von Sven Parpfles
Die Nachrichtenlage an diesem 7. März des Jahres 2000 war auf den ersten Blick nicht sonderlich spektakulär. Und doch zeichneten sich an jenem Tag, damals kaum zu erahnen, dramatische Wendungen ab. In den USA, wo George Bush bei Vorwahlen in 17 Bundesstaaten den Weg für seine Kandidatur um die amerikaflische Präsidentschaft bereitet.
In Düsseldorf, wo bei der Staatanwaltschaft eine Anzeige wegen des Verdachts der Untreue gegen Klaus Esser eingereicht wird, der gerade den Mischkonzern Mannesmann an Vodafone verkauft und fast 30 Millionen Euro Abfindung eingestrichen hat. Oder in Frankfurt am Main, wo der DAX auf 8064,97 Punkte steigt, bis heute das Rekordhoch.
Nach sieben Jahren emotionaler Extreme stehen zumindest im Deutschen Aktienindex die Zeichen auf Versöhnung. Der Leitindex, der nach der Bestmarke auf 2202 Punkte einbrach, robbt sich scheinbar unaufhaltsam an den alten Rekord heran. Zum Wochenschluss sind die deutschen Schwergewichte nur noch 77 Punkte davon entfernt - nicht einmal ein Prozent. Selbst der Angstmonat Mai, der historisch betrachtet zweitschlechteste Börsenmonat, brachte dem DAX ein Plus von 6,4 Prozent.
"Das konjunkurelle Umfeld für die Aktienmärkte ist weiter positiv, gerade in Deutschland. Warum also sollte der DAX in zwei oder drei Jahren nicht auf 10 000 Punkte steigen", prophezeit Alfred Junker vom Bankhaus Hauck & Aufhäuser.
Ungeachtet der imposanten Stärke der Aktienmärkte, trauen gerade viele Privatinvestoren dem Comeback des DAX nicht über den Weg. Zu tief sitzt die Erinnerung an den dramatischen Kurseinbruch und die Skandale der New Economy. Viele haben die Lust an der Börse verloren. Laut Statistik des Deutschen Aktieninstituts ist die Zahl der Aktionäre in Deutschland seit der Jahrtausendwende von knapp 6,2 Millionen auf 4,2 Millionen im vergangenen Jahr zurückgegangen. Fast jeder dritte Anleger hat sich also von direkten Aktieninvestments verabschiedet. Nicht alle aber, die den Aktien abgeschworen haben, haben sich von der Börse verabschiedet. So investieren immer mehr Bürger in Zertifikate. Allein im ersten Quartal hat die Boom-Branche ein Plus von 9,7 Prozent verzeichnet. Insgesamt sollen inzwischen 126 Milliarden Euro in Indexzertifikate, Papiere mit Sicherheitspuffer oder Hebelprodukte investiert sein.
"Der Aufschwung an den Aktienmärkten ist an vielen Privatanlegern vorbeigegangen", sagt Andreas Beck von Tetralog. Das Münchner Beratungsunternehmen ermittelt anhand von Umfragen die Lieblingsaktlen der Bundesbürger. Ergebnis: Ausgerechnet die Deutsche Telekom, in jedem vierten Depot vertreten, ist die am breitesten gestreute Aktie unter Deutschlands Privatanlegern. Der rosa Riese notiert mehr als 80 Prozent unter dem Kurs vom März 2000 - kein DAX-Wert war schlechter.
Unter den Top-Ten der Privatanleger finden sich zudem nur zwei Titel, die seit dem Jahr 2000 zu den zehn Top-Performern im Index gehörten, der Energieversorger E.on und der Chemiekonzern BASF. Glücklich sind hingegen all jene, die die Aktie des Sportartikelunternehmens Adidas im Depot haben. Das Papier notiert trotz einer Schwächephase 2006 um über 260 Prozent überdem Kurs vom 7. März 2000 und ist damit der Top-Wert im Index. Der Lkw-Bauer MAN legte im selben Zeitraum um über 200 Prozent zu, Volkswagen um mehr als 180 Prozent. Der Autozulieferer Continental, der zu seiner Zeit noch im M-DAX notierte, hat sogar um mehr als 500 Prozent an Börsenwert gewonnen.
