Internetsucht
Die Diagnose "Internet-Abhängigkeit" ist unter Wissenschaftlern umstritten. Das Krankheitsbild ist noch zu wenig erforscht. Man spricht lieber von "Internet-Abhängigkeit", anstelle der englischen "Internet Addiction Disorder (IAD)". Im Deutschen variiert die Bezeichnung und man spricht auch von Internetsucht, Onlinesucht, Pathologischem Internetgebrauch (was die wissenschaftlich korrekteste Bezeichnung ist), im Englischen findet man auch den Begriff "pathological internet use".
Ivan Goldberg, der Erfinder des englischen Begriffs, hatte ihn zunächst als Scherz gemeint. Doch rasch meldeten sich ernsthaft Betroffene, und die ersten Cyberpsychologen-Praxen schossen aus dem Boden. Kimberly Young schrieb das Fachbuch "Caught in the Net" (Gefangen im Netz) und gründete in Pittsburgh das Center for Online Addiction - bis heute die erste Anlaufadresse für alle, die sich über den Stand der IAD-Forschung informieren wollen. Siehe auch Eine Chronologie der Beforschung.
Was das Internet so attraktiv macht, sind vor allem neue Handlungsmöglichkeiten wie Realitätsflucht oder das Experimentieren mit der eigenen Identität Die Flucht vor der Realität kann Flucht vor persönlichen Problemen bedeuten; vor Problemen mit sich selbst (z.B. Minderwertigkeitsgefühle) oder mit seinem sozialen Umfeld (Integrationsschwierigkeiten, Probleme der Kontaktaufnahme, Einsamkeit etc.). Die darin verborgenen Wünsche werden in der Realität nicht erfüllt, so dass das Internet mit seinen geschützten, anonymen Räumen stellvertretend aufgesucht wird.
Ivan Goldberg meint, dass nicht das Internet per se süchtig mache, sondern der Anwender damit Depressionen, Angstzustände oder Dysphorie (ängstlich-bedrückte, traurige, mit Gereiztheit einhergehende Stimmungslage) bekämpfe.
Das Experimentieren mit der eigenen Identität ist ein Phänomen, das der heutigen Anforderung nach Flexibilität gerecht werden soll. Häufiger Arbeitsplatzwechsel, neue Erziehungsmodelle, neue Geschlechterrollen und sich ständig erneuernde Technologien erwarten Flexibilität und Wandlungsfähigkeit. Sie zeigen, dass alles kurzlebiger ist und beliebiger wird. Das Internet bietet in diesem Zusammenhang den idealen Rahmen, denn in Chaträumen oder im Cyberspace kann man den Rollentausch spielerisch üben und ihn ausleben (z.B. beim "gender switching"). Es gelingt gehemmten oder sozial behinderten leichter, den üblichen gesellschaftlichen Anforderungen und Erwartungen zu entsprechen.
Hahn & Jerusalem (2001) definieren Internetsucht oder Internetabhängigkeit als eine stoffungebundene Abhängigkeit, die dann als vorhanden gilt, wenn:
* über längere Zeitspannen der größte Teil des Tageszeitbudgets zur Internetnutzung verausgabt wird (hierzu zählen auch verhaltensverwandte Aktivitäten wie beispielsweise Optimierungsarbeiten am Computer) (Einengung des Verhaltensraums),
* die Person die Kontrolle über ihre Internetnutzung weitgehend verloren hat bzw. Versuche, das Nutzungsausmaß zu reduzieren oder die Nutzung zu unterbrechen, erfolglos bleiben oder erst gar nicht unternommen werden (obwohl das Bewußtsein für dadurch verursachte persönliche oder soziale Probleme vorhanden ist) (Kontrollverlust),
* im zeitlichen Verlauf eine Toleranzentwicklung zu beobachten ist, d.h. die „Verhaltensdosis" zur Erreichung der angezielten positiven Stimmungslage gesteigert werden mußte,
* Entzugserscheinungen als Beeinträchtigungen psychischer Befindlichkeit (Unruhe, Nervosität, Unzufriedenheit, Gereiztheit, Agressivität) und psychisches Verlangen („craving") nach der Internetnutzung als Folge zeitweiliger, längerer Unterbrechung der Internetnutzung auftreten,
* wegen der Internetaktivitäten negative soziale Konsequenzen in den Bereichen Arbeit und Leistung sowie soziale Beziehungen (z.B. Ärger mit Freunden oder Arbeitgeber) eingetreten sind.
