Entstehung, religiöse Orientierungen, wirtschaftlicher Hintergrund und ethnische Zusammensetzung der Taliban
Bei den Taliban handelt es sich um Schüler bzw. Studenten, genauer um Religionsschüler. Talib ist man in einer
Koranschule, einer Madrasa. In Pakistan entstanden solche Koranschulen unmittelbar nach der Unabhängigkeit, d.h.
in den 50er und 60er Jahren. Es gab einige hundert Koranschulen, an denen die einfache Geistlichkeit ausgebildet wurde, d.h. Dorfmullahs. Die angehende höhere Geistlichkeit, Imame und Maulanas wurden schon damals nicht an den Madrasas ausgebildet, sondern an den islamischen Universitäten. Die Madrasas erfuhren keinerlei staatliche
Förderung. Sie lebten von Spenden und von der körperlichen Arbeit der Taliban (Gartenbau, Landwirtschaft,
Viehwirtschaft). Erst unter Zia ul Haq begann in Pakistan eine aktive Förderung der Madrasa. Ihre Zahl erhöhte sich auf einige Tausend.
Nach 1980, d.h. nach der sowjetischen Invasion in Afghanistan und dem steilen Anstieg der Flüchtlingszahlen in
Pakistan, begannen auch afghanische Jungen die pakistanischen Madrasa zu besuchen. Talib zu sein war jedoch
nicht mit einem Statusvorteil verbunden. Es waren die Söhne von Dorfmullahs, die Taliban wurden, oder Söhne von
landlosen Tagelöhnern oder Jungen, deren Väter im Krieg umgekommen waren. Die Assoziation Talib = Angehöriger
der Unterschicht ist erlaubt.
Mit der zunehmenden Islamisierung Pakistans in den 80er und 90er Jahren stieg die Zahl der Madrasa und die Zahl der
Taliban weiter an. Derzeit gibt es mindestens 10.000 Madrasa in Pakistan. Gleichzeitig kam es zu einer
Differenzierung zwischen den Schulen. Es gab und gibt eine große Zahl von Madrasa, die ärmlich und klein sind,
sowie eine kleine Zahl von materiell gut ausgestatteten großen Madrasa. Die wichtigste Madrasa für die afghanischen
Taliban ist die Haqqania, zwischen Peshawar und Rawalpindi gelegen, mit derzeit etwa 13.000 Studenten. Die
Haqqania wurde 1948 gegründet und nahm nach 1980 bevorzugt Schüler aus afghanischen Flüchtlingsfamilien auf. Die
Haqqania erhielt erhebliche finanzielle Unterstützung aus den Golfstaaten. Aus der Haqqania nahmen schon in den
80er und in den beginnenden 90er Jahren Studenten während der Schulferien als Mujaheddin an den Kämpfen in
Afghanistan teil. Eine Reihe von prominenten Führern der Taliban-Bewegung und etwa 6 der derzeitigen Minister der
derzeitigen Talibanregierung sind ehemalige Taliban der Haqqania.
Die Curricula sowie Methodik und Didaktik der Madrasa sind ausgesprochen einfach. Es handelt sich nicht, wie in
westlichen Medien oft angegeben, um theologische Hochschulen. Es handelt sich vielmehr um Seminare zur
Ausbildung der Dorfgeistlichkeit. Man muss nicht lesen und schreiben können, um eine Madrasa zu absolvieren.
Selbst der Begriff Koranschule ist in vielen Fällen zu hoch gegriffen: Es wird nicht eigentlich der Koran gelehrt, sondern nur die Sharia, d.h. die islamische Rechtstradition, die Überlieferung, tradiertes Verhalten. Viele derzeit gültige Regierungsverordnungen in Afghanistan haben keinen koranischen Hintergrund. Der Bildersturm, die Zerstörung sog. nichtislamischer Kunstwerke, ist das neueste und spektakulärste Beispiel. Weniger spektakuläre Verbote, wie das Verbot Musik zu hören oder Polo zu spielen oder Drachen steigen zu lassen, oder das Verbot, sich den Bart zu
schneiden, haben nichts mit dem Islam zu tun. Es handelt sich vielmehr um kulturelle Normen, die mit der
paschtunischen Stammesethik zu tun haben. Die Sharia erlaubt, da sie nicht kodifiziert ist, großen
Interpretationsspielraum. Gleichzeitig wird die jeweilige Auslegung nicht hinterfragt, da die Erziehung zu kritischem
Denken nicht Teil des Curriculums einer Madrasa ist. So ist es zu erklären, dass Mullah Omar die Anordnung zur
Zerstörung der Buddhafiguren in Bamian als fatwa erklären und veröffentlichen kann. Wenn hohe islamische Theologen
in Ägypten, in Indien oder im Iran sich von einer solchen fatwa distanzieren (wie dies im Februar geschehen ist), so ist dies für die Talibanführer nur ein Indiz, dass in jenen Ländern orthodoxe Interpretation der Sharia stattfindet.
Für den Großteil der Taliban, die an Madrasa in Pakistan ausgebildet werden, führt der Weg zum wahren Islam über
den Kampf, über den djihad, den Heiligen Krieg. Talib wird gleichgesetzt mit Soldat für den Islam. Die Welt ist ein
Schlachtfeld, das erobert und islamisiert werden muss. Überall sind Feinde: Amerikaner, Russen, die Schiiten im Iran, die gottlosen Saudis, die über ihren Petrodollars Allah vergessen haben, und die marxistischen Chinesen, die die gläubigen Uiguren bekämpfen.
Grüsse,
nl