Attacke auf das Bürgertum
Leitartikel
Von Guido Heinen
Vom Eindruck gewisser Konfusion, den die neue alte Regierung derzeit vermittelt, lasse man sich nicht täuschen. So erratisch der Koalitionsvertrag auch wirkt mit seinen pompösen Formulierungen, seinen unzähligen thematischen Fußnoten und versteckten Eingriffen - er ist das Manifest eines großen Projekts: der tief greifenden gesellschaftlichen Umwandlung Deutschlands. So, wie vor vier Jahren das Versprechen, wenig anders, aber vieles besser machen zu wollen, nicht ernst gemeint war, geschweige denn eingehalten wurde, so wenig trifft jetzt der oberflächliche Eindruck der Konzeptlosigkeit den Kern des Geschehens.
Auf zwei Ebenen wird die Veränderungskraft der rot-grünen Koalition sichtbar: auf der Zeitschiene, wo der fühlbare Stillstand bei allen anstehenden Reformen eben nicht Stagnation, sondern Bewegung bedeutet - jedoch als Rückfall in die falsche Richtung. Und es wird deutlich in der Auswahl der Köpfe, denen die Politik im Kabinett anvertraut ist.
Der Stillstand, das Nichtangehen von Reformen in zentralen Politikfeldern, ist keine Verlegenheit, es ist Programm. Denn es gibt eine mächtige, im sozialdemokratischen und grünen Milieu verankerte Variante des bräsig-bürgerlichen "Weiter so", das 1998 abgewählt wurde. Es ist das "Weiter so" des Versorgungsstaates, der sich erst beim Bürger das Geld holt, das er ihm, nach saftiger eigener Alimentierung, dann wieder zurück- und umverteilt. Beim gerade noch zurückgezogenen Anschlag auf das Familien-Splitting wurde dieser gedankliche Horizont der neuen Mannschaft deutlich. Dass einer gescheiterten Ministerin für Gesundheit nun noch die Großbaustellen Soziales und Renten anvertraut werden, zeigt: Schröder nimmt "Erneuerung" und "Nachhaltigkeit", die Titelschlagworte des Koalitionsvertrags, zumindest nicht sonderlich ernst, wenn es um die Sozialsysteme geht.
Den Koalitionären fällt als Antwort auf die noch im Sommer heftig diskutierten PISA-Ergebnisse nur staatliche Kinderverwahrung und ein nationaler Bildungsstandard ein. Die Botschaft ist klar: der Staat kann es besser. Weshalb Schröder, Erfinder der fragwürdigen Parole "Familie ist da, wo Kinder sind", die Familie dem Betreuungsfan Renate Schmidt an die Hand gibt. Der bundesweite Bildungsstandard kann, anders als es das regierungsoffizielle Neusprech verheißt, nur die Absenkung der Standards in den Südwest-Bundesländern im Sinn haben. So stehen am Ende einfach die roten und grünen Bundesländer besser da, weil keine Vergleichsmöglichkeit mehr besteht. Nivellierung ersetzt den Wettbewerb.
Der Kanzler wurde am Ende gewählt von Wählern aus Ostdeutschland, die mehr ihm als der PDS glaubten, dass ein Krieg drohe und es nach der Flut keinem schlechter gehen werde als vorher. Dieses Signal eines allmächtigen, intervenierenden Staates, gepaart mit einem irrationalen pazifistischen Reflex, der nicht eine sehr wohl notwendige Debatte auslöste, sondern mit Kriegsangst Wahlkampf trieb, wird an dieser Regierung noch Monate haften bleiben. Schröder wurde schließlich auch von einem längst vergessen geglaubten Milieu unterstützt: staatlich subventionierten Kulturschaffenden, öffentlich-rechtlichen Meinungsverwaltern und gewerkschaftlichen "Weiter so"-Ideologen. Sie alle fordern jetzt den Tribut für ihre Last-Minute-Solidarität: die Vollendung eines Generationenprojekts, das über Strukturen und Steuern die Felder Erziehung, Familie und Wirtschaft umgestaltet.
Die oppositionelle Empörung über "Betrug" und "Steuerschraube" trifft dabei nur die Symptome des rot-grünen Projekts. So, wie in der vergangenen Legislatur entscheidende Reformprojekte, vielleicht abgesehen von ersten Schritten im Rentensystem, nicht angepackt, dafür jedoch Klientelthemen in die Mitte der Politik gerückt wurden, soll es offenbar weitergehen.
Die Entschlossenheit, mit der Schröder sein Kabinett nahezu frei von frischen Gesichtern und Gedanken hält, zeigt die Not einer Generation, die es offenbar noch immer nicht verstanden hat, was der Unterschied zwischen Macht und Verantwortung für ein gesamtes Gemeinwesen ist. Die ihr Gesellschaftsprojekt seit dreißig Jahren hindurchträgt - und doch spürt, dass die jüngeren unter den eigenen Anhänger ihm nicht mehr folgen wollen. Diese Generation rot-grüner Politiker weiß, dass sie vor vier Jahren aufgrund von Überdruss und jüngst mit Taschenspielertricks an die Macht kam. Insgeheim scheint sie zu merken: Ihr Kredit schwindet, und ihr gerade ausgerufenes Jahrzehnt könnte ein sehr kurzes werden.
Den Autor erreichen Sie unter: heinen@welt.de