Die vorgeschlagenen Kritierien verstehen sich als normativ-deskriptive Merkmale der Phänomenologie der Internetsucht und thematisieren &endash; wie dies im übrigen auch für substanzgebundene Abhängigkeiten wie der Alkoholabhängigkeit gilt &endash; keine ätiologischen Merkmale.
In Deutschland haben sich früh besonders die Psychologen Nicola Döring von der TU Berlin und Bernad Batinic von der Uni Gießen sich des Themas Internetsucht und der soziale Vereinsamung von Internet-Usern angenommen. Nicola Döring untersuchte, inwieweit deutsche Internetuser tatsächlich einsamer sind oder weniger "reale" soziale Kontakte haben als Nicht-Internet-User. Zumindest nach den Aussagen der Nutzer selber besteht kein Unterschied im Vergleich zu einer Kontrollgruppe bezüglich Einsamkeitsgefühlen, Anzahl von Freunden und Bekannten und der Häufigkeit einer festen Partnerschaft. Es zeigte sich sogar ein positiver Zusammenhang zwischen der Anzahl realer und virtueller Bekanntschaften. Insgesamt wurde in dieser Studie kein Beleg dafür gefunden, daß das Internet ein Tummelplatz vereinsamter Menschen ist oder gar die User in die soziale Isolation treibt.
In der Untersuchung von Bernard Batinic fand sich hingegen ein deutlicher Hinweis darauf, daß zumindest zwei "Symptome" der Internet-Sucht weit verbreitet sind: Fast 70% der befragten Personen gaben an, daß sie häufiger länger im Netz surfen, als sie ursprünglich wollten, und über 50% gaben an, daß sie manchmal im Internet surfen, obwohl sie Wichtigeres zu erledigen hätten.
Aber der Anteil der Usern, die beim Surfen im Internet ihre täglichen Sorgen vergessen können oder bei denen sich nach ein oder zwei Tagen offline "eine Spannung aufgebaut hat, die sie veranlaßt wieder zu surfen" ist dagegen recht gering. Ob dies reicht, von einem "Massenphänomen" Internet-Sucht zu sprechen oder gar als Anlaß genommen werden sollte, neue Therapieangebote zu entwickeln, sei dahingestellt. Dann wäre es aber wohl auch an der Zeit gezielt, gegen andere Massensüchte wie die Fernseh-, Telefon-, Lese- oder Sportsucht anzugehen!
Nach einer Studie des Psychologen David Greenfield leiden beinahe sechs Prozent der Internet-Nutzer an einer Form von Internet-Sucht. Greenfield untersuchte 17251 Internet Nutzer - mehr als je bei einer vergleichbaren Untersuchung zuvor - und fand heraus, dass die Internet-Abhängigkeit zu zerrütteten Ehen, Jugendkriminalität, Verbrechen und Konsumrausch führen kann. Diese Ergebnisse stützen die Vermutung, dass es sich bei der Internet-Sucht tatsächlich um eine psychische Störung handelt. Vergleichbare Untersuchungen haben ergeben, dass der Anteil der süchtigen Internet-Nutzer auf über zehn Prozent steigen könnte. Der Untersuchung zufolge sehen 30 Prozent der Internet-Abhängigen das Medium als eine Möglichkeit zur Flucht vor der Realität.
