall Lehman beschränkt. Denn die Bewertungsregel für offene Handelspositionen nach dem Mark-to-Market-Prinzip (also zu aktuellen Marktpreisen) wird alle anderen Finanzakteure zwingen, ihrerseits dieselben Aktiva zu den Ramschpreisen der „Marke Lehman“ zu bewerten. Und auch deren Bilanzen sind mit solchen Titeln vollgestopft – was logischerweise weitere Wertminderungen nach sich zieht.
Zu diesem Ansteckungsrisiko bei den Wertberichtigungen kommen weitere Risiken hinzu. Da ist zum einen das Entschädigungsrisiko, das daher rührt, dass die vielen Transaktionsverpflichtungen, die Lehman eingegangen ist, nun nicht realisiert werden können. Zum Zweiten gibt es das Risiko bei der Aktivierung der CDS (Credit Default Swaps), jener abgeleiteten Finanzprodukte, die ihre Käufer gegen den Wertverlust ihrer Schuldtitel absichern. Wo es Versicherte gibt, müssen am anderen Ende der Vertragsbeziehung natürlich Versicherer stehen. Und der Konkurs von Lehman hat unweigerlich die Inanspruchnahme von CDS-Verträgen zur Folge, die zum Schutz gegen die Verschuldung von Lehman abgeschlossen wurden. Die zu zahlenden Entschädigungen dürften happig ausfallen.
Das nun ist sehr ärgerlich, denn nach aller Erfahrung machen sich die Versicherungsregeln der CDS auf dem Papier ganz gut, sind tatsächlich jedoch eher windige Konstruktionen. Ihr Markt ist zudem extrem anfällig und lässt gewaltige Erschütterungen befürchten, sobald er durch einen großen Konkurs urplötzlich unter Druck gerät. Unglücklicherweise war zum Zeitpunkt der Lehman-Pleite die Verstaatlichung von „Fannie-Freddie“ noch kaum verdaut, und viele Beobachter sahen schon in dieser Übernahme eine große Gefahr für den Markt der Kreditausfallversicherungen.
Es war sicher dieses ganze Bündel von Risiken, das die Doppelspitze Fed/Finanzminister“ dazu brachte, die Lehman Brothers nicht mehr zu retten und stattdessen die maßgeblichen Banker der Wall Street davon zu überzeugen, dass sie sich wohl selbst um den Insolvenzfall würden kümmern müssen, jedenfalls so weit es in ihrem wohlverstandenen Interesse ist. Vergeblich: Am Ende jenes stürmischen Wochenendes hatte der private Bankensektor keinen einzigen Rettungsplan zustande gebracht.
Warum nicht? Weil sich hinter der abstrakten „Wall Street“ eine Fülle partikularer und teils unterschiedlicher Interessen verbirgt. Der von der Doppelspitze ausgeheckte Restrukturierungsplan, dessen Scheitern Lehman in die Insolvenz entließ, sah zunächst vor, Lehman aufzuteilen und eine gesunde – sprich: solvente – Bank von der britischen Barclays und der Bank of America übernehmen zu lassen und für die marode Bank eine lokale Finanzierung durch die Wall-Street-Institute zu organisieren.
Aber genau die dortigen Platzhirsche, und zumal die, denen das Geld für den Rückkauf des „Tafelsilbers“ fehlt, waren natürlich nicht geneigt, die Wertverluste der „schlechten Bank“ mitzutragen. Sie wollten oder konnten nicht hinnehmen, dass sie für einen hohen Preis die nützlichen Helfer spielen und dann zwei Glückskindern (Barclays und Bank of America) erlauben sollten, sich mit den Kronjuwelen davonzustehlen und den anderen die Aufräumarbeiten in den Finanzruinen zu überlassen.
In Wahrheit war dieses Wochenende vom 12. bis 14. September 2008 eine einzige gigantische Pokerpartie. Die Spieler waren das Duo Paulson/Bernanke, das eine eiserne Unnachgiebigkeit zur Schau tragen musste, und die Vertreter der Wall Street, die deren Haltung zunächst, wenn auch fälschlicherweise, als Strategie deuteten, die den Privatbanken ein größeres finanzielles Engagement abtrotzen soll.
Wahnwitz der Finanzwelt
Kompliziert wurde das Spiel durch die Differenzen zwischen den beiden Lagern bei den Privatbanken: den opportunistischen Restrukturierungsgehilfen und den Zwangsfinanzierern. Die zweite Gruppe kam der ersten nur murrend entgegen und ließ klar erkennen, dass ihr eigenes Interesse nicht gerade dem Überleben der Lehman Bank galt. Unter diesen Umständen erwies sich die Koordination der Rettungsaktion für Lehman Brothers als unmöglich.
Damit schien der Beweis erbracht: Das Spitzenduo Fed/Finanzministerium log doch nicht! Es hatte tatsächlich auf „laissez faire“ gesetzt und den Bankrott zugelassen. Also war es nicht mehr „sozialistisch“. Diese Einschätzung galt freilich nur für zwei Tage, was das Duo zu dem Zeitpunkt allerdings noch nicht wusste. Dennoch wollten Bernanke und Paulson liebend gern an ihr neues, altes Image glauben. Und eine Woche lang wurden sie dazu von all ihren Bewunderern (die sich zwischenzeitlich über ihre merkwürdigen Anwandlungen leicht irritiert zeigten) aufs Schärfste ermutigt. Mit besonderer Genugtuung kommentierte die Financial Times: „Für die Staatsaufsicht ist es nun Zeit, sich wieder zurückzuziehen. Was sie bis heute unternommen hat, müsste ausreichen.“4
Über die Frage, was ausreichend ist, befindet allerdings nicht die Financial Times, sondern die ökonomische Wirklichkeit. Im Fall der Lehman-Bank waren – wie so häufig – die tatsächlichen Risiken noch nicht zutage getreten. Und so hatte auch die Fed, als sie noch glaubte, ihren „sozialistischen“ Weg wieder verlassen zu können, ihren Krisenpoker noch längst nicht gewonnen. Denn hinter der Nebelwand des Lehman-Konkurses brauten sich schon neue Gefahren zusammen, die das Krisenmanagement des Tandems auf den Ausgangspunkt zurückwarfen.
Nach dem vermeintlichen Ende der Krise ließ die erste Reprise keine zwei Tage auf sich warten. Und was für eine Reprise. Der drohende Konkurs der Versicherungsgruppe AIG (American International Group) ist ein wahres Schulbeispiel, das den Wahnwitz der zeitgenössischen Finanzwelt in seiner Reinform vor Augen führt. Weil das normale Versicherungsgeschäft allzu glanzlos erschien, schufen die Herren an der Spitze von AIG einen neuen Geschäftszweig „Finanzprodukte“.
Zitatende
MfG.L;)
Alles nur meine pers. Meinung, kein Kauf- oder Verkaufs-Empfehlung!
Alles nur meine pers. Meinung, kein Kauf- oder Verkaufs-Empfehlung!