Nachdem fast zwei Drittel der Indexmitlieder über den Kursen vom März 2000 notieren, schickt sich jetzt also auch der DAX an, die alte Bestmarke zu knacken. Doch Börsenprofis nehmen das historische Ereignis eher gleichgültig zur Kenntnis. "Der DAX 2007 ist nicht mehr der DAX aus dem Jahr 2000", erklärt Börsenexperte Junker die Zurückhaltung seiner Branchenkollegen.
Schon ein flüchtiger Blick auf den Kurszettel zeigt, wie sehr sich der Index gewandelt hat: Nicht weniger als sieben Unternehmen, also fast 25 Prozent der Mitglieder, haben sich seit dem Rekordhoch aus dem Leitindex verabschiedet: Mannesmann wurde von Vodafone aufgekauft, die Dresdner Bank von der Allianz, die HypoVereinsbank von Unicredit, Schering von Bayer, Degussa gehört heute zur RAG. KarstadtQuelle wurde in den MDAX degradiert, Epcos findet sich heute im damals noch nicht existierenden TecDAX. Veba und Viag wiederum fusionierten zum Versorger E.on, sind also zumindest indirekt noch im Leitindex vertreten. Die alte Preussag hat sich von wichtigen Geschäftsbereichen getrennt, notiert aber unter dem Namen TUI ebenfalls weiter im DAX.
Nicht nur Namen haben sich geändert. Durch die neuen Mitglieder und die sehr unterschiedliche Entwicklung einzelner Branchen hat sich auch die Struktur des Indexes verschoben. Vor allem das Telekom-Segment, das gemeinhin als defensives Investment gilt, hat stark an Bedeutung verloren. Die ebenfalls eher in Krisenzeiten gefragten Konsumtitel haben im Index seit jeher eine untergeordnete Bedeutung. Der DAX, urteilt Experte Junker, sei "zyklischer und zinssensitiver" geworden als im Jahr 2000.
Das half den deutschen Schwergewichten, den starken Kurseinbruch schneller zu kompensieren als viele andere Indizes der Welt. Von den großen Aktienkörben der Welt haben bislang nur die US-Indizes Dow Jones und S&P 500 die alten Bestmarken hinter sich gelassen. In Europa hinken die Indizes hinterher - dem französischen CAC 40 fehlen mehr als zehn Prozent, dem Euro Stoxx 50 über 15 Prozent.
Die tendenziell offensive Ausrichtung könnte den DAX im Umkehrschluss empfindlicher machen für Krisensituationen, so die Sorge. Aktienstrategen jedenfalls sind mit ihren Prognosen dieser Tage bemerkenswert zurückhaltend. Laut einer Umfrage von €uro am Sonntag sehen sie die deutschen Schwergewichte zum Jahresende bei durchschnittlich 7780 Punkten - also etwa auf dem aktuellen Niveau. Helaba Trust prophezeit als Anführer der Bären sogar einen Kursrutsch auf 6800 Punkte. Am optimistischsten ist die Dresdner Bank, die als Kursziel 8200 Punkte ausgibt.
Die Optimisten verweisen auf die noch immer unerwartet starke Gewinndynamik. So sind die Erträge der deutschen Top-Konzerne heute schon mehr als doppelt so hoch wie im Rekordjahr 2000. Entsprechend moderat ist die Bewertung: Das durchschnittliche Kurs/Gewinn-Verhältnis des DAX liegt aktuell knapp über 14 und damit noch immer deutlich unter dem Schnitt der vergangenen zehn Jahre.