Nach Angaben eines Artikels vom 6. Februar 1998, der in der US-Zeitschrift "CyberPsychology and Behavior" erschienen ist, sind Studierende im Alter zwischen 18 und 22 Jahren besonders anfällig für die Internet-Sucht, die definiert wird als "eine psychische Abhängigkeit vom Internet, die unabhängig von der konkreten Aktivität im Netz besteht". In dem Artikel heißt es, daß Netzwerk-Verwalter verschiedener Universitäten eine Wechselwirkung zwischen der intensiven Internet-Nutzung und der hohen Zahl von Studienabbrechern festgestellt hätten. Einige Universitäten sollen bereits Selbsthilfegruppen für "Internet-Abhängige" gegründet haben. Unterdessen versucht die Universität von Washington, die übermäßige Internet-Nutzung dadurch einzudämmen, dass den einzelnen Studierenden nur noch eine begrenzte Online-Zeit zugebilligt wird.
"Die HSO e.V. (Hilfe zur Selbsthilfe für Onlinesüchtige) musste ihre Arbeit zum 30. April 2001 leider einstellen, da sich angeblich Bund, Länder und andere Institutionen noch nicht einig seien, ob es Onlinesucht überhaupt gäbe und ob es sinnvoll sei, diesbezügliche Hilfsangebote zu unterstützen."
BILD titelte kürzlich: "Internet-Sucht: Der erste Tote" - "In Südkorea starb ein Mann, weil er nur noch vor dem Computer saß!"
Quelle: www.lehrer-online.de/
dyn/252893.htm (01-07-19)
Ist mein Kind internetsüchtig?
Ein kleiner Fragebogen für Eltern
Internetsucht ist nach Hahn & Jerusalem (2001) weit häufiger bei Jugendlichen zu beoabachten Es ist denkbar, daß Jugendliche im Internet ein Instrument entdeckt haben, das sie bei ihrer Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung unterstützt (differenzielle Konsequenzerwartungen).
Das Internet könnte Orientierung in der für Jugendliche schwierigen Entwicklungsphase mit ihren körperlichen, psychischen und sozialen Unsicherheiten geben, (virtuelle) Anerkennung durch Gleichaltrige bieten und auch Möglichkeiten eröffnen, neue Rollen und Identitäten gefahrlos zu testen.
Nicht zuletzt könnte das Internet auch als Mittel zur Abgrenzung von der Erwachsenenwelt dienen. Diese hohe subjektive Funktionalität des Internet wird für einige Jugendliche vermutlich aufgrund der unausgereiften Verhaltensregulationskompetenz im Umgang mit dem Internet zum Problem.
Sollten sich dies spekulativen Zusammenhänge in weiteren empirischen Arbeiten bestätigen, ergäben sich auch für die Prävention klarere Anhaltspunkte: zum einen wäre ein realistisches Bild der Funktionalität des Netzes zu vermitteln, und zum anderen sollte ein kompetenter und angemessener Umgang mit dem Internet geschult werden.
In absoluten Zahlen ist von bis zu 600 000 Betroffenen unter den heute 18.8 Millionen deutschen Internetnutzern (Stand: Dezember 2000) auszugehen. Kein anderes Medium hat bisher eine derartige "magnetische Wirkung" auf seine Nutzer gehabt. Internetsucht ist dabei wahrscheinlich nicht &endash; wie vielfach von Kritikern vorgetragen &endash; ein temporäres Phänomen und als Neuheitseffekt des faszinierenden Mediums zu interpretieren.
In den USA wird die Anzahl der Internetsüchtigen auf rund 200.000 geschätzt. Diese Zahl entstammt einer Studie der amerikanischen Psychologin Kimberly Young. Young firmiert als erste "Cyber-Psychologin" der Welt und vermutet, dass weltweit etwa sieben Prozent der User unter Internetsucht leiden, die sie "Pathological Internet Use" (PIU) nennt.
Bei allen weltweiten Studien bisher liegt der niedrigste Anteil der Internetsüchtigen bei rund drei Prozent. Alleinstehende und Arbeitslose, Personen mit einer unsicherer oder unreif-gehemmter Persönlichkeitsstruktur und andererseits selbstverliebte Individuen mit sadistischen Impulsen gelten laut mehreren internationalen Analysen übereinstimmend als besonders gefährdet. Als Ursachen für den Zwang zum Surfen werden Realitätsflucht und -verdrängung, das Experimentieren mit der eigenen Identität und die Befriedigung von Spieltrieb und Kommunikationsbedürfnis betrachtet.
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