Entscheidend für die weitere Kursentwicklung aber sind nicht so sehr die aktuellen Schätzungen, sondern das Überraschungspotenzial. "Seit Jahresbeginn sind die Gewinnschätzungen für den DAX um fast zehn Prozent angehoben worden. Die Kurse sind also gestiegen, ohne dass der Index fundamental deutlich teurer geworden wäre", sagt Aktienstratege Michael Kopmann von der DZ Bank.
Solche Rechnungen sind natürlich nur so zuverlässig wie die Qualität der Schätzungen. Genau die halten die Bären für zu optimistisch. Ein zentraler Ansatzpunkt für Pessimisten sind die Gewinnmargen - die sind inzwischen deutlich über dem historischen Mittelwert und damit womöglich ein Alarmsignal.
"Unserer Ansicht nach nehmen die gegenwärtigen Indexstände bereits ein ausgesprochen günstiges Wachstumsumfeld vorweg, sodass für weitere Kurssteigerungen wenig Raum bleibt", warnt Markus Reinwand von Helaba Trust.
Die Bullen argumentieren, dass rückwärts gerichtete Vergleiche für den aktuellen Trend nicht maßgebend sei. Schließlich haben die Konzerne durch die Globalisierung inzwischen viel größere Möglichkeiten, Kosten zu senken, indem sie Produktion ins Ausland verlagern und damit auch aggressiver Lohnzurückhaltung im Inland einfordern können. Auch der latente Druck der Investmentgesellschaften auf die Konzerne zeigt Wirkung: "Ein Vorstandschef kann es sich nicht mehr leisten, Renditepotenzial schenken, weil sein Unternehmen sonst womöglich aufgekauft wird", beobachtet Stratege Kopmann.
Zumindest in einem Punkt sind sich Börsianer derzeit einig: Ein Crash wie zur Jahrtausendwende ist angesichts der soliden Verfassung von Weltkonjunktur und Unternehmen ohne externe Schocks nicht vorstellbar." Die Aktienmärkte sind weit entfernt von den Übertreibungen der Vergangenheit", sagt Franz-Josef Leyen vom Deutschen Aktieninstitut.
Gerade deutsche Unternehmen dürften angesichts der anziehenden Binnenkonjunktur gut positioniert: sein. Die Unternehmenssteuerreform wird die Gewinne der DAX-Konzerne nach Schätzung des Bankhaus Sal. Oppenheim im kommenden Jahr um vier Prozent steigern. Auch die Abgeltungsteuer sollte zunächst positiv wirken: Denn wer nach dem 31. Dezember 2008 Aktien kauft, muss unabhängig von der Haltedauer Gewinne versteuern - für viele dürfte das ein Anreiz sein, sich noch vor Inkrafttreten des Gesetzes mit Papieren einzudecken.
Den mittel- und langfristig positiven Perspektiven steht kurzfristig allerdings Skepsis entgegen. Der hohe Ölpreis, mögliche Zinserhöhungen sowie die unsichere Konjunkturentwicklung in den USA werden als Risikofaktoren genannt. Zudem dürften nach Ende der Quartalssaison in den Sommerwochen -abgesehen von den allgegenwärtigen Übernahmegerüchten - wenig kurstreibende Nachrichten auf den Markt kommen.
Um kurzfristige Rückschläge, die nach Einschätzung der Landesbank Baden-Württemberg, “durchaus auch sehr deutlich ausfallen können", werden Anleger daher wohl nicht herumkommen. "Man muss jetzt auf der Stuhlkante sitzen und die Märkte aufmerksam beobachten", gibt die Weberbank ihren Kunden derzeit mit auf den Weg.
Die Aufregung um ein neues Allzeithoch beim DAX sollten Anleger indes emotionslos verfolgen. Denn eigentlich hat der Index die Marke längst übersprungen, nämlich dann, wenn man ihn um die Katastrophen-Aktie Deutsche Telekom bereinigt. Würde die T-Aktie wieder bei 100 Euro notieren, läge der DAX bereits bei 10000 Punkten.